Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Gliederung
- A. Romantisierung der Welt nach Novalis
- B. Analyse und Interpretation des Gedichts „Mondnacht“ von Joseph Freiherr von Eichendorff“
- I. Inhalt des Gedichts
- 1. Emotionale Wirkung der Natur auf das lyrische Ich
- 2. Reale Ausgangssituation
- 3. Streben des lyrischen Ichs nach Freiheit
- II. Aufbau des Gedichts
- 1. Harmonische Struktur durch
- a) Reimschema
- b) Kadenz1
- c) Versmaß und Enjambements2
- III. Sprachliche Gestaltung des Gedichts
- 1. Tempus
- a) Verwendung des Indikativs und des Konjunktivs zur Unterscheidung zwischen Realität und Traumgebilde
- 2. Gebrauch von gewählten Adjektiven zur Vermittlung eines Bildes der Ruhe und Stille
- 3. Verwendung von Stilmitteln
- a) Personifikationen3 zur Intensivierung der Wirkung der Natur auf das lyrische Ich
- b) Weitere Stilmittel
- IV. Interpretation anhand der symbolhaften Sprache
- 1. Entgrenzung durch Träume und Loslösung vom Irdischen
- 2. Religiöse Deutung anhand der Begriffe Seele und Todessehnsucht
- C. Romantisierung der Welt durch die Natur und die Fantasie ist möglich
A. „Die Welt muss romantisiert werden“ – so forderte es Novalis einmal. Was er damit eigentlich meinte, verstanden viele seiner Zeitgenossen nicht, wie Goethes „Gespräch über das Antike und das Romantische“ beispielsweise zeigt. Für sie, die es gewohnt waren, rational und konstruiert zu denken, war es schwierig, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen und so beschuldigten sie die Romantiker des Eskapismus. Auch uns heute fällt es schwer, mit den Gedanken und Vorstellungen der Romantiker einig zu gehen. Betrachtet man aber das programmatische Gedicht „Mondnacht“ von Joseph Freiherr von Eichendorff, ist man eher in der Lage, Verständnis zu finden für die Romantiker, da man darin aufgrund der typisch romantischen Motivik sehr viel über die Gefühlswelt und Vorstellungen des Dichters herauslesen kann.
B. Dieses Gedicht werde ich im Folgenden genauer analysieren und interpretieren.
I. 1. Darin geht es um eine Naturbeobachtung, die im lyrischen Ich Träume und die Sehnsucht nach Freiheit hervorruft.
Schon der Titel „Mondnacht“ weist darauf hin, dass Eichendorff viel mit Kontrasten arbeitet. Die dunkle Nacht wird somit vom Mondschein erhellt.
Dies setzt sich in der ersten Strophe fort. Sie beschreibt die emotionale Wirkung, die die Natur auf das lyrische Ich hat. Dass sie als Vergleich formuliert wird, deutet darauf hin, dass es sich lediglich um ein Traumgebilde handelt. Wieder wird ein Kontrast hergestellt, diesmal zwischen Himmel und Erde. Dieser Gegensatz wird jedoch durch die Vereinigung der beiden Elemente aufgehoben. Die personifizierte Erde wird hierbei durch den Himmel in einen Traum versetzt.
2. Die zweite Strophe beschreibt nun die Realität, die tatsächlichen Naturphänomene: Die Luft und der Wind, für den Menschen nicht sichtbare Dinge, vereinigen sich mit den irdischen, sichtbaren Dingen, den Feldern, Ähren und Wäldern. Der Traum des Sprechers, der in der ersten Strophe stattfindet, wird dadurch sozusagen realisiert. Diese reale Ausgangssituation wird vom lyrischen Ich also als Schwelle zur sogenannten zweiten Welt, der Welt der Träume und Sehnsüchte genutzt. Im letzten Vers der Strophe wird Bezug genommen auf den Titel des Gedichts: Es ist eine „sternklar[e] … Nacht“ (V.8), die die Natur in einem ganz besonderen Licht erscheinen lässt. In dieser Strophe wird klar, in welcher Position sich der Sprecher befindet: Er beobachtet die Natur bei Nacht und lässt sich von ihrer Schönheit beeindrucken.
3. Welche konkrete Wirkung dies auf das Denken und Fühlen des lyrischen Ichs hat, zeigt die dritte Strophe: Es löst sich vom Irdischen und strebt nach vollkommener Freiheit. Dies spielt wiederum darauf an, dass die Natur eine Schwellensituation darstellt. Intensiviert wird dies noch dadurch, dass Eichendorff in dieser Strophe einen weiteren Übergang gestaltet: Die Seele, die sich von der Erde löst und dadurch ihre Ruhe findet.
