Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Am 12. Februar 1776 verfasste Johann Wolfgang Goethe am Hang des Ettersbergs das Gedicht „Wandrers Nachtlied“. Das Gedicht kann auf verschiedenen Ebenen interpretiert werden. Auf den ersten Blick scheint es das Zwiegespräch eines Wanderers mit Gott zu sein, der sich wünscht, von seinem ständigen Treiben erlöst zu werden. Nimmt man aber Abstand vom Wandern als aktive Tätigkeit, so geht es in dem Gedicht um den allgemeinen Wunsch nach Erlösung und Erkenntnis der sich ständig auf geistiger Wanderung befindlichen Menschheit.
Das Gedicht umfasst nur eine einzige, inhaltlich aber zweigeteilte Strophe, die aus acht unterschiedlich langen Versen aufgebaut ist. Das Reimschema ist sehr gleichmäßig: Man findet insgesamt vier Kreuzreime vor, von denen allerdings zwei unreiner Art sind: „stillest –füllest“ und „müde – Friede“. Goethe verwendet durchgängig eine vierhebige trochäische Betonung, die die ruhige, fast melancholische Stimmung des Textes unterstützt. Die Verskadenz1 ist abwechselnd männlich und weiblich. Auffällig sind die Doppelungen, mit denen Goethe seine Aussageabsicht verdeutlichen will. Besonders betont werden hierdurch die Wörter „doppelt“, „ach“, Schmerz“ und „komm“. Das lyrische Ich des Gedichts ist ein Wanderer, aus dessen Perspektive Goethe sein Gedicht verfasst hat.
Im ersten Teil des Gedichts, den ersten vier Zeilen, spricht der Wanderer zu Gott. Er bezeichnet ihn als einen, „der alles Leid und Schmerzen stillet“, scheint also eine sehr positive Haltung gegenüber dem Göttlichen und einen starken Glauben zu haben. Auffällig sind schon in diesem ersten Teil die Doppelungen: „Leid und Schmerzen“ verdeutlichen und betonen hier die Qualen, die vielleicht der Wanderer selbst erleidet, die vielleicht aber einfach das Leid und die Schmerzen des Lebens im Allgemeinen darstellen sollen.
Im zweiten Teil des Gedichts kommt der Wanderer auf seine persönliche Situation und seinen Wunsch nach innerem Frieden zu sprechen, deutlich gemacht durch die Verwendung des Personalpronomens „ich“ in seinem Ausruf: „Ach, ich bin des Treibens müde!“. Die Müdigkeit des Wanderers kann man hier schon fast als Todessehnsucht auslegen. Das „Treiben“ steht an dieser Stelle für die ewige Suche des „Wanderers“ nach Erkenntnis und letztendlicher Erlösung.
Mit der anschließenden Frage: „Was soll all der Schmerz und Lust?“ wird noch einmal verdeutlicht, wie unglücklich der Wanderer mit seiner derzeitigen Situation ist. Nun ist verständlich, warum er im Folgenden ausruft: „Süßer Frieden, Komm, ach komm in meine Brust!“. Der „Süße Frieden“ ist der einzige zweihebige Trochäus im ganzen Gedicht, wodurch ihm eine ganz besondere Betonung beigemessen wird. Er steht hier für den personifizierten Tod, der die endgültige Erlösung bringt. Der Wanderer bittet ihn, in „seine Brust“ zu kommen, wo sich das Zentrum unseres Lebens, das Herz, befindet. Wenn dieses „süßer Friede“ ereilt, stirbt der Mensch.
Erst wenn man diese Aussage des Gedichts herausgearbeitet hat, wird auch die Überschrift tiefgründiger verständlich. Geht man zuerst noch davon aus, dass es sich einfach um das Nachtlied eines müden Wanderers handelt, lässt sich nun erkennen, dass es sich bei dem Wanderer eigentlich um einen Menschen handelt, der sich auf der Suche nach göttlicher Erlösung befindet – diese hat er nun so lange befolgt, dass er um ihre Erfüllung bittet und sein Nachtlied, man könnte man es auch als Abschiedslied bezeichnen, niederschreibt.
Goethe zeigt mit diesem Gedicht, wie sich jemand fühlt, der am Ende einer langen Wanderung steht, nämlich am Ende seines Lebens, und sich nach Erduldung der Höhen und Tiefen, dem „Leid und Schmerzen“ endlich die Erlösung wünscht. Dieser Wanderer, aus dessen Perspektive Goethe schreibt, vertraut sich Gott völlig an, ein starker christlicher Glaube wird in diesem Gedicht deutlich, der vielleicht auch etwas über Goethes eigene Gläubigkeit aussagt.