Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Die Epoche des Sturm und Drang, die ich als eine Art Protestbewegung gegen den Rationalismus und die poetologische Regelgläubigkeit der Aufklärung versteht, bereichert die deutsche Literatur um eine Vielzahl von Themen, die bisher nicht im Fokus der Autoren vorheriger Epochen standen. So wurde beispielsweise das Naturverständnis im Zuge des Sturm und Drangs vollkommen revolutioniert. Neben der Faszination für das Prinzip „natura naturata“, die geschaffene Natur, entwickelte sich gleichwohl die Vorstellung der „natura naturans“, der schaffenden Natur, die die schöpferische Kraft nicht nur als göttliches Wirken versteht, sondern als Gabe, der sich sowohl die Natur als auch der kreative Mensch zu bedienen vermögen. Originalität und Genialität werden besonders wichtig und sorgen für die Erkenntnis, dass der Mensch in seiner individuellen Einmaligkeit dazu fähig ist, Neues eigenmächtig zu erschaffen.
Kaum ein Autor hat diesen kreativen Geist des Sturm und Drangs mehr geprägt als Johann Wolfgang von Goethe. Die Natur thematisiert er in vielen verschiedenen Gedichten, wie beispielsweise in Ganymed, Prometheus oder in „Mit einem gemalten Band“. Auch sein 1771 verfasstes Gedicht „Maifest“ ordnet sich in diese Reihe seiner berühmten Naturgedichte ein.
Der Titel „Maifest“ besteht aus einem Kompositum, dem weder ein Artikel noch eine Präposition beigestellt ist. Diese Unbestimmtheit des Substantivs sorgt für einen unmittelbaren Einstieg ins Geschehen sowie für das Gefühl, es sei ein allgemeingültiges Ereignis, das repräsentativ für andere steht. Der erste Teil des Kompositums „Mai-“ erweckt beim Leser die Vorstellung vom Übergang des Frühlings hin zum Sommer, mit dem die Transformation der Natur einhergeht. Der zweite Teil des Titels „-fest“ konkretisiert diese Assoziationen noch und erweitert sie um die Vorstellung von Menschen, die mit Maibaum und Maifeuer das endgültige Erwachen der Natur zelebrieren. Da auf Festen Musik und Gesang keine Seltenheit sind, ist es nicht verwunderlich, dass das Gedicht als Metrum1 einen Jambus aufweist, der den musikalischen Charakter der Thematik des Titels im Gedicht aufgreift. Der Jambus sowie die regelmäßig wechselnden weiblichen und männlichen Kadenzen2 sorgen somit für einen einheitlichen Rhythmus, der trotz fehlender Eindeutigkeit im Reimschema besteht. Insgesamt besteht das Gedicht aus neun Strophen, die sich jeweils aus vier Versen zusammensetzen.
Bei jeweils drei Strophen steht ein bestimmtes Thema im Vordergrund des Gedichts, sodass sich eine Gliederung in drei Unterthemen des Inhalts ergibt. In den ersten drei Strophen wird das freudige Erleben der Natur gestaltet. Der überschwängliche Naturenthusiasmus des lyrischen Subjekts wird schon in der ersten Strophe durch viele Ausrufe deutlich. Gleichzeitig geht es in der ersten Strophe neben den Empfindungen des lyrischen Ichs um dessen Interagieren mit der Natur. In den ersten Versen wird durch den Satz „Wie herrlich leuchtet mir die Natur!“ (vgl. V. 1f.) klar, dass der lyrische Sprecher die Begebenheiten der Natur auf sich bezieht und sie als direkten Kommunikationspartner versteht. Dieser Eindruck einer Personifikation3 der Natur wird noch verstärkt in Vers 4, wo der „Flur“ durch das Verb „lachen“ eine menschliche Fähigkeit zugesprochen wird, die die Natur zu einem ebenbürtigen Begleiter macht, der dem lyrischen Ich wohlgesonnen zu sein scheint.
