Drama: Iphigenie auf Tauris (1779-1787)
Autor/in: Johann Wolfgang von GoetheEpoche: Weimarer Klassik
Erschließung
„Iphigenie auf Tauris“ von Johann Wolfgang Goethe gilt als eines der Vorzeigedramen der Epoche der Klassik. Der Entstehungszeitraum von 1779 – 1786 kann als Übergang des Sturm und Drangs in die Klassik gesehen werden. Der Aufbau des Stückes entspricht der strengen aristotelischen Dramentheorie. Neben dem Metrum1 und der klassischen Aufteilung in fünf Akte wird dies auch deutlich, da es sich an die „drei Einheiten“ der strengen, von Johann Christoph Gottsched, geprägten Regelpoetik hält. Diese sieht vor, dass Dramen auf einen Handlungsstrang ohne Orts- und Zeitsprünge beschränkt sein sollen.
Doch auch das zentrale Thema, der Innere Konflikt Iphigenies, ist typisch für die Epoche der Klassik. Dieser besteht in ihrer Zerrissenheit zwischen Pflicht und Familie. Auf der einen Seite möchte sie zurück nach Griechenland und hat, als Orest und Pylades auftauchen, auch die Möglichkeit dazu. Das würde allerdings bedeuten, dass sie König Thoas, der ihr wie ein zweiter Vater geworden ist, hintergehen müsste.
Ebenfalls bezeichnend für die Klassik ist, dass sie es schafft, dieses Dilemma gewaltfrei zu lösen. Goethe verdeutlicht hier anhand des Hauptcharakters das Humanitätsideal der „schönen Seele“.
Die vorliegende dritte Szene des fünften Aktes kann dem retardierenden Moment zugeordnet werden, da sie hier den Fluchtplan an König Thoas verrät und somit ihr eigenes Schicksal und das ihres Bruders und dessen Freund Pylades in die Hände eines Barbaren legt. Dies tut sie, da sie es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren kann, in einen Betrug verwickelt zu sein.
Iphigenie wehrt sich gegen die ihr auferlegte Opferung der beiden Ankömmlinge Orest und Pylades. Aufgrund dessen vermutet Thoas eine Verbindung zwischen Iphigenie und den Gefangenen und als er sie damit konfrontiert, gesteht sie, dass es sich bei einem der Gefangenen um ihren Bruder handelt. Zudem verrät sie ihm von dem Fluchtplan, der bereits im Gange ist. Sie appelliert nun heftig an die Menschlichkeit Thoas´ und führt Argumente an, die ihn überzeugen sollen. Außerdem erinnert sie ihn an sein gegebenes Versprechen, sie gehen zu lassen, wenn eine Rückkehr in die Heimat möglich sei. Thoas selbst ist nun hin- und hergerissen und berichtet von seinem Dilemma. Am Ende der Szene kommt es zu einer dynamisch wechselnden Konversation, in welcher Thoas seine Bedenken offen ausspricht, während Iphigenie weiterhin versucht ihn zu überzeugen.
Die Szene endet offen, da man nicht erfährt, wie sich Thoas entscheidet.
In der dritten Szene des fünften Aktes kommt es zum Dialog zwischen Iphigenie und Thoas. Gleich zu Beginn verrät sie, dass sie die Gefangenen für Griechen halte (vgl. V. 1889). Das tut sie allerdings stotternd, was darauf schließen lässt, dass sie wohl immer noch zwischen Lüge und Wahrheit schwankt. Thoas konfrontiert sie daraufhin mit der Frage, ob sie an eine Flucht in die Heimat denke (vgl. V. 1891). Er wirkt dabei etwas verletzt, da sie ihn, der sie aufgenommen und gut behandelt hat, damit betrügen würde.
