Autor/in: Kurt Tucholsky Epoche: Expressionismus Strophen: 3, Verse: 39 Verse pro Strophe: 1-12, 2-12, 3-15
Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
Mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? vielleicht dein Lebensglück...
vorbei, verweht, nie wieder.
Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hasts gefunden,
nur für Sekunden...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider;
Was war das? kein Mensch dreht die Zeit zurück...
vorbei, verweht, nie wieder.
Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Er sieht hinüber
und zieht vorüber...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider.
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.
Die Literaturepoche des Expressionismus: Die verschollene Generation? Diese und andere spannende Fragen beantwortet euch der Germanist Dr. Tobias Klein von Huhn meets Ei: Katholisch in Berlin im Gespräch mit dem Podcaster Wilhelm Arendt.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Ernst Ludwig Kirchner: Straße mit Passanten bei Nacht (1926/27)
1930 schrieb Kurt Tucholsky das Gedicht „Augen in der Großstadt“, welches 3 Strophen mit unterschiedlicher Länge umfasst. Strophen 1 und 2 bestehen aus 12 Versen, wobei die 3. Strophe allerdings aus 15 Versen besteht. Die Strophen bestehen aus 8 Versen, worauf immer ein vierversiger Refrain folgt, welcher in Strophe III jedoch 6 Verse umfasst.
Das Metrum1 dieses Gedichts ist ein Jambus, das Reimschema ist unterschiedlich. In den ersten 4 Versen jeder Strophe ist das Reimschema ein
Kreuzreim, in den jeweils folgenden vier Versen ist das Reimschema ein Paarreim und in den Versen 9-12 jeder Strophe ist das Reimschema wieder ein Kreuzreim. In Strophe 3 sind die ersten vier Verse ein Kreuzreim, die folgenden 6 ein Paarreim und die letzten 5 Verse sind unregelmäßig und folgen dem Versmaß R S T R S. Die Kadenzen2 richten sich nach dem Reimschema, mit Ausnahme der letzten Strophe, wo die Kadenzen nach den ersten 4 Versen unregelmäßig werden.
Das Gedicht „Augen in der Großstadt“ ist ein Stadtgedicht, in dem besonders häufig Metaphern3, Ellipsen4, Pars pro toto, Enjambements5 und Anaphernvorkommen.
Ein lyrisches Ich ist nur indirekt vorhanden, indem es den Leser direkt anspricht. Eine Entwicklung ist somit nicht festzustellen.
In Strophe I beschreibt der Dichter die Begegnungen mit vielen unbekannten Menschen in einer Großstadt, indem er den Leser direkt anspricht.
Das Gedicht beginnt mit einer Anapher von Vers 1 und 3. „Wenn du zur Arbeit gehst“ (I,1) „Wenn du am Bahnhof stehst“ (I,3). Diese Anapher beschreibt die verschiedenen Möglichkeiten, anderen Menschen zu begegnen.
Das Enjambement „wenn du zur Arbeit gehst am frühen Morgen“ (I,1f) im Zusammenhang mit der oben genannten Metapher geht auf die ständige Wiederholung der darin genannten Taten, zur Arbeit zu gehen oder am Bahnhof auf den Zug zu warten, ein.
Dieses Enjambement wiederholt sich in den Versen 3 und 4, was noch einmal auf die Wiederholung und den stets gleichen Tagesablauf des Angesprochenen anspricht.
Besonders in den ersten 4 Zeilen der ersten Strophe wird der Leser oft direkt angesprochen. „Wenn du“(I,1), „mit deinen Sorgen“(I,4). Diese Ansprachen deuten darauf hin, dass Tucholsky mit diesem Gedicht alle Menschen ansprechen will, weil es alle Menschen betrifft.
Vers 5, „da zeigt die Stadt dir asphaltglatt“ (I,5) ist eine Personifikation7, welche die Passivität, die die Menschen beschreibt, die nicht beeinflussen können, welche Menschen und wie viele von ihnen die in einer Stadt treffen. Menschen begegnen sich, können dieses allerdings nicht verhindern.
„Asphaltglatt“ (I,6) ist eine Wortneuschöpfung, die in Vers 6 der ersten Strophe zu finden ist. Diese Wortneuschöpfung macht durch den Wortteil „Asphalt“ noch einmal auf die Stadt aufmerksam, weil die Städte voller Straßen sind, welche aus Asphalt gebaut wurden.
Auch Vers 7, „im Menschentrichter“ (I,7) enthält einen Neologismus8, der auf die vielen Menschen in der Stadt hinweist, die dort so eng aufeinander gedrängt sind, wie in einem Trichter.