An dieses Bild der freundlichen und menschlichen Natur wird auch in der zweiten Strophe angeknüpft. Die Personifikation „Und tausend Stimmen/ aus dem Gesträuch“ (vgl. V. 7f.) beschreibt die Pflanzen- und Tierwelt als sehr lebendig und erweckt den Eindruck, als sei das lyrische Ich in Gesellschaft. Die Freude über dieses Aufleben der Natur im Frühsommer wird auch in der zweiten Strophe spürbar, was besonders deutlich wird durch die Nutzung wohlig wirkenden Interjektionen4 (vgl. V. 11f.f.). Zwischen Vers 11 und 12 wird hiermit eine Überleitung zu den nächsten Themen des Gedichts geschaffen. So beziehen sich die an die Interjektionen gekoppelten Substantive „O Erd´, O Sonne“ noch auf das freudige Erleben der Natur, jedoch scheinen sich „O Glück“ und besonders „O Lust“ auf die beiden anderen Bereiche des Inhalts des Gedichts zu beziehen.
Dass ab Strophe vier zunächst die göttliche Liebe im Fokus steht, verdeutlicht die Beschreibung des lyrischen Ichs, die die Liebe als „golden schön/ Wie Morgenwolken/ Auf jenen Höhn“ (vgl. V. 14f.f.) illustriert. Es wird hiermit eine topographische Einordnung der Liebe geschaffen, die durch die als überirdisch empfundene Höhe über Bergen in der Nähe der Wolken seine weltlichen Attribute verliert und die Liebe als übermenschlich erscheinen lässt. Diese göttliche Liebe wird auch in Strophe fünf weiter beschrieben. Wen das lyrische Ich mit der direkten Anrede „Du segnest herrlich“ (vgl. V. 17) meint, wird klar durch das Verb „segnen“, das seinen Ursprung eindeutig in einem religiösen Kontext findet und somit als erstes einer Fähigkeit Gottes zugeschrieben wird.
Das lyrische Subjekt erkennt den Segen Gottes als Ursache, dass alles vom „frischen Feld“ (vgl. V. 18) bis hin zur gesamten „vollen Welt“ (vgl. V. 20) von ihm erschaffen worden ist. Hier ist eines der zentralen Themen des Sturm und Drangs wiederzuerkennen:„Natura naturata“, die geschaffene Natur, für die das lyrische Subjekt stellvertretend für die Menschheit eine überschwängliche Faszination empfindet. Ein im Sturm und Drang ebenfalls relevantes Verständnis der Natur ist die „Natürlichkeit“ des Menschen. Hier gibt es damit zusammenhängend einen Umschwung im Gedicht von der göttlichen Liebe hin zur menschlichen Interaktion. Als ein natürliches und gottgegebenes Verlangen wird die weltliche, irdische Liebe betrachtet. So auch in „Maifest“ ab der sechsten Strophe, „O Mädchen, Mädchen“ (vgl. V. 21) verdeutlicht die Reinheit und Unschuld der irdischen Liebe, da das Substantiv „Mädchen“ die Assoziation von einer jungen Frau ohne Lasterhaftigkeit hervorruft.
Dass die Liebe ein natürliches und reines Gefühl ist, wird noch deutlicher in Strophe 7. Das lyrische Ich nimmt hier mittels der Analogie „Wie liebst du mich!/ So liebt die Lerche“ (vgl. V. 24 f.) einen Vergleich der menschlichen und der Liebe im Tierreich vor und schafft somit eine Einordnung des menschlichen Gefühls und erhebt die Natürlichkeit als soziale Norm. Dies evoziert die Vorstellung von der Einheitl des lyrischen Subjekts und der Natur und auch dies ist ein Teil des epochentypischen Naturverständnisses. Der Mensch und die Natur sind Eins, sie teilen ihre Liebe füreinander und für Gott, der sie beide aus einer väterlichen Güte heraus erschaffen hat.
Die Liebe, die Mensch und Natur zuteil wird, befähigt sie, sich dem Prinzip „natura naturans“, der schaffenden Natur zuzuwenden. Somit beschreibt das lyrische Ich in Strophe 8, wie ihm die Liebe „Freud´ und Mut“ (vgl. V. 32) verleiht, die es scheinbar ermächtigen, mit „neuen Liedern/ Und Tänzen“ (vgl. V. 33f.) nie da gewesene Kunst zu erschaffen. Besonders passend ist diese Interpretation, da der Sturm und Drang als eine Art Rebellenbewegung zu verstehen ist, die sich mittels der Auflehnung gegen die väterliche, als veraltet empfundene Strenge der Konventionen, neue Wege erschließt und innovative, literarische und künstlerische Werke hervorbringt.
Zusammenfassend kann man sagen, dass Goethes „Maifest“ drei verschiedene Interpretationen des Naturbegriffs zulässt und somit ein vielschichtiges Paradebeispiel für ein Naturgedicht des Sturm und Drangs ist.
