Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Das von Johann Wolfgang von Goethe 1771 verfasste Gedicht mit dem Titel „Mailied“ lässt sich in die rein literarische Epoche des Sturm und Drangs einordnen.
Diese Epoche gab es in ihrer spezifischen Form nur in Deutschland. Sie war eine Gegenbewegung zur Aufklärung, wandte sich daher gegen die Vernunft als Vorherrschaft und befasste sich stattdessen mit sinnlich wahrgenommenen Empfindungsbereichen des Menschen. Sie forderte den Einzelnen auf, sich gegen jede Art der Beherrschung von Außen aufzubäumen und sich selbst zu verwirklichen.
Johann Wolfgang von Goethe wurde am 28. August 1749 in Frankfurt am Main geboren und starb am 22. März 1833 in Weimar. Er gilt als bedeutendster deutscher Dichter. Goethes Werk umfasst Gedichte, Dramen und Prosa- Literatur, aber auch naturwissenschaftliche Abhandlungen.
Berthold Brecht, welcher 1928 das Gedicht „Über das Frühjahr“ schrieb, wurde am 10. Februar 1898 in Augsburg geboren und starb am 14. August 1956 in Berlin. Er gilt als einflussreichster deutscher Dramatiker und Lyriker des 20. Jahrhunderts. Seine Werke werden heute noch auf der ganzen Welt aufgeführt.
„Über das Frühjahr“ stammt aus der Zeit der Weimarer Republik. Die Literatur der Weimarer Republik war geprägt von der Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs. Außerdem beeinflussten neue Medien wie Film und Hörfunk die Literatur.
Die Novemberrevolution 1918 beziehungsweise 1919 wurde von den Schriftstellern als neuer Aufbruch verstanden, der auch zu neuen Formen in der Literatur führte. Doch der Expressionismus war noch nicht ganz vorbei. Die Autoren dieser Epoche befassten sich vor allem mit Problemen, die aufgrund der Industrialisierung aufgetreten waren, dem Krieg und der Kritik am Menschen. Die Sehnsucht nach einer harmonischen Einheit, Schwermut und Melancholie prägten oftmals die Werke dieser Literaturepoche.
Das erkennt man auch noch an dem Gedicht „Über das Frühjahr“. Im Gegensatz zum „Mailied“ betrachtet das lyrische Ich die Welt nicht träumerisch sondern eher distanziert und rational. Die Sehnsucht spiegelt sich in beiden Gedichten auf eine sehr verschiedene Weise
wieder. Im „Mailied“ ist die Stimmung des lyrischen Ichs fast überschwänglich und geprägt von Begeisterung und schwärmerischer Vorfreude, voller Sehnsucht nach dem Frühling und der Liebe, bei Brechts Gedicht eher bedrückt und voller Sehnsucht nach dem früheren Erlebnis des Frühlings.
Brecht ist bekannt als Ankläger des moralischen Verfalls. Und so klagt er in diesem Gedicht an, dass die Menschen dem Frühling in dieser Zeit zu wenig Beachtung schenken
(s. V. 15/16 „Am ehesten noch […] fällt dem Volk das Frühjahr auf.“). Vom Expressionismus beeinflusst, kritisiert der lyrische Sprecher in diesem Gedicht die bereits vorangeschrittene Zerstörung der Natur aufgrund der Industrialisierung (s. V. 12 bis 14 „Und doch sind schon lange | Nicht mehr gesichtet worden über unseren Städten | die berühmten Schwärme der Vögel“).