Daraufhin beginnt Iphigenie etwas betreten, da sie zuerst noch schweigt (vgl. V. 1892) einen langen Monolog, indem sie zuerst beklagt, dass Frauen keinerlei Möglichkeiten haben sich „ihres angeborenen Rechts [zu] entäußern“ (V. 1909), da Schwert und List den Männern vorbehalten seien (vgl. V. 1893 ff.). Schließlich entscheidet sie sich dazu, den Flugplan zu verraten und berichtet, dass es sich bei den Gefangenen nicht nur um Griechen, sondern um ihren Bruder Orest und dessen Freund Pylades handelt (vgl. V. 1925 ff.). Sie legt damit das Schicksal aller in Thoas´ Hand und appelliert an dessen Menschlichkeit. Thoas antwortet sehr zynisch und ironisch, indem er sie fragt, ob denn er als „rohe® Skythe [und] […] Barbar“ (V. 1937) überhaupt menschlicher als der Grieche Atreus handeln könne. Er macht sich damit über das griechische Volk lustig, welches sich als überlegen und zivilisierter als andere angesehen hat.
Iphigenie versucht ihn weiterhin zu überzeugen und bereut nun auch, dass sie den Plan „übereilt“ (V. 1947) verraten habe (vgl. V. 1940 ff.). Thoas bezeichnet im Folgenden Orest und Pylades als Betrüger und behauptet, dass sie Iphigenies Naivität ausgenutzt haben, um sie zur Flucht zu drängen (vgl. V. 1953 ff.). Sie fällt ihm daraufhin unter Verwendung einer Antilabe hastig und entschlossen ins Wort und widerspricht ihm. Ein weiteres Mal appelliert Iphigenie an Thoas Menschlichkeit (vgl. V. 1963 ff.), doch erinnert ihn nun auch an sein Versprechen, sie gehen zu lassen, wenn ihr die „Rückkehr zubereitet wäre“ (V. 1971). Thoas ist nun hin- und hergerissen und äußert sein Dilemma (vgl. V. 1979 ff.). In der abschließenden stichomythischen Diskussion gesteht Thoas seine Zweifel, während Iphigenie versucht ihm diese zu nehmen (vgl. V. 1986 ff.). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Iphigenie insgesamt sehr selbstbewusst auftritt und von den reinen Sprechanteilen deutlich überwiegt. Jedoch ist sie auch in der Rolle des Bittstellers, wodurch Thoas eine bessere Ausgangslage hat, da sie etwas von ihm will und ihr Schicksal mit dem Verraten des Plans vollständig in seine Hand gelegt hat. Dadurch, dass Iphigenie am Ende jedoch eine Unentschlossenheit in Thoas hervorruft, wird deutlich, dass ihre Bitten nicht umsonst waren und dass Thoas kein wirklich grausamer Barbar und Tyrann ist, da ihr Appellieren an seine Menschlichkeit durchaus Wirkung gezeigt hat.
Zur allgemeinen sprachlichen Gestaltung dieser Szene ist zu sagen, dass sie das Metrum und die Versform des klassischen Dramas aufweist. Sie unterliegt einem fünfhebigen Jambus und zeigt die reimlose Form des Blankverses. Zudem ist das gesamte Stück in einer sehr bildhaften und antikisierten Sprache verfasst.
Thoas verwendet in dieser Szene mehrmals das Mittel der rhetorischen Frage (vgl. V. 1890/1891/1937 ff.). Er zeigt damit seine dominante Position und drängt, vor allem als er die zynische Frage in Vers 1937 ff. stellt, Iphigenie weiter in die Rolle des Bittstellers. Außerdem verwendet er gleich zu Beginn eine Inversion3 (vgl. V. 1891), um Iphigenie mit ihrem Wunsch der Rückkehr zu konfrontieren. Dadurch drückt er gleichzeitig auch seine Enttäuschung darüber aus.
Iphigenies erster langer Sprechabschnitt ist ebenfalls von rhetorischen Fragen durchzogen (vgl. V. 1894/1895/1996/1998 ff./1904). Damit stellt sie in Frage und kritisiert, dass sich nur Männer zu Helden aufschwingen und im Gegensatz zu Frauen ihre Meinung und ihr Recht durch „das Schwert“ (V. 1911) verteidigen können. Das Schwert ist hier selbstredend als Symbol für Gewalt und Kampf zu verstehen.
