Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Gedicht 1: Ich kann oft stundenlang am Strome stehen – Georg Herwegh
Gedicht 2: Aufblickend - von Ingeborg Bachmann
Klasse: K2
Vergleichende Interpretation zweier Gedichte
Das Naturgedicht „Ich kann oft stundenlang am Strome stehen“ von Georg Herwegh, geschrieben
Mitte des 19. Jahrhunderts, fasst den Aspekt des Lernens aus der erfahrenen, zielstrebigen Natur am
Beispiel eines Stromes auf und regt zu tiefgründigen Gedanken über das persönliche Lebensziel an.
Schon in der Überschrift zeigt sich, dass ein lyrisches Ich vorhanden ist („Ich kann […] stehen“). Es ist
bereits hier die Anfangshypothese aufzustellen, dass dieses lyrische Ich eine enge Beziehung zur
Natur, insbesondere zu einem fließenden Gewässer („am Strome“), hat. Das Gedicht ist in vier
Strophen mit jeweils vier Versen geschrieben, wobei die letzten beiden Strophen nur aus drei Versen
bestehen. Die ersten beiden Strophen sind in einem umarmenden Reim verfasst, bei welchem
weibliche Kadenzen1 männliche Kadenzen umrahmen. Diese Gleichmäßigkeit könnte die Ruhe und die
Gelassenheit des lyrischen Ichs beschreiben und hervorheben. Passend dazu findet sich ein
gleichmäßiger fünfhebiger Jambus, welcher diese Stimmung noch einmal unterstreicht.
In Strophe drei und vier gibt es keine Veränderung am Metrum2, dafür ändert sich das Reimschema
ein wenig. Eine scheinbare Waise wird von einem Reim umschlossen. Wobei sich die Waise aus
Strophe drei mit dem umarmenden Reim aus Strophe vier reimt. Umgekehrt gilt dasselbe für die
vierte Strophe. In der dritten Strophe umarmen männliche Kadenzen eine weibliche, in der vierten
Strophe wird eine männliche von zwei weiblichen Kadenzen umrahmt. Dieser leichte Bruch könnte
die Aufgewühltheit im Gedankengang des lyrischen Ichs zeigen. Auffällig ist auch, dass sich im
Vergleich zu der oberen Hälfte, in der unteren Hälfte viele Ausrufezeichen und Fragezeichen
befinden. Dies unterstreicht die eindringliche Stimmung des zweiten Teils.
In der ersten Strophe wird die Mentalität des Baches und der Grund des lyrischen Ichs, den Bach
aufzusuchen, beschrieben. Die Hyperbel3 „oft stundenlang“ (Vers 1) entbindet das Aufsuchen des
Stromes ein wenig von der Zeit. Das lyrische Ich sucht den Strom auf, wenn es dem Menschen „Bann“
„[entfliehen]“ konnte. Es zeigt sich, dass die Gesellschaft von Menschen als Zwang oder Einengung
empfunden wird. „Er“, der Strom, wird mit einem „erfahrenen Mann“ verglichen und damit auch
gleichzeitig personifiziert. So sei der Bach erfahren, da er sich in der Welt „flüchtig umgesehen“ habe.
Damit soll womöglich die Länge und das dadurch Durchfließen unterschiedlicher Gebiete gemeint
sein.
In der folgenden Strophe werden die Probleme und Unwegsamkeiten des Flusses beschrieben. Der
Vers „da schildert er mir…“ (Vers 5) kann direkt auf das „er plaudert hier“ aus Vers 3 bezogen
werden. Auch die Verse sechs und sieben scheinen sich auf den „erfahrenen Mann „aus Vers drei zu
beziehen. Erst schafft er es aus den Bergen, in welchen der Strom seinen Ursprung hat, heraus, dann
scheint er im flachen Gebiet zu verrinnen. Die Geschichte, die erzählt wird, berührt das lyrische Ich.
Interessant ist, dass nicht die Redewendung zu Herzen gehen, sondern „zum Herzen gehen“ (Vers
8) verwendet wird. Dadurch wird die Bedeutung des Herzens in diesem Zusammenhang noch
deutliche gemacht. Durch die aus der Kommasetzung resultierenden Enjambements4, fließt man
scheinbar beim Lesen durch das Gesicht, so wie eben auch der Strom seinen Weg fließt.
