Drama: Iphigenie auf Tauris (1779-1787)
Autor/in: Johann Wolfgang von GoetheEpoche: Weimarer Klassik
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Zwischen 1786 und 1805 lässt sich die wahrscheinlich bedeutendste Literaturepoche in Deutschland einordnen, die Klassik, Geprägt von der Französischen Revolution und der durch zahlreiche Entdeckungen und Erfindungen verursachten Aufbruchstimmung beeinflusste diese Zeit die deutsche Kultur erheblich. Hervorragende Werke entstanden, die über die Grenzen Deutschlands hinweg Ruhm und Ehre erlangten. Ein herausstechendes Beispiel dieser klassischen Literatur ist das Drama „Iphigenie auf Tauris“ von Johann Wolfgang von Goethe. Im Folgenden wird nun der 6. Auftritt des V. Aufzugs daraus analysiert, in dem Iphigenie, eine Priesterin der Göttin Diana, Orest, ihr Bruder, und Thoas, der König der Taurer, aufeinandertreffen.
Zu Beginn (V. 2058 - 2063) dieses Ausschnittes der Schlussszene des Dramas fordert Thoas Orest auf, mit ihm zu kämpfen, um den Konflikt zwischen ihnen zu lösen, der hauptsächlich darin besteht, dass Thoas Iphigenie nicht verlieren will und glaubt, dass Orest ein Betrüger und ein Dieb ist. Bevor es aber zu Gewalt kommt, greift Iphigenie im nächsten Sinnabschnitt (V. 2064 - 2075) ein und ermahnt den König, dass Tod und Kampf vielleicht dem Mann Ruhm bringen, den verwitweten Frauen aber unbeachtete Sorgen und Trauer. Die Priesterin fährt fort in ihrer Argumentation und versucht nun Thoas zu überzeugen, dass Orest kein Betrüger, sondern ihr Bruder ist, was sie an vielen Muttermalen und Verletzungen am Körper ihres Bruders zeigt (V. 2076 - 2094). Im darauffolgenden Abschnitt (V. 2095 - 2106) akzeptiert der König der Taurer zwar die Verwandtschaftsbeziehung, sieht aber dennoch den Plan Orests, die Statue der Göttin Diana zu rauben, als unumgängliches Hindernis für eine friedvolle Lösung. In den darauffolgenden Versen (V. 2107 - 2117) klärt aber Orest selbst auf, dass es sich hierbei um ein Missverständnis handelt. Denn als der Gott Apollo ihn beauftragte, die Schwester zu stehlen, um vom Tantalus-Fluch befreit zu werden, der auf Orest liegt, verstand der Bruder Iphigenies dies als Befehl, die Götterstatue der Diana zu holen, die ja die Schwester des Apollo ist. Nun bemerkt aber Orest dieses Missverständnis, da er eigentlich seine eigene Schwester von der Insel Tauris führen soll. Darüber hinaus (V. 2118 - 2145) bittet der Bruder Iphigenies Thoas, sie gehen zu lassen, um endlich befreit vom zermürbenden Tantalus-Fluch leben zu können. Dies bekräftigt die Priesterin Dianas nochmals im nächsten Abschnitt (V. 2146 - 2151) und bittet den König erneut, sie freizulassen. Im letzten Sinnabschnitt (V. 2152 - 2174) entlässt der König der Taurer Iphigenie wortkarg. Dies sieht die Priesterin als Widerwillen Thoas‘ an und wünscht sich von ihm eine versöhnliche Trennung und eine freundschaftliche Beziehung, auf die der König auch eingeht. Insgesamt erkennt man, dass die höchsten Sprachanteile von Iphigenie und Orest eingenommen werden, weil sie schlussendlich auch versuchen, Thoas zu überzeugen. Dieser König dagegen wird im Verlauf des Szenenausschnittes immer wortkarger, da er nichts mehr gegen die Argumente erwidern kann. Aber nicht nur inhaltlich setzt Wolfgang von Goethe bestimmte Intentionen, sondern auch in der Sprache.
