Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das vorliegende Gedicht „An Schwager Kronos“ wurde 1774 vom damals noch 25 Jahre jungen J.W. Goethe geschrieben. Es handelt von der Fahrt des Lebens, dargestellt durch eine Allegorie1 als Kutschfahrt durch die Schweizer Berge.
In der Tat schrieb Goethe diese Hymne nach seiner ersten Schweizfahrt, von der er sehr beeindruckt war.
Das Lyrische Ich möchte hier das Leben selbst gestalten, sich nicht mit dem Schicksal abfinden, sich nicht in den „Trott“ der bestehenden Gesellschaft einfügen und befiehlt den Göttern und Naturgewalten („Spute dich, Kronos!“, „Daß der Orcus vernehme“). Dieses Gedicht kann exemplarisch für die Zeit des Sturm und Drang gelten, da Goethe hier die Ansicht vertritt, dass jeder Mensch nach der eigenen Bestimmung suchen soll, ohne sich an Normen und Dogmen halten zu müssen. Diese Einstellung war maßgeblich von der Aufklärung angeregt und der Unzufriedenheit mit vorherrschenden Gesellschaftlichen Normen angetrieben. Ehrgeiz, Tatkraft und Gestaltungswillen werden mehr Bedeutung zugeordnet, wie im Gedicht ersichtlich wird („rasch ins Leben“ „auf denn, nicht träge denn“). Gefühl und Empfindung ordnen sich dem Streben unter („weit, hoch, herrlich der Blick rings ins Leben hinein“). Die Leidenschaft („Auf denn, nicht träge denn!“, „Strebend und hoffend hinan!“) wird angespornt. Das Gedicht weist keine einheitliche Form auf, da Reime komplett fehlen und Versmaß, Interpunktion und die Anzahl der Verse pro Strophe stark variieren. Auch häufige Enjambements2 tragen zu einer leidenschaftlichen und gedrängt ehrgeizigen Stimmung bei.
Der Titel des Gedichts macht sofort klar, an wen die folgenden Versen gerichtet sind. Der Kutscher Kronos war in der griechischen Mythologie der Gott der Zeit. Im gewissen Sinn ist das ironisch, dass Goethe gleich im ersten Vers der Zeit befiehlt schneller zu laufen. Der abrupte Einstieg durch eine direkte Ansprache, einen Imperativ, macht die neue Hierarchie des Sturm und Drang deutlich. Der Mensch möchte sein eigenes Schicksal beeinflussen und das Lyrische Ich in diesem speziellen Gedicht stört sich an der in den Versen 2 bis 7 geschilderten Situation („rasselnden Trott“, „mir vor die Stirne dein Zaudern“), eingerahmt durch die Epipher „Trott“. Diese langsame Gangart steht stellvertretend für alle Hindernisse dieses gehetzten Vorwärtsdrangs.
Es folgt eine Strophe, die den Auftakt zu der Fahrt des Lebens bildet, die in den Strophen 2 bis 5 beschrieben wird. Zunächst geht es bergauf, das Lyrische Ich und damit der Leser werden angespornt, alle Aufgaben in Angriff zu nehmen und alle Probleme zu meistern.
Es folgt nämlich sogleich die Belohnung für die harte Arbeit: „der Blick“ – ein sehr helles Wort, was die Erkenntnis zeigen soll, die er am Gipfel seines Schaffens erlangt. Die glücklich-machende Selbsterfüllung gipfelt in der Repetition von „ewig“ – einmal als „ewiger Geist“ und einmal im „ewigen Leben“. Goethe spielt hier mit dem Gedanken, dass das der Fortschritt, die Erfolge in der Erkenntnis der Natur, das Wissen des Lebens durch herausragende Persönlichkeiten getragen und von der vorhergehenden Generation an die nächste Generation weitergegeben wird. („Vom Gebirg zum
Gebirg“) Jede neue Erkenntnis wurde durch Anstrengung, Mühsal und Arbeit erlangt. Wer sich auf den Gipfel des Wissens begibt, hat den Überblick („Weit, hoch, herrlich der Blick, rings ins Leben hinein!“) Er sieht neue Wege, sieht die Leistungen Anderer mit Bewunderung und Anerkennung. („Weit, hoch, herrlich“). Er sieht, das die Erkenntnis, der Fortschritt, die Wissbegierde solange es Menschen gibt, bestehen wird („schwebet der ewige Geist, ewigen Lebens ahndevoll“). Aus vorangegangener Erkenntnis wird neues Wissen entstehen, ein Zyklus, der sich ewig wiederholen wird.
