Gedicht: Alle Tage (1952)
Autor/in: Ingeborg BachmannEpoche: Nachkriegsliteratur / Trümmerliteratur
Strophen: 3, Verse: 20
Verse pro Strophe: 1-8, 2-6, 3-6
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt und kann daher nicht angezeigt werden.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt und kann daher nicht angezeigt werden.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
In ihrem 1952 in einer Rundfunksendung erstveröffentlichten, 1953 erstmals im Druck erschienenen Gedicht „Alle Tage“ reflektiert die österreichische Dichterin Ingeborg Bachmann (1926-1973) das weltpolitische Klima in der Zeit des „Kalten Krieges“ und wirbt aus einer pazifistischen Haltung für passiven Widerstand gegen die Logik des Wettrüstens und der militärischen Abschreckung.
Die Form des Gedichts ist geprägt von freien Versen unterschiedlicher Länge und ohne Endreime. Gegliedert ist es in drei Strophen, von denen die erste acht Verse, die zweite und dritte jeweils sechs Verse umfasst.
Die erste Strophe beginnt mit der Feststellung „Der Krieg wird nicht mehr erklärt, / sondern fortgesetzt“ (V. 1f.). Die Formulierung „Der Krieg wird nicht mehr erklärt“ ist bewusst doppeldeutig: Einerseits verweist sie darauf, dass Kriege nach klassischem Völkerrecht durch eine formelle Kriegserklärung eröffnet wurden; der zur Entstehungszeit des Gedichts aktuelle Koreakrieg (1950-53) war jedoch ohne Kriegserklärung begonnen worden, ebenso wie schon der deutsche Angriff auf Polen 1939 und auf die Sowjetunion 1941. Andererseits bedeutet das Verb „erklären“ im allgemeinen Sprachgebrauch auch soviel wie „verständlich machen“; der Satz kann also auch so verstanden werden, dass der Öffentlichkeit nicht mehr erklärt wird, warum Krieg geführt wird. Die Doppeldeutigkeit der Formulierung ist ein erstes Beispiel für die Methode der Verfasserin, die Sprache des Militärs und der Kriegspropaganda durch eine der Gewohnheit widersprechende Verwendung von Begriffen zu dekonstruieren; darauf wird im Folgenden noch zurückzukommen sein.
„Erklärt“ wird der Krieg übrigens auch im Gedicht selbst nicht: Auf konkrete politische oder ideologische Hintergründe des aktuellen Weltgeschehens wird nicht ansatzweise eingegangen. Der Krieg erscheint als eine allgegenwärtige Realität, nach Gründen wird nicht gefragt. Dieser Wahrnehmung entspricht die Aussage des Gedichts, der Krieg werde einfach „fortgesetzt“: Der „Kalte Krieg“ zwischen Ost und West erscheint als eine unmittelbare Fortsetzung des nur wenige Jahre zurückliegenden Zweiten Weltkriegs – eine Einschätzung, die sich durchaus begründen ließe, über die im Gedicht aber nicht näher reflektiert wird.
Der weitere Verlauf der ersten Strophe wird von Enjambements1 bestimmt, bei denen jeweils das Subjekt des Satzes durch den Zeilenumbruch von der Satzaussage abgetrennt wird: „Das Unerhörte / ist alltäglich geworden. Der Held / bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache / ist in die Feuerzonen gerückt.“ (V. 2-5) Dieses Stilmittel lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Paradoxie dieser Sätze – eine Paradoxie, die ihrerseits wiederum die Absurdität des permanenten Kriegszustands hervorheben soll. Der Satz „Das Unerhörte / ist alltäglich geworden“ korrespondiert mit dem Titel des Gedichts und hebt anklagend hervor, dass der unerklärte, aber fortgesetzte Kriegszustand die Menschen dazu bringe, sich an etwas zu gewöhnen, woran sie sich eigentlich nicht gewöhnen dürften; man kann sagen, das gesamte Gedicht ziele darauf ab, die Leser oder Hörer aus dieser falschen Gewohnheit aufzurütteln. Der Satz „Der Held / bleibt den Kämpfen fern“ kann wiederum als doppeldeutig aufgefasst werden: Einerseits kann die Aussage dahingehend verstanden werden, dass die modernen Methoden gewissermaßen „industrieller“ Kriegsführung („Materialschlachten“, Flächenbombardements, Massenvernichtungswaffen) für individuelles Heldentum keinen Platz mehr lassen; andererseits kann man, gerade im Kontext der noch folgenden Verse und Strophen, darin die pazifistische Aussage erkennen, der eigentliche Held sei derjenige, der sich dafür entscheide, nicht zu kämpfen. Die Aussage „Der Schwache / ist in die Feuerzonen gerückt“ verweist darauf, dass – wie bereits die Endphase des zweiten Weltkriegs deutlich gemacht hat – die Art der Kriegsführung sich zunehmend gegen die wehrlose Zivilbevölkerung richtet.
