Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
1841 verfasste Joseph von Eichendorff das Gedicht „Ablösung”, ein Gedicht über die Schönheit und die Vergänglichkeit des Lebens. Das Gedicht gehört zur Stimmungs- und Erlebnislyrik und gehört zur Epoche der Romantik, wobei es einige Merkmale der schwarzen Romantik aufweist. Das lyrische Ich reflektiert über sein vergangenes Leben und erinnert sich an die Liebe und Freude, die es im Leben empfunden hat. Es kommt zu der Erkenntnis, dass das menschliche Leben vergänglich, die Natur jedoch unvergänglich ist.
Das lyrische Ich berichtet in den ersten drei Strophen rückblickend von seinem vorherigem Leben, das von Freude, Liebe und Glück erfüllt war. In den Strophen vier, fünf und sechs beschreibt das lyrische Ich die Leere in seinem jetzigen Leben und die Verzweiflung, die durch den Verlust der Freundschaften und sozialen Kontakte ausgelöst wurde. Die letzten drei Strophen des Gedichtes stellen den Zustand nach dem Tod des lyrischen Sprechers dar: An dem Ort, an den sich das lyrische Ich erinnert hat, befinden sich neue Menschen, die glücklich sind. Das lyrische Ich findet somit Ruhe und Trost.
Mit 9 Strophen aus jeweils 4 Versen besitzt das Gedicht einen regelmäßigen Aufbau, der die Ruhe des lyrischen Ichs am Ende des Gedichtes betont. Gleichzeitig steht diese Regelmäßigkeit im Kontrast zur Verzweiflung des lyrischen Ichs in den mittleren Strophen. Der Kreuzreim und die abwechselnden Kadenzen1 sind im gesamten Gedicht vorzuweisen und verhelfen ebenfalls zu einer regelmäßigen Struktur. Der Kreuzreim und die Kadenzen verweisen auf das Ticken einer Uhr und betonen außerdem den Herzschlag. Damit stehen der Kreuzreim und die Kadenzen bildlich für die Vergänglichkeit des Lebens und für die Liebe als wichtige Emotion im menschlichen Leben. Alle Verse unterliegen einem 3-hebigen-Jambus, der durch einen Auftakt am Anfang der Verse „eingeleitet” wird. Das Gedicht erhält dadurch eine drängende Wirkung, die den Fluss der Zeit betont. Diese Wirkung wird durch mehrere Zeilensprünge (vgl. V. 3-4, V. 5-6, V. 9-10 usw.) hervorgehoben.
Der lyrische Sprecher weist im Gedicht „Ablösung“ mehrere Besonderheiten auf, die im folgenden näher erläutert werden sollen.
In der ersten und in der letzten Strophe wird durch das Personalpronomen2 „Wir“ (V. 1 und V. 34) ein explizites lyrisches Ich angedeutet. Diese Personalpronomen „umklammern“ das Gedicht und lassen die „Wirkung“ einer geschlossenen Form des Gedichtes entstehen. Auf diese geschlossene Form wird im späteren Verlauf der Analyse eingegangen. Betont wird hier das Vorhandensein mehrerer Personen. Deutlich wird das explizite lyrische Ich in der sechsten Strophe durch die Personalpronomen „ich“ (V. 21) und „mir“ (V. 22). Durch das explizite lyrische Ich können sich die Leser in das lyrische Ich hineinversetzen. Sie werden daher zum Nachdenken angeregt.
Das Gedicht ähnelt einem inneren Monolog des lyrischen Sprechers. Dieses reflektiert über sein bisheriges Leben und über die Gegenwart. Erkennbar wird diese Reflexion anhand der verschiedenen Zeitformen im Gedicht. Die ersten drei Strophen sind im Präteritum (vgl. V. 1) verfasst. Die restlichen Strophen sind im Präsens (vgl. V. 13) und Perfekt (vgl. V. 19) geschrieben. Durch den Wechsel der Zeitformen wird erneuert auf das Vergehen der Zeit angespielt.
Das Gedicht ist in einer bildhaften Sprache verfasst, die eine besondere Funktion im Gedicht besitzt. Durch die Adjektive „gelagert“ (V. 1), „traulich“ (V. 2) und „lustig“ (V. 2) stellt das lyrische Ich in der ersten Strophe die Geborgenheit und Liebe aus seinem früheren Leben dar. Durch die Alliterationen3 „gelagert im Grünen“ (V. 1) und „grüne Gezelt“ (V. 4) wird diese Geborgenheit unterstrichen. Die Farbmetaphern4 der Farbe Grün (vgl. V. 1 und V. 4) spielen auf die Natur an und betonen mit der Metapher der „Lichter des Frühlings“ (V. 3) die Hoffnung und die Freude im Leben. Dies wird durch die Personifikation5 des Lichtes (vgl. V. 4) stärker betont. Deutlich wird in der ersten Strophe auch, dass sich das lyrische Ich in der Natur befindet. Das „Gezelt“ (V. 4) deckt das lyrische Ich von oben ab und es lässt sich vermuten, dass es sich in einem Wald befindet.