II. Schon inhaltlich lässt sich also eine gewisse Harmonie erkennen. Vor allem zwischen der ersten und dritten Strophe besteht ein besondere Zusammenhang, da sie –wie bereits erwähnt- die Träume des Sprechers wiedergeben. Dies wird auch durch den äußeren Aufbau gestützt.
a) Unterteilt ist das Gedicht in drei Strophen von je vier Versen, die im Kreuzreim angeordnet sind.
b) Ohne Ausnahme liegen abwechselnd eine klingende und eine stumpfe Kadenz vor, bedingt durch die Anzahl der Silben. Eine Strophe setzt sich jeweils aus sieben Silben im ersten und dritten Vers und aus sechs Silben im zweiten und vierten Vers zusammen. Dadurch, dass jede Strophe für sich zudem noch einen abgeschlossenen Satz bildet, bleibt eine harmonische, regelmäßige Struktur gewahrt.
c) Verstärkt wird der fließende Rhythmus des Gedichts durch den dreihebigen Jambus als Versmaß und durch die Enjambements, die in der ersten und in der dritten Strophe verwendet werden. Ein wenig aus der Reihe fällt hierbei die zweite Strophe, in der keine Enjambements auftreten und die im Gegensatz zu den beiden anderen rein parataktisch aufgebaut ist. Dies lässt sich wieder inhaltlich begründen, da ja die zweite Strophe die Realität darstellt, die sozusagen von zwei Traumblöcken umrahmt wird.
III. 1.a) Zum Ausdruck kommt das auch durch die sprachliche Gestaltung. Dies zeigt vor allem das Tempus. Während in der zweiten Strophe der Indikativ Imperfekt verwendet wird, gebraucht Eichendorff in der ersten und in der letzten Strophe, in der jeweils ein Vergleich herangezogen wird, den Konjunktiv Imperfekt. Das deutet darauf hin, dass sich das lyrische Ich durchaus seiner Träume bewusst ist und den Bezug zur Realität noch nicht verloren hat. Jedoch lässt sich auch hierbei eine Entwicklung feststellen. Denn in den ersten drei Versen der dritten Strophe berichtet der Sprecher im Indikativ, zeigt also, dass er direkt an der Schwelle zum Göttlichen steht. Dies kann durchaus als Beweis dafür angesehen werden, dass das lyrische Ich mehr und mehr in seine Traumwelten gleitet und sich von der tatsächlichen Umgebung löst. Dass aber der letzte Vers dennoch wieder im Konjunktiv steht, macht deutlich, dass es die Schwelle noch nicht völlig überschritten hat, sozusagen nicht in der Lage ist, die Realität ganz zu verlassen.
2. Durch die Adjektive wird dem Gedicht eine feierliche Atmosphäre verliehen, die eine beruhigende Wirkung auf den Leser hat. So spricht Eichendorff in der ersten Strophe von einer „still[en]“ (V.2) Vereinigung des Himmels und der Erde. Dies weist darauf hin, dass sie nicht für jedermann offensichtlich ist, sondern nur sehr aufmerksame Beobachter der Natur, die sich in sie hineinversetzen können und ihr zweites Augenpaar bereits entwickelt haben –also das Unsichtbare und Überirdische gleichsam „sehen“ können-, in der Lage sind, sie zu erkennen.
Die Adjektive „sacht“ (V.6) und „leis“ (V.7) vermitteln ein Bild der Ruhe und Stille. Die Natur bildet also nach dem Verständnis romantischer Dichter den Gegenpol zur hektischen Welt.
Auch in der dritten Strophe liest man vom „stillen Lande“ (V.11). Das lyrische Ich sehnt sich somit nach Ruhe. Das ist ein möglicher Grund dafür, warum er die Nacht als Zeitpunkt wählt, um die Natur zu beobachten.
Zudem ist der Himmel „sternklar“, das Licht des Mondes wird somit nicht durch Wolken gedämpft und es ist dem Sprecher dadurch möglich, die Natur in ihrer Pracht in sich aufzunehmen. Diese Wirkung auf das lyrische Ich wird mit den Worten beschrieben: „Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus“ (V.9 f.). Aufgrund des strahlenden Lichts der Himmelskörper ist er imstande und bereit, sich voll und ganz dem Überirdischen zuzuwenden und die reale Welt hinter sich zu lassen.