So werden vor allem bei einer Sprachanalyse die rhetorischen Mittel deutlich, die die Argumentationsweisen Thoas‘ und Iphigenies besonders hervorheben. Allgemein verwenden beide Protagonisten ein hohes Sprachniveau, um überzeugend zu wirken. Zum einen wird dies durch die Verwendung vieler Partizipialkonstruktionen deutlich, wie zum Beispiel „durchgeweinten“ (V. 2072), zum anderen durch die fast durchgängigen Blankverse1, die etwas Feierliches und Pathetisches erzeugen. Darüber hinaus werden oft komplizierte Satzkonstruktionen verwendet (vgl. V. 2058 ff.). Dies alles führt zu einem hohen Sprachniveau. Zu Beginn des Szenenausschnitts wird die Verwendung von sprachlichen Mitteln besonders signifikant. So verwendet Thoas vor allem Wortfelder, die in Bezug zu Militär und Gewalt stehen. „Waffen“ (V. 2063) und „Feinde“ (V. 2062) sind nur einige Beispiele. Darüber hinaus sind Imperative und die damit verbundenen Befehle zu finden (vgl. V. 2063). Aber nicht nur solche rhetorische Mittel verwendet der König der Taurer, sondern auch die Ellipse2 „bin Bereit“ (V. 2062 f.). All diese sprachlichen Mittel drücken die Entschlossenheit Thoas‘ aus, den Konflikt mit Gewalt zu lösen. Diese Standhaftigkeit ist seine Art der Argumentation, mit der er versucht, die anderen Charaktere umzustimmen und zu überreden. Aber auch Iphigenie benutzt rhetorische Mittel, um ihre Überzeugungskraft zu verstärken und ihre Weise der Konfliktlösung als die beste darzustellen. Dazu sind Ausrufe zu finden, die zum einen Mitleid auslösen, aber gleichzeitig die anderen Personen auffordern sollen, nach ihrem Prinzip der Lösung des Problems zu verfahren. Vor allem wird die unaufhörliche Bitte Iphigenies nach einer gewaltfreien Lösung durch die häufigen Verwendung der Interjektion3 „O“ (V. 2065) und von Wörtern aus Wortfeldern, die im Bezug zur sinnlichen Seite und dem Inneren des Menschen stehen wie beispielsweise „Seele“ (V. 2073) verstärkt. Diese sprachlichen Mittel lassen Iphigenie pathetisch und gleichzeitig bemitleidenswert erscheinen. Sie will also das Innere des Menschen, das Gefühl und die Humanität ansprechen, um überzeugend zu wirken. Dies wird nochmals verstärkt durch Inversionen4, wie „Allein die Tränen“ (V. 2069), oder die rhetorischen Fragen in den Versen 2092 - 2094. Thoas bleibt dennoch unerbittlich, was sich im Parallelismus in den Versen 2095 f. zeigt, und will überzeugend wirken, indem er Orest als schlechten Menschen darstellt, was durch die Verwendung von Worten aus negativ besetzten Wortfeldern, wie „Barbaren“ (V. 2103), bewerkstelligt wird. Er setzt auch eine Akkumulation (vgl. V. 2104) ein, um die Dinge aufzuzählen, die ein Grieche und damit Orest stehlen könnte. Darüber hinaus verwendet Thoas die rhetorische Frage „Glaubt ihr, ich sehe dies gelassen an?“ (V. 2101), die wiederum die Unerbittlichkeit und Sturheit des Königs darstellt. Schlussendlich ruft Iphigenie Thoas nochmals an und bittet ihn, sie freizulassen (vgl. 2146 ff.). Diesen Wunsch verstärkt sie durch Ausrufe und Imperative, wie „Bewegen! Sieh uns an! (V. 2148). Dadurch appelliert sie nochmals an das Mitgefühl des Königs, den sie zudem durch die Metapher5 „treuen Munde“ (V. 2147) versucht zu überreden. Dieses sprachliche Mittel stellt Iphigenie und Orest als diejenigen dar, die die Wahrheit von sich geben. Zuletzt stimmt Thoas zu, die Priesterin frei zu lassen, aber mit Widerwillen. Deshalb versucht Iphigenie mit der Exclamatio „Nicht so, mein König“ (V. 2152), vielen Tautologien, wie „wert und teuer“ (V. 2155), und dem Vergleich „wie einen Gott“ (V. 2162), den König zu einer versöhnlichen Trennung zu bewegen. Das schafft sie auch, da die oben aufgeführten rhetorischen Mittel Thoas schmeicheln und auch verstärkt ermahnen, was schlussendlich, auch wieder durch die Interjektion „O“ (V. 2166), erreicht wird. Goethe verbaute aber nicht nur im Inhalt und in der Sprache Besonderheiten. Denn ein interessanter Aspekt dieses Szenenausschnitts ist die Einordnung in die Klassik.