In Vers 8 werden „millionen Gesichter (I,8) erwähnt, die eine Hyperbel9 darstellen. Tucholsky verwendet hier eine Hyperbel, da es dem Angesprochenen so vorkommt, als würde er, wenn er durch die Stadt geht, so unzählige Menschen sieht, dass es ihm vorkommt, als seien es Millionen.
Insgesamt ergeben die Verse 5-8 einen Satz. „Da zeigt die Stadt dir asphaltglatt im Menschentrichter millionen Gesichter“ (I,5-8)
In Vers 9 beginnt der Refrain, der sich in jeder Strophe nur durch einen Vers unterscheidet. Der Refrain beschreibt jedes Mal die kurze Begegnung mit einem unbekannten.
Vers 9, „2 fremde Augen, ein kurzer Blick“ (I,9) ist zum einen eine Ellipse und beinhaltet zum andern zwei Metaphern, „fremde Augen“, die dem unbekannten Menschen begegnen, und „ein kurzer Blick“, der die kurze Begegnung beschreibt. Bei dieser kurzen Begegnung schauen sich die beiden Menschen kurz an, schauen dann allerdings wieder weg, weil sie aneinander vorbeigehen, weshalb Tucholsky hier die Metapher „kurzer Blick“ verwendet.
In Vers 10 wird beschrieben, was man an dem Menschen, dem man begegnet, alles sieht. „Die Brauen, Pupillen, die Lider“ (I,10) sind das, was man an einem Menschen sieht, wenn man ihm in die Augen schaut.
„Was war das?“ (I,11) ist eine Frage in Vers 11, die erst in Strophe III beantwortet wird.
„Vielleicht dein Lebensglück“ (I,11) ist der zweite Teil des Verses und der Teil des Refrains, der in jeder Strophe verändert wird. Durch das Wort „Vielleicht“ wird gezeigt, dass es nur eine Vermutung ist. Hier ist das Lebensglück eine Metapher und beschreibt das Positive, das hätte passieren können, wenn die beiden Menschen nicht achtlos aneinander vorbei gegangen wären.
Der letzte Vers der 1. Strophe, „vorbei, verweht, nie wieder“ (I,12) ist auch eine Ellipse und beinhaltet eine Alliteration10, welche im Gegensatz zum Vorangegangenen Vers die Gegenwart benennt, die nicht die ist, die man sich vorgestellt hat, die im vergangenen Vers vermutet wurde. Die Gegenwart fällt negativer aus als die erwünschte Zukunft.
In Strophe 2 wird wieder die Begegnung beschrieben.
Diese 2. Strophe beginnt mit „du gehst dein Leben lang“ (II,1), was sowohl eine direkte Ansprache als auch eine Alliteration ist. Diese Alliteration beschreibt die immer wiederkehrenden Abläufe, die auch in Strophe 1 benannt wurden. Dort wurden als einzelne Beispiele das zur Arbeit Gehen oder das Warten auf den Zug angeführt. Außerdem ist „ein Leben lang“ eine Hyperbel, um die Wiederholungen zu dramatisieren. „Ein Leben lang“ bedeutet, dass diese Vorgänge immer und immer wiederkehren, solange man lebt, was die Wiederholungen als dramatischer beschreibt, als würde man es einfach „lang“ nennen.
„Auf tausend Straßen“ (II,2) in Vers 2 ist auch eine Hyperbel, um auch die wiederkehrenden Abläufe in einer Stadt zu dramatisieren.
„Du siehst auf deinem Gang die dich vergaßen“ (II,3,4) aus den Versen 3 und vier der 2. Strophe ist ein Enjambement. „Die dich vergaßen“ beschreibt die Menschen, denen man zwar in der großen Stadt begegnet ist, die sich allerdings nicht um die anderen kümmern und diese dadurch schnell vergessen.
„Ein Auge winkt, die Seele klingt, du hast’s gefunden, nur für Sekunden“ (II,5-6) ist der Satz aus Vers 5-8, der ähnlich auch in Strophe 1 vorkommt. „Ein Auge winkt“ ist eine Personifikation, die das Auge als blinzelnd oder zwinkernd beschreibt.
„Die Seele klingt“ ist auch eine Personifikation, die die Seele als freudig darstellt. Der Mensch, der Träger der Seele, ist also glücklich, solange man den Menschen in die Augen schaut, an dem man vorbeigeht.
„Nur für Sekunden“ zeigt die Kürze dieses Blicks, da man an dem Menschen nur ganz kurz vorbeigeht.
Nach diesem Vers folgt der Refrain. Der einzige Satz, der Verändert wird, ist „kein Mensch dreht die Zeit zurück“ (II,11). Hier wird beschrieben, dass das, was vorbei ist, niemals wiederkommen wird, da man die Zeit nicht zurückdrehen kann. Man muss sich mit dem zufrieden geben, was jetzt ist, da die Vergangenheit niemals wiederkommen wird.
