Autor/in: Kurt Tucholsky Epoche: Expressionismus Strophen: 3, Verse: 39 Verse pro Strophe: 1-12, 2-12, 3-15
Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
Mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? vielleicht dein Lebensglück...
vorbei, verweht, nie wieder.
Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hasts gefunden,
nur für Sekunden...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider;
Was war das? kein Mensch dreht die Zeit zurück...
vorbei, verweht, nie wieder.
Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Er sieht hinüber
und zieht vorüber...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider.
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Augen in der Großstadt“ von Kurt Tucholsky handelt von einem namenlosen, sich im Hintergrund haltenden Sprecher, welcher aus den Erfahrungen heraus, die er in der Großstadt gesammelt hat, Alltagssituationen in ebendieser beschreibt. Es wurde in der Epoche des Expressionismus verfasst und lässt sich der Stilrichtung der „Neuen Sachlichkeit“ zuordnen.
Das Gedicht besteht aus drei Strophen mit 39 Versen.
Das Reimschema ist abwechslungsreich:
Auf den anfänglichen Kreuzreim in jeder Strophe folgt ein Paarreim, der, Strophe drei ausgenommen, einen Kehrreim nach sich zieht.
In der letzten Strophe tut sich zur besonderen Hervorhebung des Gesagten noch eine Abweichung im, bis dahin regelmäßigen, Reimschema auf: Vers 33 uns 34 sollen Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Das Metrum1 ist flexibel:
Der vorherrschende Jambus hat immer in den ersten vier Versen einer Strophe fünf Hebungen. In den Versen fünf bis neun herrscht ein vierhebiger, in Vers 10 jeder Strophe ein dreihebiger Jambus.
Die Frage „Was war das?“ Ist ein zweihebiger Trochäus – ein Stilmittel, um die Frage vom Rest des Gedichtes abzuheben.
Die Antwort auf die rhetorische Frage, sowie der darauf folgende Vers, sind in einem dreihebigen Jambus gehalten.
Der namenlose Sprecher, welcher sich bedeckt im Hintergrund hält, duzt den Adressaten. Das Ziel des Sprechers ist es, den Adressaten möglichst direkt anzusprechen. Darauf deutet die häufige Verwendung des Personalpronomens dir, sowie des Possessivpronomens dein. Diese direkte Anrede hat zum Ziel, die Aufmerksamkeit des Adressaten auf sich zu ziehen, um ihm zu zeigen, dass das Gedicht und dessen Botschaft sich auch auf ihn bezieht.
Im ersten und zweiten Vers der ersten Strophe wird mit einem Alltagsbeispiel eingeleitet.
Jeder modern lebende Europäer steht in seinem Leben mindestens ein Mal am Bahnhof und wartet – eventuell gedankenversunken - auf den Zug.
Tucholsky versucht möglichst realitätsnah und authentisch zu schreiben. Er erschafft so einen Rahmen, in dem sich der Adressat leicht wiederfinden kann, sich noch stärker angesprochen fühlt. Die Situation wird dadurch ausgeweitet, dass in Vers drei und vier auf das Warten näher eingegangen wird. Mit dieser Beschreibung wird gleichzeitig ausgedrückt, dass jeder Mensch für sich alleine ist. Wenn man in Gedanken versunken ist kommuniziert man nicht mit Anderen, nimmt sie nur schemenhaft wahr. Durch diese Darstellung entsteht ein Bild der geistigen Isolation des Einzelnen.
Hier lassen sich auch erste Anzeichen erkennen, dass es sich um kein schönes Szenario handelt: Das handelnde Du ist in Sorgen vertieft, es hat offensichtlich Probleme.
In Vers fünf und sechs wird die Stadt personifiziert – sie „zeigt“ dem Wartenden am Bahnhof, welcher in seine Gedanken versunken ist und deshalb lieber alleine wäre – Millionen Gesichter. Man kann sagen, dass die Stadt sich dem Menschen aufdrängt, ja sogar, dass der Mensch der Stadt ausgeliefert ist, da er auf sie angewiesen ist:
Die Stadt reagiert.
Das Adverb „da“ leitet Vers fünf so ein, dass das Handeln der Stadt eine Reaktion auf das Warten der Person am Bahnhof ist. Nicht die anderen Menschen, der wartend am Bahnhof stehen, sind aktiv, sondern die Stadt, welche auch dadurch personifiziert wird.