Die letzten drei Verse der ersten Strophe leiten inhaltlich zur zweiten und dritten Strophe über. Hier werden Begriffe aus dem militärischen Bereich metaphorisch verwendet und auf die Situation der Zivilbevölkerung angewandt: „Die Uniform2 des Tages ist die Geduld, / die Auszeichnung der armselige Stern / der Hoffnung über dem Herzen.“ (V. 6ff.) Die zuvor angesprochenen „Schwachen“, die „in die Feuerzonen gerückt“ sind, werden hier als eine Art Armee dargestellt – allerdings als eine, die nicht kämpft, sondern die Zustände lediglich erträgt. Zu beachten ist dabei, dass eine „Uniform“, dem Wortsinne nach, eine Kleidung ist, die alle, die sie tragen, einander gleich macht, während die „Auszeichnung“ das ist, was einige Wenige wiederum aus der großen Masse der Gleichen heraushebt. „Geduld“ wäre demnach das, was im Zeichen der permanenten Bedrohung durch den „Kalten Krieg“ Alle haben müssen, während „Hoffnung“ das ist, was einige Wenige besonders auszeichnet. Gleichwohl wird diese Hoffnung als „armselig“ gekennzeichnet: Sie ist nicht viel wert, heißt das offenbar – aber sie ist das Einzige, was die Menschen noch haben.
Dieser metaphorische „Stern der Hoffnung“ wird in der zweiten und dritten Strophe näher beschrieben. Die beiden Strophen sind parallel aufgebaut: Beide beginnen mit dem Vers „Er wird verliehen“ (V. 9 u. 15), jeweils gefolgt von einer Aufzählung, die durch das Stilmittel der Anapher3 hervorgehoben wird (V. 10-12 „wenn“, V. 16-18 „für“). Die zweite Strophe beschreibt somit die Situation, in der der als Orden verstandene „Stern der Hoffnung“ „verliehen“ wird, und die dritte Strophe die besonderen Verdienste bzw. Leistungen, für die man diese Auszeichnung erhält.
Die Situation, in der man den „Stern der Hoffnung“ als „Auszeichnung“ erhält, ist nach den Worten des Gedichts dann gegeben, „wenn nichts mehr geschieht, / wenn das Trommelfeuer verstummt, / wenn der Feind unsichtbar geworden ist / und der Schatten ewiger Rüstung den Himmel bedeckt“ (V. 10-14). Der Stillstand – „wenn nichts mehr geschieht“ – wird als bedrohlich geschildert: In Europa hatte es – anders als etwa in Korea oder in Vietnam – seit dem Waffenstillstand vom Mai 1945 zwar keine Kampfhandlungen mehr gegeben („das Trommelfeuer“ war also „verstummt“), aber angesichts des schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs massiv hervorgetretenen Ost-West-Konflikts eben auch keinen wirklichen Frieden. Zudem schürte die Aufrüstung mit atomaren Massenvernichtungswaffen – „der Schatten ewiger Rüstung“ – die Angst vor einer völligen Vernichtung des Lebens auf der Erde.
In der Aufzählung der besonderen Verdienste, für die der „Stern der Hoffnung“ verliehen wird, paraphrasiert die Verfasserin militärische Begriffe und stellt dabei deren Bedeutung auf dem Kopf: Aus „Fahnenflucht“ wird „Flucht von den Fahnen“ (V. 16), aus „Feigheit vor dem Feind“ „Tapferkeit vor dem Freund“ (V. 17), aus „Geheimnisverrat“ „der Verrat unwürdiger Geheimnisse“ (V. 18) und aus „Befehlsverweigerung“ „die Nichtachtung / jeglichen Befehls“ (V. 19f.). Tatbestände, die nach militärischem Recht, vor allem in Kriegszeiten, schwer und zum Teil mit dem Tode bestraft werden, erscheinen aus pazifistischer Sicht als lobens- und belohnenswerte Heldentaten. Bemerkenswert ist besonders die „Tapferkeit vor dem Freund“: Wird nicht der politisch-ideologische Gegner, sondern vielmehr der Krieg selbst als der Feind aufgefasst, den es zu bekämpfen gilt, dann wird der Soldat der Gegenseite, der seinerseits auch nur ein Opfer des Krieges ist, zum „Freund“ – und diesen nicht töten zu wollen, ist dementsprechend tatsächlich nicht „feige“, sondern im Gegenteil „tapfer“. Ebenso werden „Geheimnisse“, die nur der Kriegsführung dienen, als „unwürdig“ eingeschätzt. Schließlich fällt es auf, dass in den letzten Versen von der „Nichtachtung / jeglichen Befehls“ die Rede ist: Es kommt also offenbar nicht auf den Inhalt des Befehls an, sondern es wird vorausgesetzt, dass es der Würde und Autonomie des Menschen grundsätzlich nicht angemessen sei, Befehle zu befolgen.
Das Engagement gegen den Krieg prägte auch die Biographie der Autorin Ingeborg Bachmann: Wenngleich sie sich weniger eindeutig politisch positionierte als viele andere Schriftsteller ihrer Generation, trat sie 1958 einem „Komitee gegen die Atomrüstung“ bei und unterzeichnete 1965