Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Irrtum“ wurde 1988 von Ulla Hahn veröffentlicht, welche 1946 in Deutschland geboren wurde und als eine der bedeutendsten Lyrikerinnen der Gegenwart gilt. Es thematisiert die Auffassung eines Paares bezüglich ihrer Liebe, welche zwar durch eine gewisse Vergänglichkeit gekennzeichnet ist, doch letztlich trotzdem bis zu ihrem Tod besteht.
Äußerlich erscheint das hier vorliegende Werk in der Form eines Sonetts mit zwei Quartetten zu Beginn und zwei Terzetten zum Ende hin. Dieser Aufbau wurde verstärkt in der Epoche des Barocks genutzt, ebenso wie das Motiv der Vergänglichkeit, welches auch in Bezug auf die vergängliche Liebe in dem Gedicht „Irrtum“ wiederzufinden ist. Vielmehr lässt es sich jedoch zusätzlich neben der Moderne der Neuen Subjektivität zuordnen, einer Epoche, die sich in den Siebzigerjahren bildete und später von Marcel Reich- Ranicki, einem der bedeutendsten deutschen Literaturkritiker, nachhaltig geprägt wurde. Im Mittelpunkt stehen hier die persönlichen Probleme im privaten Raum, wodurch sich durch diese Intimität für einen angemessenen Ausdruck eine subjektive Schreibweise besonders eignet. Anstelle politischer Überzeugungen fokussieren sich die Schriftstellerinnen und Schriftsteller so vielmehr auf individuelle Veränderungen in jedem Einzelnen.
Ein regelmäßiges Reimschema ist nicht ersichtlich, ebenso wenig wie ein durchgängig einheitliches Metrum2, welches jedoch überwiegend als Jambus gestaltet ist und männliche Kadenzen3 aufweist. Äußerst signifikant für die Gestaltung in Hahns Gedicht ist die hypotaktische Schreibweise, bei der sie lediglich fünf Satzzeichen in der gesamten Textfassung verwendet, was eine Anhäufung von Enjambements4 zur Folge hat. Somit nähert sich das Gedicht zunehmend intim an, auch vorwiegend bedingt durch den inhaltlichen Kontext, und ergreift die Leserschaft emotional, ohne jedoch dabei aufdringlich zu werden.
Die erste Strophe beginnt formal mit der Konjunktion „Und“, was darauf schließen lässt, dass sich die beiden Gesprächspartner bereits mitten in einem Dialog befinden. Inhaltlich stellt sich dabei die indirekte Rede als die eines Mannes heraus, welcher sich später als Geliebter der zweiten Protagonistin zu identifizieren gibt. Er vergleicht die Liebe „(...) mit dem Schnee“ (V. 2), wobei die Liebe hier personifiziert wird, denn sie „(…) fällt weich mitunter und auf alle aber bleibt nicht liegen“ (V. 2ff.). Im weiteren Sinne wird die Liebe quasi als menschliches Grundbedürfnis (Verweis auf den Begriff „alle“ (V. 3))dargestellt, da jeder Mensch von ihr “infiziert“ werden kann, ob dieser es will oder nicht. Dadurch wird ein Gefühl der Ohnmacht vermittelt, ähnlich einem Traum, welchem man selbst quasi ausgesetzt ist.
Zugleich spielt hier der Faktor der Vergänglichkeit stark mit, denn durch den Vergleich des Mannes mit dem Schnee wird die Endlichkeit der Liebe so symbolisiert, dass auch diese nicht für immer zwischen zwei Menschen besteht, ähnlich wie der schmelzende Schnee nicht ewig in seinem Zustand verweilt.
Als Einstieg der zweiten Strophe dient ein Parallelismus zur vorangegangenen Strophe, da sich eine starke Ähnlichkeit in ihren Formen erkennen lässt. Dem Vergleich des Mannes mit dem Schnee zur Liebe wird nun das Symbol des „Feuer(s)“ (V. 6) gegenübergestellt, welches für die unbändige Leidenschaft zweier Personen zueinander steht. Zwar bereichert das Feuer die Menschen in Form von Licht und Wärme, doch kann es als symbolisierte Liebe auch für etwas Erdrückendes und zugleich Unbändiges stehen. Im übertragenen Sinne sollten sich also zwei Menschen in einer Beziehung noch genug Luft zum Atmen lassen, bevor ihre Liebe sie erdrückt beziehungsweise das Feuer erstickt wird. Metaphorisch ausgedrückt sollte also das Feuer „(...) ausgetreten werden“ (V. 8), bevor es „(...) dich ergreift“ (V. 7).
Der Gegensatz von Schnee und Feuer kann hier jedoch im übertragenen Sinne dafür stehen, dass es in jeder Beziehung mal bessere und mal schlechtere Zeiten gibt. Die Liebe stellt also immer zugleich die Aufgabe an die Liebenden, auch in schwierigen und eher anstrengenden Phasen zueinander zu halten, damit das “Feuer in ihren Herzen“ nicht erlischt.
Von der zweiten zur dritten Strophe beziehungsweise von den Quartetten zu den Terzetten wird eine inhaltliche Zäsur5 dadurch deutlich (Verweis auf den Titel „Irrtum“, welcher den inhaltlichen Bruch hervorhebt), dass die negativen Empfindungen nun zunehmend positiven Assoziationen weichen. Die beiden Liebenden kommen sich körperlich näher, was bei ihnen beiden auf Zuneigung stößt (V. 9ff.: „(...) so griff er nach ihr sie schlugs nicht aus und blieb auch bei ihm liegen“). Die Frau muss ihren Partner also nicht so “austreten“ wie zuvor das Feuer, sondern kann stattdessen wie der Schnee bei ihm liegen bleiben. In Verbindung mit der letzten Strophe lässt sich nun deutlich der Eindruck gewinnen, dass sich ihre beiden Vorstellungen bezüglich ihrer gemeinsamen Liebe positiv verändert haben, auch wenn sie gedanklich weiterhin an „keine® Liebe“ (V. 13) festhalten wollen. Ihrem pessimistischen Grundgedanken an eine immerwährende Liebe sind sie daher trotzdem treu geblieben. Zwar empfinden sie zu dieser Zeit tiefe Gefühle füreinander, doch sehen sie beide keine positive Zukunft für ihre gemeinsame Liebe. Dafür sorgt nicht zuletzt das Symbol des „Tode(s)“ (V. 14), welches einen Kontrast zu der im Zentrum der Handlung näher thematisierten Liebe darstellt. Insgesamt zeichnen sich somit die beiden konträren Positionen ab, welche bei dem Mann durch die Vergänglichkeit und bei der Frau durch etwas Bedrohliches bestimmt wird.
Anhand dieser Ausführungen lässt sich abschließend auch mit Blick auf die Aktualität einer solchen Thematik festhalten, dass man in jeder “gesunden“ Beziehung seinem Partner/ seiner Partnerin und auch sich selbst genug Freiräume und Luft zum Atmen lassen muss, was ein normales menschliches Grundbedürfnis darstellt. Man sollte dabei immer noch sein eigenes Leben führen und sich nicht gegenseitig so sehr bedrängen, als führe man das Leben seines Partners/ seiner Partnerin. Ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen bedrängender Nähe und unzugänglicher Distanz erweist sich hier somit neben einer optimistischen Grundeinstellung als Schlüssel zum ewigen Glück und kann zugleich als Appell an die Leserschaft gedeutet werden, diese Einstellung auch in der eigenen Partnerschaft zu berücksichtigen.