Die Macht, über welche die Stadt verfügt, wird nun immer deutlicher.
Das Adjektiv „asphaltglatt“ ist vom Autor eingeführt, ein Neologismus3. Man kann es als Attribut der Stadt ansehen, dass alles „glatt läuft“, dass der ganz normale Alltag beschrieben wird, dass die Stadt auf die Menschen reagiert und ihnen etwas zeigt.
Wenn eine Straße asphaltiert wird, gleicht man kleinere Unebenheiten aus, welche Schlaglöcher und somit Behinderungen für den Verkehr auslösen könnten. Dieses Planieren im metaphorischen Sinne wurde auf die Stadtmenschen angewandt:
Andersdenkende und Freidenker müssen sich anpassen oder werden aus der Gesellschaft ausgeschlossen.
Weiter sollte man die Überlegung anstellen, welche Eigenschaften glatter Asphalt besitzt – er ist nass oder vereist.
Nasser oder vereister Asphalt spiegelt.
Dies lässt darauf schließen, dass das handelnde Du seinen Blick gesenkt hält, und so lediglich das Spiegelbild anderer Gesichter erblickt – welche zu diesem Zwecke auch auf den Boden schauen müssten. Dies drückt die passive, abwehrende Haltung der Großstadtbevölkerung gegen die ihrige gefühllose Welt aus.
Die Metapher4 des „Menschentrichter[s]“ in Vers sieben wirkt verächtlich. Man verwendet einen Trichter, um Flüssigkeiten umzufüllen, von denen nichts verloren gehen darf. Somit wird der Großstadtmensch mit einem Gegenstand, beispielsweise einer Flüssigkeit, verglichen. Dies stellt eine klare Abwertung des einzelnen Großstädters dar.
Eine Übertreibung in Vers acht lässt die Beschreibung noch authentischer und realitätsbezogener wirken: Die nur schwer zählbare Anzahl an Gesichtern, welche man in einer Großstadt sieht, wird betont.
Vers neun stellt einen Teil des menschlichen Gesichtes dar: Die Augenpartien. Die Darstellung der Augenpartien ist hierbei nicht detailliert, beispielsweise die Augenfarbe bleibt ungeschrieben: Es wird vielmehr ein kurzer Blickkontakt rein subjektiv dargestellt, es werden keine Gefühle erwähnt. Der Mensch wird wie ein Objekt geschildert, das man zwar schon oft gesehen, aber sich noch nicht ausführlich damit auseinandergesetzt hat.
Auch stellt die Zahl „zwei“ einen Kontrast zu den „Millionen“ Gesichtern dar, eine Spannung zwischen diesen Beiden Zahlen wird erzeugt, da eine Million für einen Menschen eine unvorstellbare Zahl ist, wohingegen die Zahl zwei uns in unserem Alltagsleben oft begegnet und in unserem Vorstellungsbereich liegt.
Der Gedankenstrich signalisiert ein Innehalten, eine kurze Pause, um nachzudenken, und die rhetorische Frage „was war das?“ zu formulieren und darüber zu reflektieren.
Mit der rhetorischen Frage „was war das?“ versucht der Sprecher den kurzen Blick zu analysieren, Eindrücke in Gedanken umzuwandeln. Diese Frage ist die Kernfrage des Gedichtes, der rote Faden, der sich durch das Gedicht zieht.
Ein eindeutiger Beweis hierfür ist, dass das durchweg jambische Metrum in Vers elf, zweiundzwanzig und neununddreißig jeweils für die rhetorische Frage in einen dreihebigen Trochäus wechselt.
Die Antwort auf die Frage in Vers elf kommt vom erfahrenden Du.
Dieses ist sich aber nicht sicher, ob die von ihm gegebene Antwort stimmt, worauf das Wort „vielleicht“, sowie die drei Punkte am Versende hinweisen.
Das erfahrende Du bringt in seiner Antwort auch das erste Mal im Gedicht etwas Positives ein, nämlich „dein Lebensglück“.
Mit dem Lebensglück assoziieren die meisten Menschen, einen festen Partner zu finden, den sie auch lieben können. Womöglich trauert das erfahrende Du Zärtlichkeit und Gefühlen nach, mit anderen Worten: Es würde gerne jemanden lieben und geliebt werden.
Das bleibt ihm jedoch in der gefühllosen Großstadt verwehrt.
Vers zwölf klingt pessimistisch und demotiviert, was auf die beiden negativen Adjektiven „vorbei“ und „verweht“ zurückzuführen ist.
