Drama: Leben des Galilei (1939)
Autor/in: Bertolt BrechtEpoche: Literatur im Nationalsozialismus / Exilliteratur / Emigrantenliteratur
Dialog-/Gesprächsanalyse und Interpretation
Das Drama „Leben des Galilei“ von Bertolt Brecht aus den Jahren 1955/ 56 thematisiert den Disput zwischen den gegnerischen Fronten, die Kirche als Vertreter der Alten Zeit und die Wissenschaft als Vertreter der Neuen Zeit, vor dem Hintergrund der sozialen Verantwortung. Die zentrale Figur, der Astronom Galileo Galilei, gehört als Verfechter des kopernikanischen Weltsystems zu den Vorreitern der Neuen Zeit und steht daher im ständigen Twist mit der Kirche.
Das 8. Bild dreht sich dabei um ein Gespräch zwischen Galilei und dem kleinen Mönch, wobei die Gegenüberstellung der Nutzen und Risiken der Forschung Galileis am Beispiel der Campagnabauern sowie dessen soziale Auswirkungen diskutiert werden. Anlass für das Suchen des Gesprächs mit Galilei bietet die Zwiespältigkeit des kleinen Mönches, denn dieser weiß nicht, wie er die Jupitertrabanten und das damit einhergehende kopernikanische Weltsystem in Einklang mit der Kirche bringen solle (vgl. S.76, Z.19ff). Der Geistliche erhofft sich dabei, den Wissenschaftler von der Absicht des Dekrets zu überzeugen, obgleich der Mönch Astronom und Mathematiker ist (vgl. S. , Z. ). Demzufolge befinde sich die Erde nach dem ptolemäischen Weltsystem im Mittelpunkt des Weltsystems. Damit sei auch die Menschheit im Zentrum von Gottes Hut, welcher diese in Sicherheit wiege und dem einfachen Volk sinnstiftend als Antrieb diene (vgl. S. , Z. ).
Galilei hingegen zielt darauf ab, die Wahrheit ans Licht zu bringen und dem an Elend und Leid geknüpften Lebensbild der Campagnabauern, was die Kirche zur Ausbeutung missbrauche, ein Ende zu setzen, sodass sich die Vernunft durchsetze (vgl. S. , Z. ).
Kontextuell gesehen, geht dem Dialog ein missgestimmtes Gespräch zwischen Galileo und den Kardinälen Bellarmin und Barberini über das kopernikanische Weltbild voraus. Hierbei erfährt Galileo, dass er seine Beweise nicht öffentlich stellen darf, denn die Inquisition stellt Kopernikus als Ketzer dar und droht jedem, der diese Ansichten unterstützt, mit Folter. Dies ist die Folge davon, dass die Vertreter der Kirche ihre Macht bedroht sehen und somit Galileis Hoffnung auf ein neues Weltenbild ausweglos machen wollen.
Nach dem Gespräch des 8. Bildes erfährt man, dass Galilei acht Jahre in Schweigen über seine Beobachtungen verbringt. Als Lehrer schränkt er seine Forschungen stark ein und verlagert sie auf andere Gebiete. Gemeinsam mit Andrea, dem kleinen Mönch und Federzoni stellt er Untersuchungen an. Bei einem Besuch von Virginia und ihrem Verlobten Ludovico, die ihre Hochzeit vorbereiten, kommt Galilei zu Ohren, dass der Papst im Sterben liegt und dass Kardinal Barberini Nachfolger wird. Da diesem die Wissenschaft besonders wichtig ist, bekennt sich Galileo dieser Nachricht höchst erfreut. Sofort beginnt er wieder mit umfangreichen Forschungen und Theorien an Sonnenflecken.
Darüber hinaus entwickelt sich das Gespräch zwischen Galilei und dem kleinen Mönch von einer rationalen und argumentativen Diskussion zu einem aufbrausenden und emotionalen Disput, wobei die Absicht zuerst die Unaufgeklärtheit der kleinen Mönches zu sein scheint, letzendes die soziale Verantwortung gegenüber den Bauern Anlass für die Emotionalität und tiefergreifende Auseinandersetzung bietet.
