Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Der Holocaust hat die deutsche, aber auch internationale Geschichte stark geprägt. Es waren und sind immer noch viele Menschen davon betroffen. Um die schrecklichen Geschehnisse zu verarbeiten, drücken sich einige von ihnen literarisch aus.
So auch Nelly Sachs, die 1947 das Gedicht „Ihr Zuschauenden” verfasst, in welchem es um die Menschen geht, die tatenlos zugesehen haben, als die Nazis ihre Verbrechen begangen haben.
In dem Gedicht werden viele Vorwürfe gegen die Menschen erhoben, die während des Holocausts zu- oder weggesehen haben. Es wird sich aber auch in diese Menschen hineinversetzt und spekuliert, wie es ihnen jetzt nach dem Krieg geht. Außerdem wird eine gewisse Schuld vermittelt, die man heutzutage juristisch als unterlassene Hilfeleistung betiteln würde.
Im Folgenden wird das Gedicht in Hinsicht auf Adressatenbezug und Schuldzuweisung analysiert.
Das Gedicht beginnt mit der Definition der behandelten Personengruppe als Menschen, „[vor] deren [Augen] getötet [worden ist]” (V. 1), die aber nichts dafür oder dagegen unternommen haben. Also nicht an die Täter direkt und nicht an Widerstandskämpfer ihrer Zeit. Das umfasst alle untätigen Mitwisser.
Verständlicherweise stellt sich das lyrische Ich vor, wie die „Zuschauenden” (V. 16) „[d]ie Blicke der Toten” (V. 4) fühlen, da es hofft, auf Reue oder ein schlechtes Gewissen zu stoßen. Wie wir aber am Ende des Gedichtes erfahren werden, scheint dies nicht der Fall zu sein. Die Antithese1, von Toten angesehen zu werden, zeigt, dass die Erinnerungen an diese Taten immer noch lebendig sind und nicht mit dem Tode der Opfer vergehen.
Die zweite Strophe behandelt das „an[ge]sehen“ (V. 5) werden weiter. Diese Blicke stammen aus „brechende[n] Augen“ (V. 5), welche euphemistisch eine Charakteristik für tote Menschen darstellen. Die Beschuldigten werden also von Toten angesehen, deren Tod die „Zuschauenden” (V. 16) toleriert haben.
Da viele Mitwisser von damals nach dem Kriegsende behauptet haben, von nichts gewusst zu haben, beschreibt Nelly Sachs diese Menschen so, dass sie „aus den Verstecken“ (V. 6) agieren. Wenn diese dann „ein Veilchen pflück[en]“ (V. 6), wobei das Veilchen den Frühling, also das Schöne im Leben symbolisiert, soll diese Freude durch die Blicke der Toten gemindert werden. Außerdem wirkt diese für Unschuld und Liebe stehende Blume als Kontrast zu dem Kontext und verstärkt so die Gegensätzlichkeit zweier Welten. Die der Täter (aktiv und passiv) und die der Opfer.
Die „geschlungenen Gezweige [d]er alten Eichen” (V. 8f) sollen die Angesprochenen immer an die „flehend erhobene[n] Hände” (V. 7) der Opfer erinnern, um ihre durch Passivität erworbene Schuld auch im Alltag nicht zu vergessen. Die Eiche als Lebensbaum wirkt hier wieder als Gegensatz.
Die „im Blute [d]er Abendsonne [wachsenden Erinnerungen]” (V. 10f) könnten einerseits für die blutigen Erinnerungen und das symbolische Blut an den Händen der passiven Täter stehen. Andererseits aber auch für die erloschenen Erinnerungen der Opfer, da der Vers als Frage an die Zuschauenden formuliert ist. An diese Theorie knüpft auch die dritte Strophe an.
Die „ungesungenen Wiegenlieder“ (V. 12) zeigen, dass unter den Toten auch Frauen und Kinder sind, die normalerweise eher verschont werden. Dies betont die Grausamkeit der Verbrechen. Auch dass „[m]anch einer [...] Sterne herunterholen [hätte] können“ (V. 14) unterstreicht mit einer Hyperbel2 das zerstörte Potential der getöteten Kinder.
Die „Turteltaube” (V. 13) ist ein Symbol für Glück und Liebe und stellt erneut den Kontrast zu dem Schicksal der Opfer da.
In „de[m] alte[n] Brunnen” (V. 15) wohnen laut einer Volkssage sowohl die ungeborenen Kinder, als auch die Toten, da er symbolisch als Verbindung zu einer anderen Welt fungiert. Dieser Kontext passt sehr gut zu der Strophe, da diese ebenfalls das neue Leben und das Ableben verbindet.
Zum ersten Mal werden die „Zuschauenden” (V. 16) in der vierten Strophe direkt angesprochen. Dass diese „keine Mörderhand erh[eben]” (V. 17) zeigt, dass sie sich nicht für die Verbrechen der Nazis verantwortlich fühlen. Trotzdem wird behauptet, dass sie „den Staub nicht von [ihrer] Sehnsucht [s]chüttel[n] [können]” (V. 18f), da es sie immer in irgendeiner Form belasten wird oder sie es zumindest von anderen zur Last gelegt bekommen.
Das „stehenbl[eiben]” (V. 20) steht für die Entscheidung, nicht zu handeln und lieber zuzusehen während die Opfer des Nationalsozialismus in Krematorien verbrannt werden. Also dort, „wo [sie] zu Licht [v]erwandelt w[erden]” (V. 20f).
Zusammenfassend kann man sagen, dass Nelly Sachs in diesem Gedicht viele Eindrücke und Missstände der damaligen Zeit verarbeitet. Dabei nutzt sie viele Symbole, die einen Kontrast zum Kontext bilden. Es wird recht klar, wer sich von diesem Gedicht angesprochen fühlen soll. Aber selbst bei dem heutigen Leser hinterlässt es eine gewisse Betroffenheit. Durch die sehr bildliche und symbolträchtige Schreibweise fühlt man sich wie in der Zeit zurückversetzt und kann die von Nelly Sachs verarbeiteten und so vermittelten Emotionen gut nachvollziehen.