Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das der Epoche der Literatur der Weimarer Republik zuzuordnende Gedicht „Großer Vogel“ wurde 1935 von Joachim Ringelnatz veröffentlicht. Das Gedicht thematisiert die Verfolgung eines Individuum in einer Gesellschaft, vermutlich unter der der Nationalsozialisten.
Das zu analysierende Gedicht besteht aus einer Strophe mit elf Versen. In den ersten vier Versen ist das Reimschema ein Kreuzreim. In den folgenden Versen ist zwar ein Reimschema vorhanden, jedoch ist dieses unregelmäßig (c d e f c d e). Die fünfte Strophe reimt sich mit der neunten, die sechste mit der zehnten und die siebte reimt sich mit der letzten Strophe. Auffällig ist, dass die achte Strophe als einzige als Waise zurückbleibt.
Im folgenden werde ich den Inhalts des Gedichts beschreiben. Zunächst wird beschrieben, dass „[d]ie Nachtigall [...] eingefangen [wurde]“ (V. 1). Die beschriebene Nachtigall singt in ihrem Käfig nicht mehr (vgl. V. 2). Im dritten Vers wird beschrieben, dass „[m]an [ihr] drohte, [sie] kitzelte und lockte“ (V. 3). Jedoch sang diese trotzdem nicht, wie in Vers vier beschrieben. Daraufhin wird die Nachtigall „In [den] tiefsten Keller“ (V.5) gesperrt. In diesem Keller, obwohl sie keiner hören kann, sang sie trotzdem nicht. In den letzen beiden Versen wird berichtet, wie die Nachtigall in ihrem Keller stirbt (V. 10f).
Das Gedicht bedient sich eines interessanten strukturellen Aufbaus. Die ersten drei Verse haben einen normalen Satzbau, die vierte Strophe jedoch fällt durch ein Enjambement besonders auf (vgl. V. 4f). Durch dieses Enjambement wird der Lesefluss des Lesers gestört und das Wort „Verstockte“ (V. 4) hervorgehoben. Im folgenden, also dem fünften Vers, findet sich ebenfalls ein Enjambement.Hier wird das Verb „[e]insperrte“ (V. 6) in die nächste Zeile verschoben. Dadurch rückt nicht die Handlung des Einsperrens der Nachtigall, sondern die Beschreibung des Kellers als „tief[...]„ und „ohne Licht“ (V. 5) in den Vordergrund. Durch diese Verschiebung des Verbes wird dieses auch besonders hervorgehoben. Dieser hervorhebende Effekt wird durch den Bindestrich zwischen „Einsperrte„ und „Unbelauscht [...]“ (V. 6) hervorgehoben und schafft eine klare Trennung zwischen Versanfang und Versende. Durch diese Verschiebung stehen auch die Wörter „Unbelauscht, allein“ (V. 6) alleine. Dadurch kann ihnen eine höhere Bedeutung beigemessen werden. Des Weiteren fallen, bei genauerer Betrachtung, auch die Ellipsen1 in Vers 8 und 9 auf. Aufgrund dieser Ellipsen erregen diese Verse besondere Aufmerksamkeit und fallen dem Leser selbst bei reiner Betrachtung des Gedichtes, direkt ins Auge. Auffällig beim achten Vers ist ebenfalls, dass er als einziger Vers dieses Gedichtes als Waise dasteht und sich nicht reimt. Auch der neunte Vers erregt Aufmerksamkeit durch die Bindestriche die den Vers beenden und den Lesefluss ins Stocken geraten lassen.
Bei genauerer Betrachtung des Gedichtes fallen dem aufmerksamen Betrachter weiter Wörter ins Auge. So wird mit der Abkürzung „Gall“ (V. 4) oder der Ellipse „In tiefsten Keller ohne Licht“ (V. 5), versucht das Versmaß aufrecht zu erhalten.
Das Gedicht lässt sich als verkappte Kritik an dem nationalsozialistischen System in Deutschland erkennen, welches 1933 die Macht in Deutschland übernahm. Mit der Machtergreifung der Nazi trat ein Auftritt- und Veröffentlichungsverbot für die Gedichte des Autors Joachim Ringelnatz in Kraft.
In dem zu analysierenden Gedicht steht die Nachtigall stellvertretend für einen Sänger, Künstler, Autor o.ä der seine Kritik zum Ausdruck bringen möchte. Dieser wird eingefangen, wie in Vers beschrieben. In Gefangenschaft jedoch traut er sich, aus Angst vor Konsequenzen, nicht seine Meinung kundzugeben. Dieser wird, um ein Geständnis aus ihm herauszulocken bedroht, gefoltert und bestochen. Er hält den Torturen stand und gesteht nicht. Dann wird er in einem tiefen Keller bzw. Gefängnis eingesperrt. Dort kann ihn niemand hören und er muss keine Angst vor Konsequenzen haben, gäbe er seine Meinung kund. Jedoch tut er dies nicht und stirbt in diesem Gefängnis ohne, dass jemand seine Kritik gehört haben könnte. Das Gedicht zeigt, hinter einem animalischen Vergleich versteckt, die Methoden der Gestapo zur Zeit der Nationalsozialisten. Dies deckt sich ebenfalls mit der Entstehungszeit des Gedichtes (1935).
Im Gedicht findet eine große Wandlung statt. Diese wird durch das Enjambement in Vers 6, welches durch einen Bindestrich verdeutlicht wird, deutlich. Bevor der Autor in den „tiefsten Keller“ (V. 5) eingesperrt wird, hat er eine klare Meinung, kann diese jedoch nicht zum Ausdruck bringen, da er Angst vor dem zur Zeit herrschenden System hat. Nachdem er jedoch in den Keller gesperrt wurde, kann er zwar seine Meinung frei äußern und braucht keine Angst vor Konsequenzen zu haben, jedoch wird seine Meinung niemals gehört werden und er stirbt „klein“ (V. 10), also unbedeutend und ungehört. Dies steht in starken Kontrast mit dem Titel des Gedichtes „Großer Vogel“. Der Autor hat zwar das Potential berühmt oder ähnliches zu werden, jedoch wird dies durch die Unterdrückung durch die Nationalsozialisten verhindert.
Der vom Autor genutzte Vergleich der Nachtigall mit einem kritischen Schriftsteller o.ä in Verbindung mit der auffälligen Struktur des Gedichtes, zeigen dem Leser präzise die Lebensumstände eines kritischen Autors zur Zeit des Nationalsozialismus.
Das Gedicht gefällt mir persönlich sehr gut. Durch die Enjambement und das teilweise unregelmäßige Reimschema ist das Gedicht sehr interessant zu lesen. Durch die absichtlichen Unterbrechungen des Lesefluss durch Bindestriche oder die oben beschriebenen Enjambements2 wird der Leser dazu gezwungen, das Gedicht mit mehr Bedacht und Aufmerksamkeit zu lesen und sich dadurch auch genauer mit dem Inhalt auseinander zu setzen.