Verweht werden nur leichte Dinge – eine neue Charakteristik, die die Gefühle in der Stadt aufweisen: Sie werden von den Menschen nicht als gewichtig empfunden und verweht.
Auch die Adverbien „nie wieder“ unterstreichen ein endgültiges Ereignis - der kurze positive Moment in der Gedankenwelt des erfahrenden Du geht in einer Masse aus negativen, endgültigen Erkenntnissen unter.
In Vers zwölf wird dem Augenkontakt, dem kurzen, ja wörtlichen „Augen-Blick“, hinterher getrauert.
Im ersten Vers der zweiten Strophe fällt als erstes übergreifende Formulierung „dein Leben lang“ auf. Im Kontext zur personifizierten Großstadt wird dadurch erneut die Abhängigkeit von dieser hervorgehoben.
Das metaphorische, lebenslange Gehen steht für den Lebensweg des Menschen. Dieser muss sein Leben lang durch Städte gehen, ist an diese gebunden.
Die „tausend Straßen“, sind eine Relativierung, die auf die Anzahl der Straßen, über die man in seinem Leben geht, hinweist.
Die Verse 15 und 16, die beide zusammen einen Satz bilden, gehen näher auf das Gehen in der Großstadt ein: Der Fakt, dass Menschen, die in der Großstadt leben, von anderen Menschen vergessen werden, deutet eine oberflächliche Gesellschaft an.
Belegt wird dies durch die Verse 17 bis 20: Sie umschreiben einen dieser kurzen Blickkontakte: Zwei Augen treffen sich kurz, die „Seele klingt“, macht sich bemerkbar, und man hat „es“, die Gefühle, das lang ersehnte Menschliche, gefunden, doch nur für einen sehr kurzen Zeitraum, nämlich exakt so lange, wie der Blickkontakt hält - „nur für Sekunden“. Danach bremst die Umschreibung ab, und es wird wieder das bekannte Motiv aufgegriffen. Das Abbremsen wird mit drei Punkten verdeutlicht.
Interessanterweise wird das Abbremsen auch durch die äußere Form des Gedichtes unterstützt:
Von Vers 13 bis 16 bilden jeweils 2 Verse einen vollständigen Satz, von Vers 17 bis 20 bildet je ein Vers einen Satz. Dies zieht ein Verschärfen des Lesetempos nach sich, die Handlungen häufen sich und laufen immer schneller ab – bis der „Augen-Blick“ wieder vorüber ist, das Tempo wird durch die drei Punkte genommen.
Dies lässt sich auch in leicht abgeänderter Form in den Strophen eins und drei beobachten.
Die Augen sind bekanntlich das Tor zur Seele des Menschen. Der Mensch drückt vor allem seine Gefühle, aber teils auch seine Gedanken mit seinen Augen aus. Und genau dies bilden den großen Kontrast in diesem Gedicht: Gefühle werden im gesamten Gedicht nicht geschildert. Dafür aber die Augen, die Gefühle ausdrücken. Das erfahrende Du geht nur bis zu dieser Stelle, es schaut nicht in die Augen und liest die Gefühle, es schaut nur auf die Augen, bleibt oberflächlich.
Gedichtübergreifend fällt das Paradoxon5 zwischen „Lebensglück“ in Vers elf und „nur für Sekunden ...“ in Vers 20 auf. Dies deutet auf die Paradoxie hin, mit welcher sich das Gedicht befasst: Die Suche in der Augen der Menschen in der Großstadt nach Gefühlen, Gefühle in der Großstadt, die in der Menschenmasse untergehen.
Eine scheinbar unlösbare Aufgabe.
In Vers 21 bis 24 trifft man auf eine in Vers 24 leicht abgeänderte Wiederholung. Diese deutet möglicherweise auf ein erneutes Erlebnis hin: Ein neuer Tag, neue Gesichter, neue Augen. Wieder gelingt es dem handelnden Du nicht, in die Gefühlswelt einzutauchen. Dies lässt sich durch Vers 23 belegen: Das handelnde Du stellt resigniert fest, dass vergangene Momente, denen man gedenkt, nie wieder eintreten, dass jeder verpasste Einblick in die Gefühle eines Menschen eine verpasste und vergeudete Gelegenheit ist.
Der Sprecher ändert schon gleich zu Beginn der dritten Strophe seinen Tonfall: „Du musst auf deinem Gang durch Städte wandern“.