In der zweiten Strophe wird die Freude im vergangenen Leben des lyrischen Ichs durch den Neologismus6 „Frühlingsglanz“ (V. 5) aufgegriffen. Die Adjektive „still“ (V. 5) und „herzliches“ (V. 8) verweisen auf eine innere Ruhe und Entspannung des lyrischen Ichs. Die Antithese7 „auf und nieder“ (V. 5) erzeugt Dynamik und zeigt auf, dass das Leben des lyrischen Ichs früher „lebendiger“war. Sowohl „Augen und Lieder“ (V. 7), als auch „Frauen“ (V. 6) werden oft mit Emotionen in Verbindung gebracht: Augen werden im Allgemeinen als die „Tore zur Seele“ bezeichnet, Lieder sollen die inneren Gefühle zum Ausdruck bringen und Frauen werden als emotionaleres Geschlecht bezeichnet. Diese drei Aspekte verdeutlichen erneuert die Schönheit des früheren Lebens des lyrischen Ichs. Die „Augen und Lieder“ (V. 7) werden personifiziert (vgl. V. 8), womit der obige Aspekt, dass das Leben des lyrischen Ichs früher schöner war, betont wird.
Die dritte Strophe beinhaltet eine Beschreibung der Umgebung und dessen Wirkung. Die Umgebung besteht aus „Tälern und Flüssen“ (V. 9). Mit den Flüssen wird hierbei erneuert auf den Fluss der Zeit angespielt. Weiterhin ist zu ergänzen, dass es dort wo es Täler gibt, auch „Erhöhungen“ oder sogar Berge gibt. Die unregelmäßig hohe Umgebung ist damit eine Metapher für die Dynamik im Leben. Die Natur wird außerdem als ein kostbares und wertvolles „Reich“ (V. 10) dargestellt, das zudem undurchschaubar ist (vgl. V. 10). Die Adjektive „schallendes“ (V. 10) und „wirrendes“ (V. 10) reimen sich und bilden damit einen Binnenreim, der die Komplexität und Kostbarkeit der Natur betont. Das lyrische Ich deutet den Frühling als ein Zeichen der Hoffnung, des „Leben[s]“ (V. 12) und der „Liebe“ (V. 12). Diese Deutung des Frühlings wird durch die Alliteration (vgl. V. 12) und die Interjektion8 (vgl. V. 11 f) betont.
Ab der vierten Strophe wird im Gedicht ein Bruch erkennbar: Die bisher beschriebene Freude und Liebe sind nicht mehr da. Das Adjektiv „[v]erlassen“ (V. 13) und das Nomen „Stille“ (V. 16) verdeutlichen die Leere. Die „Bäume“ (V. 15) werden personifiziert (vgl. V. 14) und sind „allein“ (V. 14). Sie sind, wie die Menschen gewachsen (vgl. V. 15). Dieses Wachstum wird mit Hilfe der Alliteration „groß gewordenen“ (V. 15) unterstrichen. Mit zunehmendem Alter gehen die Freude und der Spaß aus der Kindheit und Jugend verloren und das Leben wird „ernst“ (V. 16).
Das lyrische Ich zeigt in der fünften Strophe seine starke Sehnsucht nach dem Ort, der in den ersten Strophen beschrieben wurde, auf. „[N]iemand“, (V. 18) abgesehen vom lyrischen Ich sehnt sich nach der Vergangenheit und der damit verbundenen Freude und Liebe. Die Freude und Liebe geraten mit zunehmendem Alter in Vergessenheit (vgl. V. 19). Dieser Aspekt wird durch die Metapher des „Frühling[s]“ (V. 19) verbildlicht. Die Alliteration „Kennt keiner“ (V. 20) verdeutlicht, dass sich die ehemaligen Freunde des lyrischen Ichs vergessen haben und keinen Kontakt mehr haben. Das lyrische Ich besitzt daher eine starke Sehnsucht nach diesen Freundschaften.
Die Reflexion des lyrischen Sprechers erweckt „[d]ie alten Lieder“ (V. 22) in ihm. Diese Metapher und eine Interjektion (vgl. V. 21 f) verweisen in Strophe 6 auf die Emotionalität des lyrischen Ichs hin, die durch die schönen Erinnerungen ausgelöst wird. Plötzlich hört das lyrische Ich „ein Lachen“ (V. 23) und ein „Schallen“ (V. 24). Diese Symbole stellen das Vorhandensein von Freude und Liebe heraus. Auch die Farbmetapher der Farbe Grün verweist auf die Existenz von Liebe und Leben, von denen das lyrische Ich dachte, dass sie nicht mehr existieren. Dieses Mal wird jedoch ein „Revier“ (V. 24) genannt. Die Menschen werden damit als „Diebe“ der Natur dargestellt, weil sie sich ihren eigenen Platz in der Welt erschaffen.