Die Literaturepoche der Klassik ist vor allem durch ein Kennzeichen geprägt, nämlich dem ständigen Streben nach dem deutschen Idealzustand. Das heißt, dass „das Schöne“ bewahrt werden soll, Harmonie an oberster Stelle steht und natürlich Humanität ausgelebt werden muss. Das Zitat aus Goethes Gedicht „Das Göttliche“ „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ beschreibt das Idealbild des Menschen in der Klassik sehr gut. Klassische Schriftsteller sahen diese Vollkommenheit vor allem in der Antike verwirklicht, sodass in vielen Werken Bezug zu dieser Zeit genommen wird. So auch in „Iphigenie auf Tauris“. Die ganze Handlung dieses Dramas basiert auf der griechischen Tragödie „Iphigenie bei den Taurern“ von Euripides, von der sich Goethe hat inspirieren lassen. Dies ist wohl das erste Merkmal, das diesen Szenenausschnitt als einen klassischen charakterisiert. Aber nicht nur dies spricht für eine Einordnung in die Klassik, sondern auch die Protagonistin Iphigenie. Sie symbolisiert nahezu das Idealbild der Klassik. Denn sie ist eine selbstbewusste, emanzipierte Frau, die ihre Individualität und Persönlichkeit voll und ganz auslebt. Iphigenie ein freiheitsliebender Mensch, der sich nicht unterkriegen lässt. Dies erkennt man an den ständigen Überzeugungsversuchen der Priesterin, mit denen sie versucht Thoas davon zu überzeugen, sie gehen zu lassen (vgl. V. 2146 ff.). Ein weiteres wichtiges Merkmal, das Iphigenie als eine klassische Figur darstellt, ist die Harmonie, die die Protagonistin in sich trägt. Denn klassische Charaktere können ihre Pflichten und ihre Vernunft mit ihrem Gefühl verbinden, sodass einheitliche Persönlichkeiten entstehen, die ausgeglichen sind. Dieses Merkmal, die Harmonie, ist ein wichtiges Kennzeichen dafür, dass dieser Szenenausschnitt klassisch ist. Ein weiteres Indiz für diese Hypothese ist der Fakt, dass Iphigenie eine wahrheitsliebende Person ist, die immer versucht, das Richtige zu sagen und nicht zu lügen. Diese Eigenschaft erkennt man deutlich daran, dass die Priesterin ihr Geheimnis über Orest nicht verbirgt, sondern Thoas offenbart. Diese Charaktereigenschaft Iphigenies weist ganz ausführlich auf ihre Vollkommenheit hin, die wieder ein Merkmal für die Klassik ist. Gleichzeitig zeigt sich anhand dieser Wahrheitsliebe ein weiteres Kennzeichen ihrer Persönlichkeit. Denn durch die Offenbarung der Wahrheit zeigt Iphigenie, dass sie versucht, eine gewaltfreie Lösung des Konflikts zu finden. Die Priesterin lehnt also jegliche Gewalt ab (vgl. V. 2064) und ermahnt den König Thoas sogar „die Hand vom Schwerte“ (V. 2065 f.) zu lassen. Dadurch wird die Abneigung gegenüber Gewalt und Tod deutlich ausgedrückt und das Streben nach Friedfertigkeit verstärkt dargestellt. Wegen dieser Eigenschaft Iphigenies kann man klar erkennen, dass diese die Naturrechte oder Menschenrechte wahrt und auch auf einen Idealzustand in der Gesellschaft hinarbeitet. Sie will also den Menschen zu einem besseren Leben bewegen. All dies lässt die Priesterin als eine Verkörperung der Humanität darstellen. Iphigenie erfüllt also das Humanitätsideal der Klassik komplett. So lässt sich kein Zweifel daran erbringen, dass dieser Ausschnitt aus einer Szene des Dramas „Iphigenie auf Tauris“ klassisch ist.
Aber auch wenn Iphigenie das Humanitätsideal vollkommen erfüllt und nahezu ein Symbol für die Vollkommenheit moralischer Werte ist, sollte dennoch im Hinterkopf behalten werden, dass klassische Literatur vor allem eines will, nämlich die Gesellschaft erziehen. So ist es klar, dass Iphigenie kein realer Mensch ist, noch sein kann. Dieser Charakter ist Utopie, mit der Goethe versucht, die Menschheit zu einem Idealzustand zu bewegen. Hierbei muss man aber immer bedenken, dass die Menschen solche Vollkommenheit nie erreichen werden. Denn wie es so schön in einem lateinischen Sprichwort heißt: „Errare humanum est!“.
Iucundi acti labores - Cicero