Vergleich zu „Mailied“ (auch „Frühlingslied“ genannt) von Ludwig Hölty
Die Darstellung der Natur steht auch im Mittelpunkt von Höltys „Mailied“, das um 1775 in einem Sammlung seiner literarischen Werke veröffentlicht wurde. Zunächst auffallend ist die Ähnlichkeit des Titels „Mailied“ mit „Maifest“. Auch hierbei weckt der „Mai-“ die Vorstellung vom blühenden Frühling, der die Natur aufleben lässt. Der Anhang „-lied“ scheint jedoch etwas intimer, beinahe unschuldig im Kontrast zu der Vorstellung einer ausgelassenen Feier zu Ehren des Mais, die die Assoziation von „Maifest“ erzeugt. Dennoch scheinen sich beide Titel zu ergänzen, denn Lieder und Musik gehören zum gleichen Themenbereich wie Feste.
Eine weitere Ähnlichkeit beider Gedichte ist auch das Aufgreifen des musikalischen Charakters des Titels in das Metrum des Gedichts. Neben dem rhythmischen Jambus als Metrum haben beide Gedichte jedoch formal nicht viel gemein. Im Gegensatz zu Goethes „Maifest“ ist Höltys „Mailied“ durch eine einheitliche Kombination aus Paarreimen und umarmenden Reinem gekennzeichnet.
Auch in der Länge der Gedichte unterscheiden sich beide sehr. Das „Mailied“ besteht lediglich aus zwei Strophen, die sich jeweils aus sechs Versen zusammensetzen. Auffallend ist, dass die optische Trennung beider Strophen mit einer inhaltlichen Trennung zweier Themenbereiche korreliert. Die beide Themen, die jeweils in einer Strophe des „Mailied“s fokussiert werden, greifen aber dennoch auch die relevanten Inhalte von Goethes Gedicht auf.
Die erste Strophe des „Maillied“s widmet sich der Beschreibung der Natur und ihrer Veränderungen angesichts der Jahreszeit und der Witterung. Im Fokus steht hier die schaffende Natur, die es eigenmächtig vermag, ihre volle Blüte und Schönheit zu entfalten. Besonders deutlich wird das in Vers 6: „Und färbt sich täglich bunter“. Dieser Satz beschreibt eine aktive Tätigkeit, derer die Natur fähig ist. Gleichzeitig ist „bunter“ der Komparativ5 von „bunt“ und zeigt somit die Eigenschaft der Natur, sich „täglich“ (gl. V. 6) selbst zu überstreffen. Es wird in der ersten Strophe außerdem beschrieben, welche Pflanzenarten es sind, die aktiv teilnehmen an der floristischen Neugestaltung der Natur anlässlich des Frühlings. Dem gegenüber ist in Goethes „Maifest“ lediglich die Rede von dem allgemeinen Überbegriff „Blüten“ (vgl. V. 5). Der Grund liegt wohl darin, dass die Blumen in Höltys „Mailied“ bestimmte Funktionen erfüllen, denn sie geben Hinweise auf das zweite große inhaltliche Thema des Gedichts: Gott, der in seiner Güte Mensch und Natur erschaffen hat.
In der ersten Strophe werden in Vers 2 Schlüsselblumen erwähnt. Die Schlüsselblume ist ein religiöses Symbol, das für Göttlichkeit, die Mutter Gottes und eine Art „Himmelsschlüssel“ steht. Es ist also kein Zufall, dass in Vers 3 der zweiten Strophe zum ersten Mal Gott erwähnt wird. Dies ist eine thematische Parallelstruktur, die eindrücklich die enge Verknüpfung von Gott als höhere Instanz und der Göttlichkeit in der Natur verdeutlicht.
Im „Mailied“ wird der schöpferische und göttliche Aspekt also an mehreren Stellen eindeutig erwähnt, was ein elementarer Unterschied zu Goethes „Maifest“ ist, da dort lediglich Anspielungen auf Gott und sein Wirken gemacht werden, ohne ihn direkt zu benennen. Auch die Schöpfung ist im „Mailied“ genau benannt. In der zweiten Strophe ab Vers 10-11 ist auffällig, dass im Satz „Die diese Pracht/ Hervorgebracht“, das Verb „hervorgebracht“ alleine steht und dadurch beim Lesen besonders ins Auge sticht. Das Verb „Hervorbringen“ hat semantisch eine ähnliche Bedeutung wie das Verb „erschaffen“ und unterstreicht somit die von Hölty thematisierte „natura naturata“, die geschaffene Natur.
