Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das romantische Gedicht „Lockung“ wurde um das Jahr 1840 von dem Romantiker Josef von Eichendorff in Liedform verfasst und thematisiert die für die Epoche typische, verlockende Flucht in eine Traumwelt mit dem Ziel, eine transzendente1 Ebene zu erreichen.
Das Gedicht ist aus zwei veredelten, doppelten Volksliedstrophen aufgebaut und nimmt so schon durch seine äußere Form einen Bezug auf das Mittelalter, welches für den Romantiker als Zeit einer heilen und geordneten Welt galt. Die doppelte Volksliedstrophe besitzt acht Verse und ausschließlich reine Reime, die im Kreuzreimschema angeordnet sind. Das Metrum2 ist ein vierhebiger Jambus. Die sich immer abwechselnden klingenden und stumpfen Kadenzen3 unterstützen Reimschema, Metrum und die dadurch entstehende Struktur des Gedichts zusätzlich.
In der ersten Strophe beschreibt das lyrische Ich, wie es der Titel des Gedichts schon andeutet, die nächtliche Verlockung von der Realität in eine Traumwelt zu fliehen. Direkt zu Beginn spricht das lyrische Ich ein „du“ (V. 1) mit einer Frage an. Die Frage, ob das „du“ die Bäume „draußen durch die stille Rund[e]“ (V. 2) rauschen höre, lässt schon vermuten, dass die Handlung nachts stattfindet, da hier die Sinneswahrnehmung intensiviert wird und man somit sogar das Rauschen der Bäume wahrnimmt. Noch befindet sich das lyrische Ich in der Realität, da die Traumwelt „draußen“ (V. 2) ist. Die Runde, welche für den in der Romantik typischen Zyklus von Tag und Nacht, also somit für den Gegensatz von Aufklärung zur Romantik als Symbol steht, ermöglicht erst durch ihre Stille, die mit einer gewissen Heimlichkeit verbunden ist, den Eintritt in die Traumwelt. Das lyrische Ich sieht diesen Eintritt als sehr verlockend an (vgl. V. 3). Der „Söller“ (V. 4) steht nun im Gegensatz zu dem „Grund“ (V. 4). Der Söller bzw. Balkon steht hier als Teil eines Gebäudes, wieder für die Realität. Der Grund symbolisiert die Traumwelt, die das „du“ mit dem in Vers drei beschriebenen „hinab[…]lauschen“ betreten soll. Auffällig ist an dieser Stelle vor allem, dass der Blick des lyrischen Ichs von oben nach unten wandert, also in die raumlosen Tiefen der Traumwelt. In dieser Traumwelt werden die Bäche personifiziert (vgl. V. 5), wodurch die ebenfalls für die Romantik typische Idealisierung der Natur erkennbar wird. Unterstützt wird dieses „gehen“ (V. 5) der Bäche durch das im folgenden Vers geschriebene Adjektiv „wunderbar“, was die Traumwelt als erstrebenswert darstellt. Der „Mondenschein“ untermauert die Annahme, dass Geschehen finde in der Nacht statt. Außerdem lässt der Mondenschein die Landschaft in ein Dämmerlicht tauchen, welches von dem Romantiker aufgrund seiner Heimlichkeit bevorzugt wird. Mithilfe der Personifikation4 der sehenden Schlösser (vgl. V. 7), die in den Fluss blicken, wird ähnlich wie in Vers fünf der Wechsel von der Realität in die Traumwelt beschrieben. Auffallend in Strophe eins ist vor allem das Motiv des Wassers für die Traumwelt, da es durch seine Tiefe und seinen Fluss dieselben Eigenschaften wie eine Traumwelt aufweist. Da immer jeweils zwei Verse durch ein Enjambement gebunden werden, wird dieser Fluss auch durch das Lesen des Gedichts verdeutlicht.
Die zweite Strophe findet schließlich in der Traumwelt statt und beschreibt diese. Das lyrische Ich fragt das „du“, ob es noch die „irren Lieder / aus der alten, schönen Zeit“ (V. 9f) kenne. Die irren Lieder symbolisieren hier als nicht mit dem Verstand erfassbare, gefühlvolle Lieder einen Gegensatz zur Aufklärung. Mit der alten, schönen Zeit meint das lyrische Ich das Mittelalter, der Gegenspieler der Romantik, die Aufklärung, wird also vollkommen übersprungen. Die im Mittelalter entstandenen Weltbilder sollen nun in der Romantik wieder „erwachen“ (V. 11). Die Nacht sowie die „Waldeseinsamkeit“ (V. 12) deuten auf die Traumwelt hin. Die Einsamkeit an
sich und der Wald, der Einsamkeit gewährt, sind grundlegende Motive der Romantik, da jeder seine Traumwelt individuell bzw. einsam erlebt. Erneut wird die Natur idealisiert und personifiziert, indem „die Bäume träumend lauschen“ (V. 13). Sogar die Natur ist also in ihre Traumwelt geflüchtet und auf eine sinnliche Wahrnehmung, das Hören, fixiert. Anschließend wird die sinnliche Wahrnehmung des lyrischen Ichs durch den duftenden Flieder (vgl. V. 14) ästhetisiert. Die Behauptung, dass es „schwül“ (V. 14) sei, deutet wieder auf eine Traumwelt hin, da nachts in der Regel kein feucht-warmes Wetter herrscht. Das Ziel des lyrischen Ichs ist es nun, zu den „Nixen“ (V. 15) in den Fluss zu steigen, also schließlich eine transzendente Ebene zu erreichen. Da es im Fluss kühl ist, kann man so der schwülen Umgebung trotzen (vgl. V. 16). Man kann erkennen, dass in dieser Strophe der Blick des lyrischen Ichs, wie vorher auch, von oben, über die Bäume zum Flieder und schließlich in den Fluss wandert. Die Transzendenz als Ziel wird so also wieder verdeutlicht, wie auch durch die Enjambements5 erkennbar.
Mit vielen für die Romantik typischen verwendeten Motiven wie der Nacht und der damit verbundenen Heimlichkeit, die eine Flucht in eine persönliche, einsame Traumwelt mit einer idealisierten Natur ermöglicht, hat Eichendorff ein für die Romantik sehr typisches Gedicht verfasst. Der Inhalt sowie die äußere Form des Gedichts gehen durchgehend einher und unterstützen sich gegenseitig. Dem Leser wollte Eichendorff die Verlockung einer solchen beschriebenen Traumwelt aufzeigen und ihn von einem aufgeklärten Rationalisten zu einem romantisch denkenden Menschen werden lassen.