Sachtext: Mehrsprachigkeit, die bildet (2014)
Autor/in: Jürgen TrabantEpoche: Gegenwartsliteratur / Literatur der Postmoderne
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Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Bei dem vorliegenden Sachtext „Mehrsprachigkeit, die bildet“ handelt es sich um einen Auszug aus Jürgen Trabants Buch „Globalesisch oder was? Ein Plädoyer für Europas Sprachen“ (2014). Der Auszug thematisiert eine auf Bildung gestützte Mehrsprachigkeit, welche nicht nur globale Kommunikationsmöglichkeiten voraussetzt (vgl. Englisch als „Verkehrssprache“), sondern Sprachkompetenz, welche primär auf dem Verständnis für die Sprache als solche basiert. Trabant vertritt hierbei die Position, dass bildende Mehrsprachigkeit drei Sprachen voraussetzt, d. h. die Landessprache, Englisch im kommunikativen Sinne und eine weitere Fremdsprache, die keine reine globale Kommunikationsnotwendigkeit darstellt, sondern viel mehr ein Sprachverständnis, das auf dem Verstehen-Wollen eines Anderen und seiner Sprache basiert.
Der Auszug lässt sich in vier Sinnabschnitte unterteilen, wobei der Autor zunächst das Konzept des Spracherwerbs, welcher hauptsächlich auf „sich-Verständlich-Machen“ (Z. 4) basiert (Z. 1-22), erläutert und anschließend sich mit dem rein kommunikativen Konzept beschäftigt (Z. 23-33). Daraufhin vertieft Trabant seine Aussagen, welche sich auf die verstehende Kompetenz beziehen (Z. 34-54) und kommt im Folgenden anhand der gewonnenen Kenntnisse zu einem Fazit, das seine Vorstellung der Mehrsprachigkeit widerspiegelt (Z. 55-60).
Im ersten Sinnabschnitt erläutert Trabant das Prinzip der Distanzsprache, die primär nicht auf kommunikative Kompetenz abzielt, sondern auf das sprachliche Verständnis für den Anderen. Dies wird durch den alten Lateinunterricht widergespiegelt und kann auf räumlich entfernte Sprachen übertragen werden. Im Gegensatz dazu steht das Konzept der kommunikativen Kompetenz, das die sprachliche Verständigung zum Ziel hat, wie zum Beispiel das Englische. Jene globale Kommunikationsnotwendigkeit macht verbale Kommunikation universal möglich, so dass das Erlernen weiterer Sprachen überflüssig und somit Zeitverschwendung ist. Gerade deswegen ist man mit qualitativ-minderwertigem Zweit-Fremdsprachenunterricht konfrontiert.
Im dritten Abschnitt wird die Mehrsprachigkeit thematisiert. Dabei dient die weitere Fremdsprache nicht kommunikativ-praktischen Zwecken, sondern soll sprachlich und somit kulturell bilden. Diese Form der Bildung wird durch die intrinsische Motivation, exklusive Einblicke ins Fremde zu erlangen und dies zu verstehen, ermöglicht. Diese „hermeneutische Kompetenz“ ist somit persönlich und emotional motiviert, da Sprache nicht Mittel zum Zweck (Kommunikation) wird, sondern in ihrer Lebhaftigkeit und Nähe wahrgenommen wird.
Zum Schluss führt Trabant die Quintessenz auf, das ein auf drei Sprachen Konzept mit den obig erläuterten Konzepten die Mehrsprachigkeit im europäischen Sinne befördere. Spracherwerb, der auf kommunikativer Kompetenz basiert, führe ausschließlich zu globaler Zweisprachigkeit, die nicht bildet.