Strophe 3 geht auf die Menschen ein, denen man begegnet. Man weiß nichts von ihnen, in Strophe 3 werden die Vermutungen aufgeschrieben.
Verse 1 und 2 der dritten Strophe sind ein Enjambement, sie ergeben zusammen den Satz „Du musst auf deinem Gang durch Städte wandern“. Dieses Enjambement bedeutet die immer fortwährenden Wegen durch die Stadt. Viele Menschen gehen sehr lange durch die Stadt, und sie müssen auch sehr weit laufen, weshalb in diesen Versen das Verb „wandern“ verwendet wurde.
Auch in den folgenden 2 Versen, „siehst einen Pulsschlag lang den fremden andern“ sind ein Enjambement. Verse 1 und 2 der 3. Strophe sind mit den Versen 3 und 4 jener Strophe ein Parallelismus. Dieser zeigt, dass in der Großstadt alles gleich ist. Dass man den Fremden „einen Pulsschlag lang“ sieht, ist eine Hyperbel, da dies, wie auch „nur für Sekunden“ in Strophe 2, nur den sehr kurzen Moment benennt, in dem man jemanden sieht, den man nicht kennt oder für den man sich nicht interessiert. Der „fremde andere“ ist der Mensch, dem man entgegenkommt.
Die folgenden 4 Verse sind zusammenhängend. „Es kann ein Feind sein, es kann ein Freund sein, es kann im Kampfe dein Genosse sein.“ Diese Verse sind sowohl ein Parallelismus als auch eine Anapher und eine Epipher. Diese Verse stellen Vermutungen dazu an, wer der Mensch sein könnte, dem man begegnet. Man kennt diesen Menschen nicht, allerdings denkt man darüber nach, wer dieser Mensch sein könnte. Diese Überlegungen sind hier aufgelistet.
Verse 9 und 10 dieser Strophe sind auch ein Enjambement, „Er sieht hinüber und zieht vorüber“. „Er“ ist hier der entgegenkommende Mensch. In diesen 2 Versen wird die Bewegung genannt, in denen alle Bewegungen und Gedanken aus Strophe 1 und 2 geschehen. Die sich begegnenden Menschen schauen sich kurz an, danach gehen sie aneinander vorbei und sehen sich wahrscheinlich niemals mehr wieder.
Anschließend kommt der Refrain. Der Satz, der auch hier verändert wurde, ist die Antwort auf die Fragen in Strophe 1. „Von der großen Menschheit ein Stück“ ist die Antwort auf „Was war das?“ (I,11). Dieser Satz beantwortet, wen man auf der Straße sieht, denn in den vergangenen Strophen wurde niemals erwähnt, wem man begegnet. Dieser 14. Vers der 3. Strophe ist ein Zeichen für die Anonymität in der Großstadt.
Die Menschen werden von Tucholsky in einem Vers zusammengefasst als „große Menschheit“. Alle sind ein Teil einer Menge, der weder Identität noch Individualität aufweist.
Dies ist als Grund zu nennen, weshalb Tucholsky seine Texte stets nur unter Pseudonymen zu veröffentlichen, denn für ihn spielte die Identität des Dichters keine Rolle.
Das Gedicht beschäftigt sich insgesamt mit der emotionalen und sozialen Oberflächlichkeit, mit der die Menschen in der Großstadt konfrontiert werden. Zu Lebzeiten Tucholskys, von 1890 – 1935, entwickelten sich durch die Industrialisierung die heutigen Großstädte mit ihrer Massengesellschaft. Dies war eine große Umstellung für die Menschen. Diese Entwicklung war für Tucholsky ein Anlass, dieses Gedicht zu verfassen. All die zwischenmenschlichen Probleme, die in einer Großstadt auftreten, werden von ihm aufgegriffen. In der Stadt herrscht Verfremdung und Anonymität zwischen den Menschen, Identität und Individualität haben ihren Wert verloren. Das Gedicht drückt also vor allem durch den Schluss Tucholskys Identitätskrise aus.
„Augen in der Großstadt“ ist heute durchaus noch aktuell. Es ist nachvollziehbar und verständlich für die heutigen Leser. Auch heutzutage leben noch viele Menschen in der Großstadt und erleben die angesprochene Problematik verstärkt. Allerdings würde heute niemand mehr durch diesen Zustand in eine Identitätskrise geraten, da die Menschen gelernt haben, mit der Situation umzugehen. Außerdem hat sich die Lebenssituation in der Stadt verändert. Während zu Tucholskys Zeiten vor allem die Arbeiter in kleinen Mietshäusern lebten, wohnen heute die meisten in Ein- oder Mehrfamilienhäusern, wo genug Rückzugsmöglichkeiten vorhanden sind und die Privatsphäre gegeben ist.
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