3. a) Die Personifikation der unbelebten Schöpfung – des „Himmel[s]“ (V.1) und der „Erde“ (V.2), die durch einen Kuss vereint sind- sowie der Natur –der „Ähren“, die sacht wogen (V.6) und der „Wälder“, die leise rauschen (V.7)- und der „Luft“ (V.5), die die Natur in Bewegung versetzt, verdeutlichen noch einmal den Bezug des lyrischen Ichs zur Natur. Weil sie einen so großen Wert für ihn haben, sind sie auch in der Lage, die Wirkung in ihm hervorzurufen, die in der dritten Strophe beschrieben wird.
b) Auffällig ist das Wort „Blütenschimmer“ (V.3). Dieser Neologismus4 deutet einerseits darauf hin, dass Frühling ist, die Jahreszeit, in der die Natur erblüht, und stellt andererseits einen Rückbezug zum Thema dar: Der Mond lässt die Blumen schimmern und umgibt sie mit einem geheimnisvollen Glanz. In Vers fünf und sechs liegt ein Parallelismus und zugleich eine Anapher5 vor, da beide Sätze dieselbe Funktion haben: Sie dienen als Grundlage für die Träume des Sprechers und sind Beispiele für die reale Verbindung zwischen Himmel und Erde.
IV. Die Bildhaftigkeit, die Eichendorff verwendet, sticht besonders hervor. So streut er sehr viele der Motive und Symbole ein, die wir heute als typisch für die Romantik betrachten und die bei einer Interpretation vielseitig verwendet werden können.
1. Die symbolhafte Sprache beginnt bereits beim Titel. Die Nacht ist für die Romantiker von großer Bedeutung, weil man aufgrund ihrer Dunkelheit auf das zweite Augenpaar angewiesen ist, das für die unsichtbaren, aber wesentlichen Dinge von elementarer Bedeutung ist. In dieser Nacht bietet der Mond eine wertvolle Orientierungshilfe, er erhellt sie und lässt Dinge in einem völlig anderen Licht erscheinen als es bei Tag der Fall ist. Die Nacht gibt also die Möglichkeit der Entgrenzung, die das lyrische Ich in diesem Gedicht nutzt.
Diese Entfesselung wird bereits in der ersten Strophe deutlich, in der die Vereinigung des Himmels –als Symbol für das Überirdische und Unsichtbare- und der Erde, stellvertretend für das Weltliche und Reale, dargestellt wird. Sie bringt die beiden Gegensätze in Harmonie und macht somit die Lösung vom Irdischen, die Entgrenzung, möglich. Durch diese Berührung wird die Erde in einen Traum versetzt. Wer dies erkennt, reagiert darauf und lässt sich ebenfalls davon verzaubern. Er ist bereit, ebenfalls mit dem Göttlichen eins zu werden. Die Grundlage dafür bildet das Träumen, es stellt das Tor zur anderen Welt dar.
Diese Entfesselung, die in der ersten Strophe ihren Anfang nimmt, erreicht in der letzten Strophe ihren Höhepunkt: Die Seele löst sich, verlässt das Irdische und fliegt nach „Haus“ (V.12), was eine Metapher6 für den Himmel darstellen mag. Somit ist der Mensch imstande, Zeit und Raum, die ihm bisher Grenzen gesetzt haben, zu überbrücken. Die Sehnsucht des Sprechers danach ist so groß, dass diese Entgrenzung für ihn schon fast zur Realität geworden ist.
2. Da er aber anerkennen muss, dass die völlige Überwindung nicht möglich ist, verspürt er Todessehnsucht, was eine religiöse Deutung möglich macht, die spezifisch für Eichendorff ist, wie viele seiner Gedichte belegen.
Nach Ansicht vieler Religionen ist die Seele unsterblich. Beim Tod löst sie sich vom zerfallenden Körper und schwebt umher, ohne dass ihr Grenzen gesetzt sind. Ihr ist es dann möglich, das Göttliche vollends zu erreichen. Diese Vorstellung ist von den Romantikern aufgenommen worden und entspricht zu großen Teilen ihren Ansichten. Für sie beginnt das wirkliche erst nach dem Tod, wenn die Seele sich von allem Irdischen gelöst hat. Erst dann ist Freiheit möglich. Somit stellt das irdische Leben für sie nur eine Übergangsphase dar, die wirkliche Heimat, das „Haus“, ist der Himmel –so wie es auch einige christliche und nichtchristliche Religionen lehren.
C. Für mich als Person, die bereits viele Epochen kennengelernt hat, ist die Romantik eine der schönsten und faszinierendsten. Denn uns, die wir ständig erfolglos versuchen, die wenigen Grenzen, die uns im Vergleich zur damaligen Zeit noch gesetzt sind, auf jede erdenkliche und oft äußerst unmoralische Weise zu überwinden, zeigt die Romantik einen klaren und einfachen Weg: Die Natur geknüpft mit unserer individuellen Fantasie kann eine so magische Kraft auf uns wirken lassen, dass wir in der Lage sind, all unsere Grenzen zu vergessen und nach den unendlich vielen Möglichkeiten zu streben, die sich uns bieten. Es liegt tatsächlich in unserer Hand, die Welt zu romantisieren.