Im Gegensatz zu dem Gedicht des Sturm und Drang, welches aus neun Strophen zu je vier Versen besteht, liegt bei diesem Gedicht nur eine Strophe, bestehend aus insgesamt 22 Versen, vor. Man kann es allerdings in zwei Sinnabschnitte (Vers 1 bis 14 und Vers 15 bis 22) gliedern. Im ersten Teil des Gedichtes wirft der lyrische Sprecher einen Blick auf die Natur und den Menschen, indem er, sich erinnernd an bessere Zeiten, langsam vom Präteritum ins Präsens übergeht. Die ersten vier Verse, verbunden durch Enjambements1, zeigen den ursprünglichen Frühling, der durch die Industrialisierung zerstört wurde. Bevor die Industrialisierung eine Ausbeutung der Rohstoffe (s. V. 2 „Wir uns stürzten auf Erdöl, Eisen und Ammoniak“) mit sich führte, gab es noch einen „richtigen“ Frühling (s. V. 3/ 4). Die Enjambements betonen hier, wie gut sich der Frühling damals entfalten konnte. Im Gegensatz dazu, verdeutlichen die nun folgenden kurzen, wieder durch Enjambements verbundenen, Verse die bruchstückhaften Erinnerungen. In den letzten Versen des ersten Abschnitts werden die Veränderungen des Frühlings im Zusammenhang mit dem Prozess der Industrialisierung erneut thematisiert. Die Natur verliert zunehmend an Bedeutung, man liest lediglich noch in Büchern davon (s. V. 10/ 11).
Im zweiten Sinnabschnitt des Gedichtes wird deutlich, dass man die Natur durch den technischen Fortschritt nicht mehr so wahrnehmen kann, wie dass zu Goethes Zeiten möglich war. Durch die Fenster der Eisenbahn kann man die Natur zwar betrachten, aber nicht mehr
spüren. Man erlebt den Frühling nicht mehr unmittelbar (s. V. 19 bis 22). Eine zeitliche und auch eine räumliche Distanz liegen zwischen den Menschen und der Natur.
Das stellt den größten Unterschied zu Goethes Gedicht dar. Die Natur wirkt auf den lyrischen Sprecher direkt ein. Er kann sie sehen (s. V. 3 „Wie glänzt die Sonne!“), riechen (s. V. 19 „Im Blütendampfe“) und hören (s. V. 7/ 8 „Und tausend Stimmen | aus dem Gesträuch“). Wie für den Sturm und Drang typisch, wird hier ein Gefühl, die Liebe, mit Hilfe von Naturerscheinungen verbildlicht. Das lyrische Ich gibt sich seinen Empfindungen, seiner Verliebtheit hin, und überträgt diese auf seine Umwelt.
Die ersten zwei Strophen thematisieren die Natur an sich. In der dritten Strophe werden bereits Empfindungen eingebracht. Mit vielen Exklamationen (zum Beispiel s. V. 11 „O Erd, o Sonne!“) und Personifikationen3 (zum Beispiel s. V. 4 „Wie lacht die Flur!“), die den Frühling lebendig machen, drückt das lyrische Ich seine Begeisterung und Vorfreude auf die wärmere Jahreszeit aus. Dann, ab Strophe vier, beschäftigt sich der lyrische Sprecher mit seiner Liebe. Er vergleicht dieses Gefühl oftmals mit Naturerscheinungen (s. V. 15/ 16 „Wie Morgenwolken | Auf jenen Höhn!“). Man könnte sagen, dass bis zur vierten Strophe aus Liebe gesprochen wird und ab der vierten Strophe über die Liebe. In Strophe sechs spricht der lyrische Sprecher erstmals direkt das von ihm geliebte Mädchen an (s. V. 21 „O Mädchen […]“). In der nächsten Strophe wird durch eine Personifikation deutlich, dass den Lebewesen der Natur die Liebe so wichtig ist, wie ihm (s. V. 25 bis 30). So wie die Lerche die Luft und Blumen liebt, liebt das lyrische Ich das Mädchen, welches ihm „Jugend und Freud und Mut“ gibt. Das Gedicht schließt mit einem Versprechen. Der lyrische Sprecher will das Mädchen immer glücklich machen (s. V. 35/ 36).