In der dritten Strophe wird ein Loblied auf den Strom gesungen bei welchem das lyrische Ich
bewundert, wie der Fluss, trotz der vorher beschriebenen Probleme, im Meer mündet. Besonders
wichtig scheint hier die Zielgerichtetheit des Flusses, trotz zwischenzeitlichem „Plänkeln“ (Vers 10) zu
sein. Durch eine erneute Personifikation5 des Stromes wird dem Strom ein Wille, aber auch ein Zwang
„Ich muss“ (Vers 11) unterstellt. Der Autor greift hiermit eine Tatsache auf. Jeder Fluss endet nun
einmal im Meer. Allerdings scheint das lyrische Ich an diesem Zwang nichts auszusetzen zu haben. Es
bewundert die Zielstrebigkeit eher, was in der folgenden Strophe noch einmal deutlicher wird.
Auch hier findet sich eine Personifikation. Auch der Selle wird ein eigener Wille unterstellt. Es ist
nicht eindeutig erkennbar, aber vermutlich meint das lyrische Ich hiermit seine eigene Seele, welche
ungerichtet und ziellos durch die Gegend zieht (Vers 12). Dieser Vers ist gleichzeitig als Frage und als
Vorwurf formuliert. Selbst der Strom ist zielgerichtet „nur du“ (Vers 12) Seele „schweifst in der Irre“.
Dieses Problem der ziellosen Seele scheint das lyrische Ich, obwohl nur an seine eigene Seele
formuliert, übergreifend auf die Menschheit zu verstehen. Denn es formuliert auch eine Hoffnung,
welche sich aber nicht auf sich selbst sondern auf ein Kind bezieht. Nur ein Kind könne diese
Zielstrebigkeit aus der Natur lernen („lern die Weisheit aus dem Wasser greifen“), da ein
erwachsener Mensch, also auch das lyrische Ich, schon vorbelastet sei.
In Vers 8 gehen dem lyrischen Ich die Worte zu Herzen. Das könnte heißen, dass auch es einen
schweren Weg, wie ihn der Strom beschreibt, durchlebt hat. Umso ernüchternder muss daher die
schlussendliche Erkenntnis sein, nicht dieselbe Weisheit erlangt zu haben. Doch darum geht es dem
lyrischen Ich scheinbar nicht. Für es ist es Trost genug, an die Weisheit, die in der Natur vorhanden
ist, erinnert zu werden und vielleicht ein klein wenig davon zu lernen. Somit bestätigt sich auch die zu
Anfangs aufgestellte These.
Das 2002 erschienene Naturgedicht „Aufblickend“ von Ingeborg Bachmann thematisiert die Frage
nach dem Warum und dem Sinn des Lebens, obwohl das Endziel doch bereits feststeht.
Die Überschrift wirft direkt die erste Frage auf: „Zu was aufblickend?“. Die Tatsache, dass ein Adjektiv
vorhanden ist, legt nahe, dass damit ein Zustand dauerhaften Aufblickens gemeint sein könnte.
Ähnlich wie Herwegh beim Thema Lernen aus der Natur scheint der Autor nicht nur sich selbst,
sondern jeden einzelnen mit diesem Zustand beschreiben zu wollen. Im Gegensatz zu Herweghs
Gedicht findet sich in „Aufblickend“ weder ein erkennbares Reimschema noch ein gleichbleibendes
Metrum oder eine Regelmäßigkeit der Kadenzen. Das Gedicht ist in drei Strophen aufgeteilt, die sich
aus neun, sechs und fünf Versen zusammensetzen.
In der ersten Strophe beschreibt das lyrische Ich einen hoffnungslosen Zustand, aus welchem es aber
dennoch aufblickt. Noch immer ist nicht klar, zu was oder wem. Auch Herwegh beschreibt diesen
schweren Beginn in seinem Gedicht. Die Synästhesie6 Genuss, bitter und lichtlos, ist gleichzeitig eine
Metapher von lichtlos, stehend für hoffnungslos (Vers 2). Doch das lyrische Ich fasst sich (Vers 3), was
seinen Charakter ausmacht (Vers 4). Nun sucht das lyrische Ich nicht nur, wie bei Herwegh, einen
Strom auf, sondern es vergleicht sich direkt damit („Ich bin ein Strom“ Vers 5). Nun folgen
Aufzählungen und Metaphern7 für seine Charaktereigenschaften, welche auf bildlicher Ebene denen
eines Flusses gleich sind. So wird die Tatsache, dass Wellen sich Richtung Ufer bewegen und
Sonnenstrahlen wärmen, hervorgehoben. Der Neologismus8 „Schattende Büsche“ beschreibt die
eigentümliche Bekanntheit der Situation. Nun bringt das lyrische Ich einen neuen Aspekt mit ins
Spiel, welcher Herwegh nicht aufgegriffen hat – den Aspekt der Vergänglichkeit („wenn auch für
einmal nur“ Vers 9). Um diesen Satz hervorzuheben, wurde er in einer Inversion9 formuliert. Gemeint
ist damit, dass er nur einmal lebt und nicht wie der Fluss ewig sprudelt. Die Formulierung „ohne
Erbarmen“ (Vers 10) in Strophe zwei klingt brutal, beschreibt allerdings nur die Tatsache, dass sich
Wasser immer einen Weg bahnt. Auch dieser, eher negativ besetzte Aspekt eines Stromes wird in
„Ich kann oft stundenlang am Strome stehen“ nicht thematisiert. Nun wir die Zielstrebigkeit eines
Flusses hin zum Meer aus Herweghs Gedicht wieder aufgegriffen („drückt mich zum Meer Vers 11).