Der Autor leitet seine Argumentation mit dem Aufgreifen des Konzeptes des alten Lateinunterricht ein (vgl. Z. 3 ff.) Seine These lautet hierbei, dass diese Form des Sprachenlernens nicht das Ziel der kommunikativen Verständigung hat, sondern das „Verstehen des Anderen“ (Z. 5). Dies begründet er anhand eines banal klingenden Beispiels, dass man keine Pizza oder Fahrkarte auf Lateinisch kaufen möchte (vgl. Z. 7 f.) Der Grund für das Erlernen liegt somit nicht in der kommunikativen Kompetenz, sondern am sprachlichen Kulturerbe und Kulturteilhabe (vgl. Z. 8-10). Somit wird nicht nur das Sprachverständnis in Form von Wörtern und Formen geschult, sondern auch das Verständnis der antiken Textkultur (vgl. Z. 10 f.), so dass kein „unmittelbar praktische® Nutzen“ (Z. 12) entsteht, sondern ein „symbolische® Mehrwert“ (ebd.). Dieses Argument stellt ebenfalls ein Autoritätsargument dar, weil es durch Hegels Gymnasialrede (1809) gestützt wird (vgl. Z. 13 f.). Sprache hat somit einen durchaus tieferen Sinn als die verbale Verständigung. Trabant schlussfolgert, dass dieses alte Konzept neu angewendet werden kann, nämlich auf räumlich distanzierte Sprachen, deren sprachliche Andersartigkeit verstanden werden möchte (vgl. Z. 15-18). Kernstück seines Arguments ist die somit erfolgende Bildung, so dass in diesem Sinne gedacht und dementsprechend unterrichtet werden muss (vgl. Z. 19-22). Es handelt sich hierbei um einen impliziten Appell, das Bildungswesen nach diesem Konzept auszurichten.
Seine zweite These basiert auf seiner zuvor geäußerten These, weil er von einer Schwächung der Bildung (vgl. Z. 24), die durch das „Konzept der kommunikativen Kompetenz in den fremden Sprachen“ (Z. 23) verursacht wurde, spricht. Das Lernziel der kommunikativen Kompetenz (nicht gleichzusetzen mit Bildung) hat weitere Konsequenzen als nur die Bildungsferne. So führt das Erlernen des Englischen im kommunikationsnotwendigen Sinne zu einer Entfremdung weiterer Sprachen, wenn das Erlernen einer Fremdsprache völlig ausreichen ist und somit jede weitere Fremdsprache überflüssig macht (vgl. Z. 24-27). Dies begründet Trabant anhand von rhetorischen Fragen, die die Nutzlosigkeit überflüssiger Fremdsprachen unterstreichen (vgl. Z. 27-30). Trabant argumentiert im Sinne der Zeitverschwendung (vgl. Z. 30 f.), die besonders im Zeitalter der Digitalisierung und des Multitaskings Unwohlsein hervorruft. Diese Einstellung bezüglich des Drittspracherwerbs führt somit zum massiven Einbruch des Zweitfremdsprachenunterrichts in Europa (vgl. Z. 32 f.). Seine Schlussfolgerung stellt somit eine Kritik des europäischen Bildungswesens dar.
Auf Basis seiner bisherigen Argumentation stellt der Autor die These auf, dass Mehrsprachigkeit nur erlangt werden kann, wenn sie nicht ausschließlich auf kommunikativ-praktischen Zwecken beruht (vgl. Z. 34-36). Der „Grund für die Erlernung einer oder mehrerer anderer Sprachen ist die von mir [Trabant] skizzierte „Bildung““ (Z. 38 f.). Somit liegt sie einer anderen Motivation zugrunde, die nicht auf reiner Kommunikationsfähigkeit basiert, sondern einem ambitionierteren Ziel. Dies liegt in der Neugierde für die Sprache, d.i. wie andere Menschen die Welt in einer anderen Sprache bewältigen, wie sie ihre Sprache leben, wie ihre Literatur ist (vgl. Z. 38 f.). All diese Beispiele verdeutlichen die Lebhaftigkeit und Diversität von Sprache, die weitaus mehr als reine Kommunikation ist. Sprache ist dementsprechend ein Kulturerbe, das gewahrt und gepflegt werden muss.
Der Autor führt sein Argument anhand weiterer Beispiele, die Neugierde für das „ferne Du“ (Z. 40) widerspiegeln, aus (vgl. Z. 40 f.). Das menschliche Miteinander spielt hierbei eine große Rolle (vgl. Z. 45). Es besteht ein starker Kontrast zwischen dem Erlerner und den Muttersprachlern. Nicht die eigenen Bedürfnisse (persönliche Verständigung) stehen im Vordergrund, sondern das „was die Anderen in ihrer Sprache tun, wie ihre Sprache klingt“ (Z. 47). Sein Argument, es gehe um „Befreundung mit dem Anderen“ (Z. 52), erfolgt auf sehr emotionaler Basis und steht stark gegensätzlich zu dem negativ konnotierten „kommunikativen Quickie“ (Z. 53). Zuvor beleuchtet er nochmal die Gegenseite und somit die Antithese1, dass ein Franzose zwar Englisch verstehe und die Konversation an sich eine positive Sache darstellt (vgl. Z. 49 f.), sie aber auf einer befremdlichen Art geschieht, wenn es nicht zum „Akt der Anerkennung seiner Französischkeit [Sprache]“ (Z. 51) kommt. Somit macht der Autor erneut deutlich, dass Sprache kein oberflächliches Werkzeug der Kommunikation ist, sondern viele Facetten, darunter auch Kulturelles, widerspiegelt.
