Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Karoline von Günderrodes Gedicht „Der Kuß im Traume“ (erschienen 1805) verleiht der Sehnsucht Ausdruck, im Traum glücklich zu sein, und handelt dabei letztendlich von Todessehnsucht, die durch ein als enttäuschend empfundenes Leben hervorgerufen wird.
Gedankengang des Gedichts – Beschreibung
Im ersten Quartett berichtet das lyrische Ich von einem lebensspendenden Kuss – und lässt damit mehr offen, als es sagt. Denn es wird nicht deutlich, ob es sich um einen „Kuss im Traume“ (s. Titel) handelt, d. h. um einen geträumten Kuss. Es wird auch nicht deutlich, ob „Leben“ wörtlich gemeint ist, oder eher bedeutet, dass das lyrische Ich sich belebt fühlt.
Die folgenden Verse lassen den Schluss zu, dass offensichtlich von einem Traum die Rede ist, da die „Dunkelheit“ (V. 3) kommen soll, um „neue Wonne“ (V. 4) zu bringen.
Weil der Traumkuss das „tiefste Schmachten“ des lyrischen Ichs „gestillet“ hat, ist anzunehmen, dass das „Leben“ die Befriedigung einer nicht genannten Sehnsucht ist. Das lyrische Ich will diese Befriedigung weiterhin fühlen und bittet die Dunkelheit – hier ist wohl der Schlaf gemeint – wieder zu kommen („daß neue Wonne meine Lippe saugt“, V. 4).
Das lyrische Ich stellt sich im ersten Quartett als sehnsuchtsvoll („tiefstes Schmachten“, V. 2) dar. Es sehnt sich, um diese Sehnsucht zu befriedigen, nach der „traulich[en]“ (V. 3, d. h. „vertrauten“) Dunkelheit – wahrscheinlich also nach Schlaf und Traum.
Im zweiten Quartett werden die Gedanken des ersten vertieft und erläutert: Das lyrische Ich beschreibt seine Träume als so lebhaft (s. V. 5), dass es sie zum Ziel seines Lebens machen will (vgl. V. 6). Das Leben außerhalb der Träume wird dadurch abgewertet („kann ... verachten“, V. 7).
Das Sextett lässt nicht, wie es im Schema des Sonetts angelegt ist, in zwei Teile gliedern, nämlich in zwei Terzette, wie es auch in vielen Sonetten üblich ist.
Im ersten Terzett wird der Tag charakterisiert; in diesem Zusammenhang steht der Tag wohl für das Leben außerhalb des Traums. Beschreibungen, die den Tag charakterisieren, sind: „karg an [...] Wonnen“ (V. 9), „schmerzt“, „eitles Prangen“ (beide V. 10), „Gluthen“, die „verzehren“ (beide V. 11).
Der Tag wird also negativ dargestellt und steht im direkten Gegensatz dazu, wie Dunkelheit und Nacht in den Quartetten dargestellt wurden – Charakterisierungen waren dort: „traulich“ (V. 3), „Wonne“ (V. 4) und „süßer Balsam“ (V. 8). Die negative Charakterisierung des Tages wird durch die rau klingende Assonanz2 „Tag“ - „karg“ (V. 9) unterstützt.
Im zweiten Terzett wendet sich das lyrische Ich nicht nur gedanklich vom Tag ab. Aus der negativen Beschreibung des ersten Terzetts folgt der Rückzug in die Nacht (V. 9f); dieser Rückzug wird mit den Worten „birg“ (V. 9) und „hüll' dich“ (V. 10) beschrieben, ist also der Rückzug in eine schützende Umgebung. Hier wird die Nacht wieder mit positiven Wendungen beschrieben, wie sie ganz ähnlich schon vor allem im ersten Quartett vorkamen: sie „stillet [...] Verlangen“ (V. 13) und „heilt den Schmerz“ (V. 14).