Ferner lässt sich der Gesprächsverlauf sich in ablehnende Haltung Galileis (vgl. S. , Z. ), Schilderung der Zwiespältigkeit (vgl. S. , Z. ) und Beweggründe (vgl. S. , Z. ) des Mönches gliedern sowie deren Entkräftung durch Galileis Gegenargumente (vgl. S. , Z. ), welche im wechselwirkenden Ping-Pong-Stil erwidert werden. Darauffolgend wird nach den Abschnitten der Frage des Mönches zur Durchsetzung der Wahrheit (vgl. S. , Z.) strukturiert als auch nach dem Aufbrausen Galileis über sein zu erwartendes Unglück und letztendlich seine Bereitwilligkeit dem kleinen Mönch einen Abschnitt seiner Manuskripte zu erklären, was vollkommen vom anfänglichen Thema abweicht und mit einem offenen Ende abschließt.
Im Gespräch lassen sich zudem Folgen die bestimmte Informationen aufweisen, deuten. Hierbei ist erkennbar, dass zunächst Galilei auf das Erscheinen des Mönches und dessen Grund abweisend reagiert (vgl. S. , Z. ), was zur Folge hat, dass sich der Mönch trotzdem oder gerade deswegen nicht entmutigen lässt sondern umso ambitionierter versucht, „Beweggründe zu unterbreiten, die auch einen Astronomen dazu bringen können von einem weiteren Ausbau der gewissen Lehre abzusehen“ (s. S. , Z. ). Zudem zeigt der Geistliche sogar Verständnis und Empathie durch die Aussage: „Ich verstehe Ihre Bitterkeit“ (s. S. , Z. ). Obgleich der Wissenschaftler die Überlegungen der Beweggründe ablehnend erwidert, fährt der Mönch dennoch fort und erzählt von dem Elend und Leid, welchen seine Familie und die restlichen Campagnabauern erfahren haben, welche lediglich durch die sinnstiftende Kirche erträglich wären (vgl. S. , Z. ). Dies quittiert Galilei mit der Erwähnung der unmoralischen Machenschaften und Ausbeutungen der Kirche sowie, dass Fakten und Tatsachen nicht nach den Bedürfnissen der Kirche abgeändert werden sollen (vgl. S. , Z. ). Somit folgt daraus, dass sich die wesentliche Frage des Gesprächs nicht mehr länger allein auf das kopernikanische und ptolemäische Weltsystem bezieht, sondern viel mehr um die soziale Verantwortung. Dies sorgt für einen Umschwung der Absichten, denn es geht nicht darum, den Diskussionsgegner von seiner Meinung zu überzeugen, sondern moralisch abzuwägen, ob man lieber die schmerzhafte Wahrheit erfahren oder weiterhin im Lügengeflecht leben solle, das Sinn für das Leid und Elend stiftet. Galilei und der kleine Mönch weisen somit trotz verschiedener Perspektiven eine humanitäre Einstellung auf und stehen stellvertretend für die Alte (Mönch) und die Neue Zeit (Galilei). Dieser Überschneidungspunkt beider Positionen erschwert die Angelegenheit, da beide Ansichten vernünftig und rational nachvollziehbar sind und daher keine pauschale Festlegung nach „gut“ und „schlecht“ in Bezug auf die soziale Verantwortung zulassen.