Die nächste Strophe wird wieder durch eine Bewegung dominiert, jedoch pausiert die drängende Vorwärtsbewegung einmal durch das heranfahren der Kutsche „seitwärts“ an eine Gaststätte. Der Mensch darf sich erlaben an Erfrischung, dem Weib, Alkohol und Gesundheit.
„Blick“ wird in dieser Strophe und der vorhergehenden auffallend oft wiederholt, zuletzt in Goethes Neologismus4 „Gesundheitsblick“. Das Sehen ist folglich der wichtigste Sinn in diesem Abschnitt. Dies hängt damit zusammen, dass in dem Streben nach dem vollen Auskosten des Lebens, die Augen den direktesten Zugang zu Geist und Seele darstellen. Licht spielt außerdem eine wichtige Rolle: auf oberster Ebene ist es Mittag und die Sonne steht am höchsten Punkt. Der Mensch strebt letztendlich nach der der Erfüllung des Lebens durch Arbeit und Tat, aber auch durch Liebe und Leidenschaft.
Diese Strophe erlaubt dem Menschen innezuhalten im Vorwärtsstreben, das Leben auszukosten, seine Leidenschaften auszuleben. Die Blick-Metapher5 macht den Leser aufmerksam auf die Schönheiten des Lebens.
So schnell wie es vorhin hinaufging, geht es jetzt wieder bergab. Das Lyrische Ich schaut erstaunlicherweise nicht trauernd zurück auf den Höhepunkt des Lebens, sondern treibt den Kutscher mit voller Geschwindigkeit dem Tod entgegen. Er will geradezu sterben bevor die unschönen Leiden des Alters einsetzten, eindrucksvoll beschrieben durch die schaurigen Bilder in der Strophe 5 („Entzahnte Kiefer schnattern“, „schlotternde Gebein“ „ergreifender Nebelduft“).
Sobald das Lyrische Ich dann den Tod geradezu aufruft ihn in die Hölle zu holen, wird dem Leser deutlich, dass dieser neue Mensch des Sturm und Drang noch nicht einmal vor dem Teufel Halt macht und möglicherweise den Selbstmord als Mittel zur endgültigen Selbstbestimmung und -erfüllung in Betracht zieht. Um dem Alter mit seinen Einschränkungen und Behinderungen zu entgehen, will er von seinen letzten Erfolgen sich direkt zum Tode bewegen („Trunken vom letzten Strahl“). Am Ziel, im Sieg möchte das Lyrische Ich als Held untergehen („reiß mich, ein Feuermeer mir im schäumenden Aug, mich geblendeten Taumelnden in der Hölle nächtliches Tor“) Geblendet noch vom eigenem Erfolg, der Erfüllung durch die Tat. Er möchte nicht sein Ende durch eine lange Krankheit oder das langsame Altern vor Augen haben, er möchte mitten aus dem Leben nach der Vollendung des Triumphes sterben. Aus diesen Versen spricht die Kraft und die Ungeduld der Jugend, die schnelle Entscheidungen verlangt. Wieder fällt „Aug“ und „geblendet“ auf, um zum letzten Male das wiederkehrende Thema der Sicht aufzufassen. Dass das Lyrische Ich „geblendet“ ist, impliziert, dass diese Person ein helles Licht gesehen hat und erleuchtet wurde. Die Augen schäumen, das bezieht sich auf Pferde, die nach schnellem Laufen gehetzt am Maul schäumen. Das Auge hat im Laufe des Lebens auch viel erlebt, in einem rasanten Tempo. Die Bilderflut der Erlebnisse lässt es „schäumen“.
Die abschließende Strophe kann man als Zusammenfassung und Ankündigung des Epochenwechsels verstehen. Diese neue Epoche des Sturm und Drang und die neuen besseren Menschen („wir“) werden durch das Horn angekündigt. Diese neue Generation fürchtet noch nicht mal den Teufel selbst, was möglicherweise auch den Übermut und die Überheblichkeit der Beteiligten verdeutlicht.
Steht das Gedicht deshalb dieser neuen Bewegung kritisch gegenüber? Ganz und gar nicht! Dieses Gedicht ist ein perfektes Beispiel für die neuen Werte und Vorstellungen, die der Sturm und Drang vertritt. Es wird oft als Einleitung der Epoche verstanden, ein Vorreiter, der – auch wegen der letzten Strophe - diesen Generationenwechsel voraussagt.