Ihre Kritik wird neben den vielen rhetorischen Fragen auch durch die Verwendung von Anaphern4 verstärkt (vgl. V. 1895/1898/1904 f.). Vor allem durch die ständige Wiederholung des Wortes „der“ (vgl. V. 1898/1904 ff.) verdeutlicht sie noch einmal, dass es sich bei Helden immer nur um Männer handelt.
Zudem finden sich der Szene noch zwei rhetorische Mittel, die Dynamik in diese bringen und ihrer Dramatisierung dienen. Eines davon ist die Antilabe (vgl. V. 1936/1939/1956). Hier kommt es zum Wechsel des Sprechenden im Vers, was die einzelnen Standpunkte verdeutlicht und auf eine hitzige Konversation hinweist. Dies wird vor allem in Vers 1956 deutlich, als Iphigenie entschlossen und Thoas unterbrechend darauf besteht, dass es sich bei den Gefangenen nicht um Betrüger, sondern um ehrwürdige Männer handelt (vgl. V. 1956 ff.). Zum Schluss der Szene findet sich eine Stichomythie (vgl. V. 1986 ff.), in welcher Thoas seine Bedenken äußert und Iphigenie zugesteht, dass sie eine humanisierende Wirkung auf ihn hat (vgl. V. 1986). Iphigenie versucht ihn hier noch einmal vehement zu überzeugen, ihr die Rückkehr mit ihrem Bruder und dessen Freund zu gewähren.
Eigentlich scheint es, dass dieses Stück seinen Ausgang in der glücklichen Flucht Iphigenies zusammen mit ihrem Bruder und dessen Gefährten Pylades nehmen wird. Doch durch ihre Entscheidung, Thoas den Plan anzuvertrauen, wird eben diese massiv gefährdet. Nun läuft das Ende eher auf eine Katastrophe zu, die jedoch im letzten Moment durch Iphigenies Einschreiten verhindert werden kann.
Dadurch, dass es neben dem inneren Konflikt Iphigenies und ihrer persönlichen Vorstellung von Moral nichts gibt, das den Plan gefährden könnte, wird eben dieser zum zentralen Thema und gewinnt an Bedeutung. Für viele Leser wirkt Iphigenie im ersten Moment sehr naiv und leichtgläubig. Jedoch zeigt Goethe durch den Verlauf des Dramas, dass der Konflikt durch ihre aufrichtige und alles andere als hinterlistige Art friedlich gelöst wird und Iphigenie am Ende mit sich selbst im Reinen bleibt. Dies zeigt auch einen Unterschied des Menschbilds der Klassik im Vergleich zu dem Ideal der frühen Aufklärung. Anstatt, wie es die Aufklärer und vor allem Kant predigten, nur rational zu handeln und jede persönliche Neigung bei dem Treffen von Entscheidungen zu verbannen, da dies den Menschen unfrei mache, findet Iphigenie einen Mittelweg, beide Extrema zu vereinen. Neben der Verpflichtung Thoas und der taurischen Bevölkerung gegenüber und der Neigung zur Rückkehr in die Heimat, verstärkt auch ihre persönliche Moralvorstellung den Konflikt.
Als sie Thoas den Plan verrät, geht sie damit ihrem Gefühl und schlechten Gewissen nach, gefährdet dadurch aber gleichzeitig ihr eigenes Leben, sowie das ihres Bruders und dessen Freund. Diese Handlung kann daher als überaus irrational angesehen werden. Am Ende löst sich der Konflikt jedoch friedlich. Goethe zeigt, dass Iphigenies Weg der Richtige war und kreiert einen Charakter nach Schillers Definition der „schönen Seele“, da es Iphigenie geschafft hat aus ihrer Neigung heraus die richtige Entscheidung zu treffen.