Ein weiterer Unterschied beider Gedichte liegt in der Konturierung des lyrischen Subjekts, was für verschiedene Wirkungseffekte beim Leser sorgt. So ist man in Goethes „Maifest“ mit einem lyrischen Ich konfrontiert, das durch Schildern seiner Gefühle und Empfindungen eine gut illustrierte Vorstellung von sich selbst erzeugt und dem Leser eine individuelle Identifikationsmöglichkeit bietet. Im „Mailied“ jedoch hat es der Rezipient mit einem instanzlosen Sprecher zu tun, der eine Art der Allgemeingültigkeit seiner Worte suggeriert. Der Grad der Subjektivität ist durch das lyrische Ich im „Maifest“ also sehr viel höher als im eher distanzierten „Mailied“. In Goethes Gedicht steht demnach das Individuum im Mittelpunkt, während in Höltys Gedicht die Menschen als ein Kollektiv angesprochen werden, das sich zusammensetzt aus denjenigen, denen „der Mai gefällt“ (vgl. V. 7).
Gleichzeitig konzentriert sich der instanzlose Sprecher im „Mailied“ auf die reine Faszination für die göttliche Schöpfung, was sich mittels der durchweg positiv konnotierten Wortwahl zeigt. Beispielsweise wird die Welt als „schön“ tituliert (vgl. V. 8) und die Errungenschaften der Schöpfung als „Pracht“ bezeichnet (vgl. V. 10).
All dieser Faszination des instanzlosen Sprechers folgt außerdem ein Imperativ, eine Aufforderung an die Menschen, Gott angesichts seiner als grenzenlos schön empfundenen Schöpfung zu huldigen und sich dankbar zu zeigen (vgl. V. 7 ff.). Besonders eindrücklich wird dieser Appell zu Dankbarkeit und Demut durch den Begriff „Vatergüte“, mit derer Gott die Welt erschaffen haben soll (vgl. V. 9). Der Begriff des „Vaters“ hat zum Einen einen religiösen Kontext und zum Anderen einen familiären. Das Kompositum „Vatergüte“ wirkt besonders auf emotionaler Ebene, da es Gott als allmächtige Instanz auf eine greifbarere Ebene stellt und dem Menschen näher bringt durch die Assoziation von der menschlichen Fortpflanzung und dem damit verbundenen Familienbegriff. „Gottes Vatergüte“ schafft dadurch im Gegensatz zu der alternativen Formulierung„Gottes Güte“ eine besondere Art der Verbundenheit zu den Menschen. Diese Einschätzung Gottes als relevanten Teil der menschlichen Identität ist, neben dem fehlenden auffordernder Charakter zu Demut angesichts der Schöpfung, einer der Unterschiede beider Gedichte.
Doch der elementarste Unterschied beider Gedichte liegt wohl darin, dass die weltliche Liebe, eines der zentralen Themen in „Maifest“, komplett ausgespart wird im „Mailied“. Es ist also zu verzeichnen, dass Goethe zwei Ebenen der Liebe gestaltet: Die göttliche und die irdische Ebene. Es wird klar, dass er die Liebe als Teil der Schöpfung betrachtet, die die Menschen einander nahe bringt und eine Grundlage bietet, welche den Menschen befähigt, selber als schöpferische Instanz zu wirken. Hölty hingegen bleibt in seinem „Mailied“ dem Lobpreis und der Bewunderung für die göttliche Schöpfung verhaftet. Der Mensch ist somit ein passiver Beobachter und verlässt diese Ebene nicht.
Insgesamt weisen beide Gedichte im Vergleich neben einigen Parallelen, wie den Naturenthusiasmus oder die Freude über die göttliche Schöpfung, auch einige Unterschiede auf. Somit ist Goethes „Maifest“ mit seiner Betrachtung der „natura naturans“, der schaffenden Natur als kreative Fähigkeit des individuellen Menschen, der sich Leidenschaft und Liebe als Quelle der Inspiration zu eigen macht, eindeutig einzuordnen als ein typisches Sturm-und-Drang-Gedicht. Höltys „Mailied“ hingegen deckt deutlich weniger epochentypische Aspekte des Sturm-und-Drang ab und könnte aufgrund der Frömmigkeit und gefühlsbetonten Ehrfurcht angesichts der Schöpfung thematisch eher der Epoche der Empfindsamkeit zugeordnet werden.