Auf die Frage des Mönches, ob sich die Wahrheit nicht auch ohne sie durchsetzen würde, antwortet Galilei verneinend. Zusätzlich hat dies zur Folge, dass Galilei aufbrausender und emotionaler wird und somit aufgewühlt appelliert, dass die Bauern der Instrumentalisierung mit „göttliche[m] Zorn“ (s. S. , Z. ) statt „göttliche® Geduld“ (s. S. , Z. ) entgegenkommen sollten (vgl. S. , Z. ). Während dieser heftigen Entrüstung werden dem kleinen Mönch Manuskripte zugeworfen, welche er vertieft liest. Folglich regt sich Galilei darüber auf, verliert zwangsläufig die Beherrschung und erklärt das Unglücklich seines zwanghaften Forschungs- und Wissensgeistes. Somit sorgte das aufwühlende Diskussionsthema für einen großen Themenumschwung, der nun von der anfänglichen Rationalität abweicht. Doch der Geistliche stellt unbeirrt eine Frage bezüglich der Papiere, die Galilei bereitwillig zu erklären ist. Die Entspanntheit am Ende suggeriert, welche Gedanken Galilei beschäftigt haben und, dass nach dem Aussprechen dieser ihm leichter ums Herz wird.
Somit wechselt das Gesprächsthema vom kopernikanischen und ptolemäischen Weltsystem zu der Frage, ob Wahrheit oder Lüge das elende Leben der Bauern bestimmen solle. Sprich, es findet ein Themenwechsel von der Wissenschaft zur sozialen Verantwortung statt.
Außerdem sind die Redeanteile der Figuren relativ ausgeglichen, wobei sie mittig mehr werden, was vor allem für die Argumentation und die damit verbundene emotionale Ausdrucksweise wichtig ist, um diese überzeugender und schwerwiegender darzustellen.
Darüber hinaus fallen einige Besonderheiten in der Sprache auf. Anfangs reagiert Galilei sarkastisch und herablassend: „Reden Sie, reden Sie! Das Gewand, das Sie tragen, gibt Ihnen das Recht zu sagen, was immer Sie wollen“ (s. S. , Z. ), was seine Ungeduld und seine offene negative Einstellung zur Machtposition der Kirche verdeutlicht. Der Mönch rechtfertigt sich ruhig mit „Ich habe Mathematik studiert“ (s. S. , Z. ), um seinen nicht zu unterschätzenden Wissensstand kundzutun und Galilei dazu zu veranlassen, sich als Vertrauter und Gleichgesinnter mit ihm zu identifizieren. Mit der Apostrophe1 „Herr Galilei“ (s. S. , Z. ) versucht er zusätzlich Galileis vollständige Aufmerksamkeit und Sympathie auf sich zu ziehen. Dieser entgegnet provokant zum Punkt Mathematik „Das könnte Ihnen helfen, wenn es Sie veranlasste einzugestehen, dass zwei mal zwei hin und wieder vier ist!“ (s. S. , Z. ) , was einen weiteren Angriff im Speziellen auf den kleinen Mönch darstellt, da er ihn damit als prinzipienlos bezeichnet. Dieser bleibt unberührt von dem Kommentar und erläutert sein Anliegen, was auf Geduld und Zielorientiertheit schließen lässt. Der Parallelismus „Ich wusste nicht, wie ich das Dekret, das ich gelesen habe, und die Trabanten des Jupiters, die ich gesehen habe, in Einklang bringen sollte.“ (s. S. , Z. ) unterstreicht zudem seine innere Zwiespältigkeit als Wissenschaftler auf der einen und Gläubiger auf der anderen Seite. Trotz Galileis rhetorischer Frage „[Sie sind zu mir gekommen,] um mir mitzuteilen, dass der Jupiter keine Trabanten hat?“ (s. S. , Z. ) fährt der Geistliche unbeirrt fort, sein Unterfangen zu unterbreiten. Somit zieht dieser als persönliches Beispiel das Schicksal seiner Familie als Campagnabauern heran, wobei er auf die Regelmäßigkeit des Unglücks und Leidens dieser Menschen zu sprechen kommt, was durch eine bildliche Darstellung (vgl. S. 77, Z. 20-34) zur Geltung kommt. Die Metapher2 „das Auge der Gottheit“ (s. S. 77, Z. 35) verdeutlicht hierbei die Hoffnung auf Sicherheit durch Gott. Hinzu kommt das „Welttheater, damit sie, die Agierenden, in ihren großen oder kleinen Rollen sich bewähren können.