Ander als im ersten Gedicht wird diese Eigenschaft allerdings nicht im Besonderen betont. Eine
Gemeinsamkeit ist die Formulierung eines Zwanges („drückt“ Vers 11). Das Meer wird durch eine
Klimax10 (Großes, herrliches Meer“ Vers 12) und einer Hyperbel („herrliches“ Vers 12) beschrieben und
besonders hervorgehoben. In den folgenden Versen drückt das lyrische Ich eine tiefe Freude über
dieses Endziel aus. Es kenne „keinen Wunsch“ Vers 13) der höher ist als im Meer zu enden. Diese
Schönheit der See scheint Bachmann wichtiger als Herwegh zu sein, Auch in „Aufblickend“ wird in
der letzten Strophe wie bei Herwegh eine Frage gestellt. Diese führt allerdings in eine andere
Richtung. Während sich im ersten Gedicht Gedanken über die Zielgerichtetheit der Seele gemacht
wird, beschäftigt Bachmann ein ganz anderes Thema. Das lyrische Ich quält die Frage, wieso es von
Nichtigkeit („ein Begehren, süßer Ufer zu grüßen Vers 17) abgehalten werden kann („gefangen mich
halten„ Vers 18), wenn doch das Endziel so viel schöner ist (vgl. Strophe 2) und es dies nicht einmal
vergessen hat. Auch Bachmann benutzt ein Wort aus demselben Wortumfeld wie Herwegh.
Entfliehen und gefangen. Nur, dass Bachmann es in Verbindung mit Abweichungen von einem Weg
bringt. Herwegh hingegen flieht vor Menschen. Es wird keine Antwort auf die formulierte Frage
gegeben, Dies regt den Leser zum Nachdenken an. Auch die Metapher des Meeres als Endziel regt
zum Nachdenken an. Dieses Endziel kann sehr persönlich sein. Für den einen mag das Ende erreicht
sein, wenn er seine große Liebe gefunden hat, der andere sieht das Ende hingegen im Tod. Was die
Metapher für einen selbst bedeutet bleibt dem jeweiligen Leser überlassen.
Eine Antwort auf die gestellte Frage könnte sein, dass diese Nichtigkeiten das Leben ausmachen. In
einem Fluss, welcher ohne jeglichen Umweg direkt in Meer fließt, kann kaum ein Lebewesen
überleben. Dies ist auch auf das Leben zu übertragen. Erst die kleinen Umwege machen das Leben
lebenswert.
Beide Gedichte scheinen auf den ersten Blick sehr ähnlich, ihre Thematik entwickelt sich allerdings
schnell und merklich in unterschiedliche Richtungen. Beide Gedichte besitzen ein lyrisches Ich,
welches in einer engen Beziehung zur Natur steht. Das eine sucht die Natur auf, das andere
vergleicht sich sogar mit ihr. Auch stellen beide Gedichte eine tiefgründige Frage, auf welche es keine
endgültige Antwort zu geben scheint. Doch unterscheidet gerade diese Frage die beiden Gedichte
entscheidend. Herweghs Gedicht bezieht sich auf eine nicht vorhandene Zielstrebigkeit im
Menschen. Er wisse nicht, wo das Ziel liege. Nach Bachmann gibt es dieses Ziel sehr wohl. Und es ist
auch klar, wo dieses liegt. Seine Frage zielt allerdings darauf ab, wieso man dennoch abgelenkt
würde, von Dingen, welche nicht entscheidend sind.
Für Herwegh ist das Leben ein Weg mit ungewissem Ziel. Für Bachmann ein zu langer Weg mit
persönlichem Ziel. Herwegh bietet durch das Lernen aus der Natur einen Lösungsansatz für das von
ihm aufgezeigte Problem. Bachmann hingegen ist abhängig von der Einstellung des Lesers zum
Leben. Ein Optimist sieht die positive Seite der Umwege. Ein Pessimist hingegen würde sich durch das
Gedicht bestärkt fühlen und auf sein Endziel warten