Die Emotionalität wird in diesem Gedicht nicht zuletzt auch durch die Verwendung der Wortwiederholung von „Liebe“ verdeutlicht. Die Enjambements, wie zum Beispiel in Strophe zwei, verstärken zusätzlich den Enthusiasmus des lyrischen Ichs.
Das gesamte Gedicht ist im Unterschied zu dem Gedicht „Über das Frühjahr“ im Präsens verfasst. So erweckt es beim Leser den Eindruck, das gleiche fühlen zu können. Oft findet ein Perspektivenwechsel statt, was den Anschein weckt, alles wäre zu der Zeit von Liebe und Glück erfüllt. Das lyrische Ich in Brechts Gedicht spricht zunächst in der „Wir- Perspektive“, es grenzt sich nicht von der übrigen Bevölkerung ab. Im zweiten Sinnabschnitt jedoch distanziert es sich vom übrigen Volk.
Während beim „Mailied“ in aufbrausender, erwartender und gefühlvoller Weise gesprochen wird (s. V. 12 „O Glück, o Lust!“ und V. 13 „O Lieb, o Liebe!“), zeugt das Gedicht von Berthold Brecht eher von einer sachlichen, distanzierten und wissenschaftlichen Sprache
(s. V. 10 „lesen“ und V. 13 „gesichtet“). Hier wird der Frühling mehr auf einer Gedankenebene wahrgenommen, anstatt direkt, wie im „Mailied“. Bezüglich der Zeichensetzung kann man sagen, dass in Goethes Gedicht viel mehr Satzzeichen vorhanden sind, als in Brechts Gedicht. Das zeigt erneut, wie stark das lyrische Ich im „Mailied“ den Frühling spüren kann.
Johann Wolfgang von Goethe lebte noch ohne jeglichen technischen Wandel, er konnte die Natur, von der sich die Menschen zu Brechts Zeiten entfremdeten, noch mit ganz anderen Augen sehen.
Gemeinsam haben beide Gedichte meiner Meinung nach nur sehr wenig. Die Stimmung des lyrischen Ichs ist allerdings bei beiden in gewisser Weise sehnsüchtig, und auch in beiden Gedichten wird mit Hilfe von Naturerscheinungen, von der großen Thematik „Frühling“, etwas anderes, vielleicht das eigentliche Thema des Gedichtes, verdeutlicht. Bei „Mailied“ sind es Gefühle, bei „Über das Frühjahr“ ist es die Kritik an zeitlichen Umständen.
Einige Motive, wie „Duft“ (bei Goethe s. V. 28 „Den Himmelsduft“; bei Brecht s. V. 8 „Änderung der Luft“) und „Wind“ (bei Goethe s. V. 15/ 16 „Wie Morgenwolken | Auf jenen Höhn“; bei Brecht s. V. 19/ 20 „In großer Höhe freilich | scheinen Stürme zu gehen“) kehren ebenfalls in beiden Gedichten wieder. Bei beiden Gedichten ist außerdem von Vögeln die Rede (bei Goethe s. V. 25 „So liebt die Lerche“; bei Brecht s. V. 14 „Die berühmten Schwärme der Vögel“). Die Darstellung des Frühlings erfolgt des Weiteren bei beiden Werken über Anaphern4 (bei Goethe s. V. 22 bis 24 „Wie“; bei Brecht s. V. 18/ 19 „In“), Alliterationen5 (bei Goethe s. V. 18 „[…] frische Feld“; bei Brecht s. V. 7 „[…] Helleren Himmels […]“) und Wortwiederholungen (bei Goethe „Liebe“ in verschiedenen Flexionsformen; bei Brecht „Frühjahr“).
Abschließend kann man jedoch sagen, dass der Frühling auf sehr unterschiedliche Weise wahrgenommen wird. Das liegt meiner Meinung nach weniger an dem Unterschied, dass nur eines der beiden lyrischen Sprecher verliebt ist, sondern vielmehr an den zeitlichen Umständen der Epoche.