Das „müssen“ schließt schon anfangs jede andere Option aus,
Der „Gang“ ist eine Metapher für den Lebensweg eines Menschen. Jeder Mensch muss in seinem Leben durch die Städte wandern, jeder Mensch muss oberflächlich sein und mögliche Gelegenheiten verpassen. Durch den Imperativ „musst“ vermittelt der Sprecher, wie unbedingt dieser Gang ist – ein sozusagen erzwungener Gang durch die Stadt, die durch diese Abhängigkeit mächtig wird.
Eine ungewöhnliche Wortwahl macht in Vers 26 auf sich aufmerksam: Der Sprecher redet davon, dass man durch Städte wandert. Wandern ist grundsätzlich ein Wort, welches man mit der Natur verbindet – ein Gegensatz, welchen der Autor verwendet, um zu zeigen, dass der Gang über Straßen das Wandern in der Natur ersetzt hat. Der Gang, bzw. das Wandern, stehen für den Lebensweg, welchen man nun nicht mehr in der Natur, sondern auf Straßen in Städten beschreitet.
Im folgenden Vers 27 sieht das erfahrende Du den „Anderen“ nur einen Pulsschlag lang: Der „Augen-Blick“ aus den vorhergegangenen Strophen wird wieder aufgegriffen.
Erstmalig tritt in Vers 28 ein „Anderer“ in Erscheinung. Dieser Andere steht für die Personen, die das handelnde Du mit seinen Blicken immer nur kurz kontaktiert, und somit für die Protagonisten des Klassenkampfes, das Proletariat und die Bourgeoisie.
Der nun in Strophe drei politische Sprecher zeigt den „Anderen“ als jemanden, der im Klassenkampf verschiedene Figuren, beziehungsweise Positionen, einnehmen kann. In den folgenden Versen tut sich ein Gegensatz auf: Der „Andere“, dessen mögliche Positionen aufgezählt werden: Die Spannung entsteht zwischen Freund und Feind. Die Option des Genossen scheint zwischen beiden zu liegen – die goldene Mitte sozusagen.
Dies bedeutet, dass man auf diesen Anderen wartet, der entweder Freund, Feind, oder Genosse im Klassenkampf ist.
Die unbestimmte Größe „es“ steht hierbei für das Augenpaar, welches uns bereits aus Strophe eins und zwei bekannt ist.
Wieder zieht das Augenpaar, die Person, nach der sich das handelnde Du so sehnt, vorüber, nur ein kurzer Blickkontakt, dann ist es wieder verschwunden, vorbeigezogen – und das handelnde Du denkt wieder nach, es fasst wieder zusammen, stellt sich wieder die Frage, was es erlebt hat.
Doch diesmal gibt nicht das handelnde Du, sondern der Sprecher die diesmal seiner Meinung nach richtige Antwort:
„Von der großen Menschheit ein Stück!“.
Wie ernst es dem Sprecher mit dieser Aussage ist, lässt sich an dem verwendeten Ausrufezeichen erkennen.
Diese Antwort auf die Frage lässt sich so deuten, dass die moderne Menschheit sich nicht länger mit Gefühlen und Empfindungen beschäftigt, sondern dass die Menschen wortlos und kalt aneinander vorbeileben.
Der einzige Ausweg aus dieser Situation wäre es, so der Sprecher, die Genossenschaften im Klassenkampf zu unterstützen und sich ihnen anschließend, um sich dann, sobald die im Marxismus als Ziel gesetzte „klassenlose Gesellschaft“ existent ist, genauer den Gefühlen der Menschen widmen und jemanden lieben kann.
Das handelnde Du kann es nicht ertragen, in der großen, unpersönlichen Großstadt, in der sich die Menschheit zum Großteil befindet, zu leben. Es sehnt sich nach mehr, nach Lebensglück durch Liebe und Gefühle, die in der jetzigen Form des Systems nicht zu empfinden sind.
Die Antwort des Sprechers verwendet Tucholsky, der selbst ein Sympathisant der Arbeiterbewegungen war, als eine Art Sprachrohr, hier zeigt er leichte Ansätze in Richtung Gebrauchslyrik: Ganz unbeschönigt wird gesagt, dass man im Moment von der Menschheit, die so viel bewerkstelligen könnte, nur einen Teil des Möglichen auch umsetzt – bedingt durch den Kapitalismus.
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