“ (vgl. S. , Z. ) als zusätzliche Visualisierung des Lebensbildes des Bauernstandes. Der kleine Mönch gerät von seiner anfänglich sachlichen Ausdrucksweise ab und wird leidenschaftlicher, wobei er durch rhetorische Fragen das kopernikanische Weltsystem hinterfragt und gleichzeitig seine Verbundenheit und Empathie mit den Menschen verdeutlicht. Zudem lässt sich Galilei von der Emotionalität seines Gesprächspartners anstecken und benutzt ebenfalls rhetorische Fragen (vgl. S. 78, Z. 30-33; S. 79, Z. 2f, 22; S. 81, Z. 10ff) und bildliche Beispiele (vgl. S. 79, Z. 9-13; S. 80, Z. 24-27), um die Rücksichtslosigkeit und unmögliche Anpassung der Wahrheit an die Kirche zu erklären oder aber seine Ansichten über ein von Elend gelöstes Lebensbild darzustellen. Diese unterstützt Galilei mit dem biblischen Vers „›Seid fruchtbar und mehret euch‹“ (s. S. , Z. ), um an das religiös gebundene gewissen seines Gegenübers zu appellieren. Außerdem stellt Galilei die Beweggründe des Mönches „der Seelenfrieden Unglücklicher“ (s. S. , Z. ) mit „recht niedrigen Beweggründen: Wohlleben, keine Verfolgung et cetera“ (s. S. , Z. ) in Kontrast. Zudem erläutert Galilei die bereitwillige Handlung des Mönches, die zugeworfene Manuskripte zu lesen, mit dem biblischen Vergleich „[des Apfels] vom Baum der Erkenntnis [, die der Mönch sich hineinstopft] “ (s. S. , Z. ), was auf die zwanghafte Wissensgier hinweist. Zusätzlich arbeiten beide mit hypotaktischen Sätzen (vgl. S. 77, Z. 24-28; S. 79, Z. 28-32), um ihren Argumentationen mehr Überzeugung und Aussagekraft zu verleihen.
Darüber hinaus tragen Regieanweisungen dazu bei, das Verständnis des Lesers zu verbessern, da dadurch Gesten und Mimen eine weitere aussagekräftige Dimension erlauben. Somit erscheint der Seelenfrieden Unglücklicher als Beweggrund des kleinen Mönches durch die Regieanweisung „in großer Bewegung“ (s. S. 79, Z. 23) emotionaler und bewegender. Die Regieanweisung Galileis „wirft ihm einen Packen Manuskripte hin“ (s. S. 81, Z. 8) verdeutlicht wiederum, wie aufgewühlt und erschüttert Galilei darüber ist, dass der Mönch nicht erkennt, dass die Bauern ihr Leiden nicht geduldig hinnehmen sondern Zorn zum Vorschein bringen sollten. Somit bekräftigen die Anweisungen die Worte der Sprecher und erlauben, Gefühle durch Taten zum Ausdruck zu bringen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass während des Gesprächs zwischen Mönch und Galilei die Positionen der Alten und Neuen Zeit repräsentativ gegenübergestellt werden. Wenn aber nicht die Frage der Wissenschaft, für die die progressive Neue Zeit ausschlaggebend ist, sondern die der sozialen Verantwortung thematisiert wird, finden sich keine eindeutigen und rational-richtigen Ergebnisse, wie dies ebenfalls an dem emotionalen und themenabweichenden Ergebnis des Dialogs zu sehen ist. Im Zusammenhang des Dramas hat dieser Dialog die Funktion, dass dem Leser veranschaulicht wird, dass die verschiedenen Positionierungen kein eindeutiges „richtig“ und „falsch“ erlauben, sondern dem Leser durch die neu eingebrachten Aspekte und das offene Gesprächsende Input für eigene, kritische Auseinandersetzungen bieten.