In Strophe sieben wird wieder eine „fröhliche“ (V. 25) Stimmung vermittelt. Der Neologismus „Herzensgrunde“ (V. 26) betont, dass schöne Erinnerungen tief im Herzen eines Menschen bleiben und nicht vergessen werden. Damit gehen auch die Freude und Liebe nie verloren. Das lyrische ich befindet sich „unter den Bäumen“ (V. 27). Die Metapher verweist darauf, dass das lyrische Ich tot in seinem Grab liegt.
In der achten Strophe berichtet das lyrische Ich davon, dass das „Haus“ (V. 30) des „Frühlings“ (V. 30) immer „[g]eöffnet bleibt“ (V. 29). Die Metapher zeigt auf, dass die Liebe nie verloren geht und dass es immer eine Möglichkeit gibt, diese zurückzuerlangen. Das Adjektiv „wechselnd“ (V. 31) und die Antithese und Alliteration „herein und heraus“ (V. 32) betonen die Dynamik und die Lebendigkeit. Nach dem Tod des lyrischen Ichs werden neue Menschen geboren. Diese sind, wie alle Menschen, „Gäste“ (V. 31) auf der Erde und müssen diese nach ihrem Leben „verlassen“, indem sie sterben.
In der letzten Strophe fasst das lyrische Ich die Kernaspekte des Gedichtes zusammen: Wenn Menschen sterben, werden zugleich neue Menschen geboren, die die Welt erneuert mit Liebe und Freude erfüllen. Die Alliteration „vorigen […] verhallen“ (V. 33) betont die Vergänglichkeit des Lebens, während die Metapher der „Lieder“ (V. 33) den Verlust von geliebten Menschen darstellt. Es entstehen „neue Gesänge“ (V. 35). Diese Metapher verbildlicht die Kostbarkeit eines jeden Menschen. Die toten Menschen gehen jedoch nicht verloren: In der letzten Strophe des Gedichtes wird von einem „blühenden Grab“ (V. 36) berichtet. Durch die Blumen auf den Gräbern bleiben Erinnerungen an die prächtige Zeit mit jenen einst geliebten Menschen. Die Metapher verdeutlicht zudem die Macht der Natur, da diese erhalten bleibt, während die Menschen sterben.
Im Gedicht wird ein Aspekt besonders deutlich: Die Anapher9 „Und“ (V. 7, V. 9, V. 21, V. 25, V. 27 und V. 35) tritt immer wieder hervor. Unter Berücksichtigung der geschlossenen Form des Gedichtes, die zu Beginn der Analyse angesprochen wurde, verdeutlicht die Anapher einen Kreislauf: Das Leben beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod. Mit jedem Tod kommt jedoch auch eine Neugeburt. Die Leben der Menschen werden mit Liebe, Freude und Glück gefüllt und erhalten damit einen unschätzbaren Wert. Über dem menschlichen Leben steht jedoch die Natur, die im Gegensatz zum Leben unvergänglich ist und für alle Ewigkeit beständig bleibt. Die Menschen sind in der Natur nur „zu Besuch“. Der Tod dient damit als „Ablösung“ (Titel des Gedichtes) vom Leben.
Das Gedicht ist der Epoche der (schwarzen) Romantik zuzuordnen und erfüllt die dafür typischen Merkmale. Darauf soll nun abschließend eingegangen werden.
Die Epoche der Romantik wird durch verschiedene Motive gekennzeichnet. Zu nennen sind bspw. Freundschaft, Liebe, Natur, Sehnsucht und Musik. Auch Einsamkeit und das Herz sind Motive der Romantik. Die schwarze Romantik enthält zusätzlich düstere Themen wie den Tod und die Todessehnsucht. Der Tod wird in dem Gedicht ebenfalls aufgegriffen.
Um die Natur, die Schöpfung Gottes zu preisen, wird diese mehrmals thematisiert (vgl. V. 15). Die Freundschaft, die Liebe und die Sehnsucht sollen die Kostbarkeit des Lebens betonen und damit aufzeigen, dass das Leben ein Geschenk Gottes ist. Diese Funktion besitzt auch das Herz als Symbol der Liebe (vgl. V. 26). Die Musik soll den Menschen Trost in ihrer Einsamkeit spenden.
Das lyrische Ich erinnert sich in seiner Einsamkeit z. B. an die „alten Lieder“ (V. 22). Der Tod als ein Motiv der schwarzen Romantik soll den Menschen an die Vergänglichkeit des Lebens erinnern.