Ein weiteres Werk in welchem das Motiv des Betrugs behandelt wird, ist das bürgerliche Trauerspiel „Kabale und Liebe“ von Friedrich Schiller. In diesem geht es um die Liebe zwischen der bürgerlichen Luise und dem adeligen Ferdinand, der der Sohn des Präsidenten ist. Beide Väter sind dieser Beziehung abgeneigt. Der Vater Luises auf Grund der Angst vor scheinbar unüberwindbaren Standesgrenzen und der Präsident, da er nicht will, dass sein Sohn ein Bürgerliche heiratet. Stattdessen soll er Lady Milford, die ehemalige Mätresse des Fürsten, heiraten. Als der Präsident im Laufe des Dramas das Ausmaß der Liebe Ferdinands erkennt, schmiedet er eine Intrige, um die Beziehung zu beenden. Er nutzt dabei den aufbrausenden Charakter seines Sohnes aus. Luises Eltern werden gefangen genommen und vom hinterlistigen Sekretär des Präsidenten als Druckmittel benutzt. Er zwingt Luise einen Liebesbrief an den Hofmarschall von Kalb zu schreiben, welcher Ferdinand anschließend zugespielt werden soll. Als dieser ihn findet und liest, geht er zuerst auf von Kalb los und will sich duellieren. Aufgrund seiner aufbrausenden Art erkennt er die Intrige nicht, obwohl von Kalb sie gesteht. Anschließend vergiftet er Luise und sich selbst. Um die Tragödie perfekt zu machen, wird der Betrug nach dem Trinken des Gifts von beiden erkannt. Diese Erkenntnis kommt jedoch zu spät, und sie sterben.
Dieses Drama stammt aus der Epoche des Sturm und Drangs, wodurch es deutliche Unterschiede zu Goethes klassischem Drama „Iphigenie auf Tauris“ aufweist. Es endet in einer Tragödie mit dem Tod beider Protagonisten und ist deutlich emotionaler. Zusätzlich, obwohl die Intrige öfters hätte erkannt werden und das Unglück dadurch abgewiesen werden können, ist dies auf Grund der aufbrausenden und voreiligen Art Ferdinands nicht geschehen. Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass in Goethes klassischem Drama die Protagonistin einen friedvollen und besonnenen Weg zur erfolgreichen Konfliktlösung verfolgt, während in Schillers Drama die, im Charakter des Ferdinand manifestierte, Idee des „Originalgenies“ scheitert.
Goethe selbst bezeichnete sein Stück rückblickend als „verteufelt human“. Und damit hat er wohl recht. Doch auch wenn die schlussendliche Konfliktlösung durch Iphigenie utopisch wirkt, arbeitet er anhand des Hauptcharakters überzeitliche Tugenden und eine sehr wohl anzustrebende Art der gewaltfreien Konfliktlösung heraus. Dies kann unter anderem mit dem Kunstbegriff der Klassik in Verbindung gebracht werden, der von Joachim Winckelmanns „edler Einfalt und stiller Größe“ geprägt war. Er beschreibt die Aufgabe eines Künstlers mit seinen Werken überzeitliche Prinzipien oder Tugenden herauszuarbeiten.
Des Weiteren kann Iphigenie als eine Art Spiegel der Gesellschaftsentwicklung im 18. Jahrhundert gesehen werden. Es werden deutlich aufklärerische Merkmale und Denkweisen in das Stück eingearbeitet. Hier ist vor allem die Lösung Iphigenies aus der Fremdbestimmung zu nennen. Er spielt damit auf die Forderung nach moralischer Autonomie und individueller Freiheit des Bürgertums im frühen 18. Jahrhundert an. Dieses versuchte sich bewusst aus der Kontrolle durch Klerus und Adel zu befreien und sich von deren Moralvorstellungen und Habitus zu distanzieren, was Goethe durch die Unterschiede zu Euripides´ antiker Vorlage „Iphigenie bei den Tauriern“ verdeutlicht. Denn anders als bei dieser, gelingt Iphigenie die Emanzipation aus der Fremdbestimmung durch Männer und Götter und sie schafft es durch eigenständiges und friedvolles Handeln sowohl ihren eigenen Konflikt als auch die sich andeutende Katastrophe zu lösen. Hiermit erzeugt Goethe einen starken Kontrast zum antiken Werk, in welchem das blutige Ende nur durch göttliches Einschreiten abgewendet werden konnte und Iphigenie somit fremdbestimmt blieb.