Interpretation
In diesem Gedicht wird ein krasser Gegensatz von Tag und Nacht/Dunkelheit/Traum eröffnet. Anders als es häufig üblich ist, stellt der Tag hier die negative Seite dar: Sein Licht wird „eitles Prangen“ (V. 10) genannt, also in etwa „vergängliches Prahlen“, das Schmerzen zufügt (vgl. V. 10). Die Sonne ist nicht warm und spendet Leben, sondern strahlt „Gluthen“ aus und vernichtet das Leben (s. V. 11: „verzehrt“). Das Leben, das am Tage stattfindet wird als „Glanz“ (V. 7, V. 12) bezeichnet, das heißt als bloßer Schein entwertet; wie das „eitle Prangen“ ist es daher sozusagen unecht und verachtenswert (vgl. V. 7).
Im Gegensatz dazu sind Dunkelheit, Nacht und Traum voll Leben (V. 1, V. 5), voll von Gutem („Wonne“, V. 4, „Balsam“, V. 8, Heilung, vgl. V. 14) und eine schützende Umgebung (V. 3, V. 12, V. 13). Der zentrale Teilsatz bei der Beschreibung der Nacht ist Vers 8: „weil nur die Nacht so süßen Balsam haucht.“ (Durch den regelmäßigen fünfhebigen Jambus ist eine Betonung auf dem „nur“.)
Das lyrische Ich zieht sich vom Tag zurück in die Umgebung, die es als angenehmer, schützend empfindet, wo ein „Leben“ ist, das nicht verachtet werden muss. Aus den genannten Gründen richtet es sein Leben auf den Traum aus („drum leb' ich, ewig Träume zu betrachten“, V. 6) – dies ist eine Steigerung zur Bitte an die Dunkelheit aus dem ersten Quartett.
Besonders zu beachten ist das Bild des letzten Verses. Im letzten Terzett bildet das Bild der kühlenden Fluten den Abschluss der sich steigernden Gedanken (Verlangen stillen – Schmerz heilen): Lethe ist ein Fluss der griechischen Mythologie, der in der Unterwelt, d. h. im Totenreich fließt. Sein Name bedeutet „Vergessen“, und tatsächlich haben die Seelen der Toten, die davon tranken oder trinken mussten, ihr voriges Leben vergessen. Im Bild der „kühle[n] Fluthen“ drückt sich also entweder eine starke Sehnsucht nach dem Vergessen im Traum aus, oder eine Todessehnsucht, die sich auf die „andere Dunkelheit“ als die Nacht bezieht. Schon in den ersten Quartetten können einige Gedanken als Todessehnsucht verstanden werden: „Dunkelheit“ im Zusammenhang mit „umnachten“ (s. V. 3) könnte auf den Tod hindeuten; das Wort „ewig“ (V. 6) könnte bedeuten, dass das lyrische Ich häufig und lange träumen will, oder dass es sich nach dem Tod (nach dem „ewigen Schlaf“) sehnt. Auch die „irrd'schen Sonnen“ (V. 12) deuten beim zweiten Lesen darauf hin, dass hier nicht der Tag, sondern das irdische Leben verlassen werden soll.
Durch die Erwähnung des Letheflusses sind die Bilder von Nacht, Traum und Tag doppeldeutig. Übertragen in den Bedeutungsraum von Leben und Tod, verleiht das Gedicht der Todessehnsucht in einem enttäuschten oder enttäuschenden Leben (im Bild des Tages) Ausdruck. Das für die Romantik häufig gebrauchte Bild der Nacht und des Traumes werden hier zu Bildern für Todessehnsucht.
Bezug zur Autorin
Karoline von Günderrode hat einige Gedichte geschrieben, die von Todessehnsucht handeln, und nicht mehr als ein Jahr, nachdem ihre „Poetische[n] Fragmente“, in denen dieses Gedicht steht, veröffentlicht wurde, beging sie Selbstmord nach Phasen der Krankheit und der Zurückweisung durch ihren verheirateten Geliebten. Die negative Wertung des Lebens und die Sehnsucht nach „süßem Balsam“ im Tode können also einen biographischen Hintergrund haben und die Sehnsucht der Autorin ausdrücken.