Basierend auf diesen Erkenntnissen führt kommunikative Kompetenz allein zu globaler Zweisprachigkeit, die sich bereits etabliert hat (vgl. Z. 56 f.). Parallelen zum Mittelaltert führt der Autor auch auf, als das heutige Englisch dem Lateinisch entspricht („neo-mittelalterliche Diglossie“, Z. 51 f.). Sein Schlusswort bildet sein Appell des Strebens nach Bildung in Form von Mehrsprachigkeit im Sinne seines Konzeptes (vgl. Z. 59 f.).
Trabants Argumentation wird auch auf Basis von sprachlich-rhetorischen Mitteln gestützt.
So trifft die Gegenseite auf Ironie: „Ich will ja keine Pizza oder Fahrkarte von Cicero kaufen, keine Vertrag mit ihm abschließen, sondern ich will einfach wissen (…)“ (Z. 7 ff.), was die gegensätzliche Position ins Lächerliche zieht und seine Position authentisch und glaubhaft wirken lässt. Auch die Verwendung rhetorischer Fragen „Warum soll ich denn noch Französisch lernen, wenn ich meinem französischen Freund alles auf Englisch mitteilen kann? Und warum soll dieser meine Sprache sprechen, wenn er mir – (…) – alles auf Englisch sagen kann?“ (Z. 27-30), die gleichzeitig in Form einer Klimax2 aufgebaut sind, lassen den Text interaktiver erscheinen und schwächen zwar zunächst Trabants Position, erzeugen aber somit Authentizität, so dass Trabants Meinung neutral und gut durchdacht erscheint. Durch die darauffolgende Entkräftigung der Gegenposition erschienen die Argumente der Gegenposition schwach und in Anbetracht der Verwendung der rhetorischen Fragen manipulierend, so dass der Leser mit Trabants Position sympathisiert. Der Neologismus3 „kommunikative® Quickie“ (Z. 53) wirft aufgrund der negativen Assoziation des Nomens „Quickie“ einen dunklen Schatten auf das Konzept der kommunikativen Kompetenz und somit der Gegenseite. Die Anapher4 und das Asyndeton5 „Du Frankreich, Du Norwegen, Du Russland“ (Z. 40 f.) unterstreicht die sprachliche Diversität und die dadurch entstehenden vielzähligen Möglichkeiten. Die Verwendung des Personalpronomens „Du“ (ebd.) personalisiert die Nationen und damit ihre Sprachen, so dass eine emotionale Bindung zum Sprachenlernen aufgebaut wird und sie nicht nur Mittel zum Zweck in einer anonymisierten Welt sind. Dieser Facettenreichtum wird durch das Asyndeton und die Anapher „Du Cicero, Du Racine, Du Dante, Du Tolstoi“ (Z. 41) hervorgehoben, wobei die Aufzählung auf engstem Raum das Kulturerbe unterstreicht und somit den Faktor „Bildung“ hervorhebt. Die Alliteration7 „Du Dante, Du (…)“ (ebd.) spiegelt die Nähe und dementsprechend emotionale Bindung zu Sprachen wider, so dass Trabants Position positive Assoziationen hervorruft, die besonders im Zeitalter der tristen industrialisierten Leistungsgesellschaft (Meritokratie) positiv auffallen. Die Anonymität und Kulturferne der reinen Verkehrssprache wird durch die Ellipse8 und Antithese „oben Englisch- unten die Volkssprachen“ (Z. 58) symbolisiert. Im Kontrast dazu steht die Klimax und das Trikolon „es ist nicht besonders gebildet, (…), nicht europäisch.“ (Z. 59 f.), so dass Trabants Idee einer bildenden Mehrsprachigkeit die einzig sinnvolle Lösung für die Probleme sind. Dies wird durch das Verb „brauchen“ (Z. 60) betont. Die Syntax ist zwar überwiegend hypotaktisch, aber aufgrund der vielen Konnektoren leicht zu verfolgen und zu verstehen.
Abschließend lässt sich festhalten, dass Mehrsprachigkeit im Sinne Trabants (drei-Sprachen-Modell, das nicht nur auf kommunikativer Kompetenz beruht) vielerlei – besonders intellektuelle – Vorteile mit sich bringt. Mit seiner Argumentation verfolgt er die Intention, ein solches Konzept zu etablieren.