Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Der deutsche Kabarettist und Schriftsteller Joachim Ringelnatz, welcher zwischen 1883 und 1934 lebte, veröffentlichte im Jahre 1928 das Gedicht „Ich habe dich so lieb“, welches bis heute zu einem seiner erfolgreichsten Werke gehört. Thematisiert wird hier eine verjährte Liebe, welche sich jedoch verstärkt einseitig zeigt, und da auch nur die Sicht von einer Person geschildert wird, bleibt es ungewiss, ob die Liebe überhaupt erwidert wird.
Zunächst zeigt sich allein mit Blick auf die äußere Erscheinung des Gedichtes, dass es einen sehr unregelmäßigen Aufbau durch eine unterschiedliche Anzahl von Strophen und Versen aufweist. Die erste (abcb), zweite (abab) und fünfte (aab) Strophe besitzen jeweils vier Verse, die dritte (abcac) Strophe fünf Verse, die vierte (ababcc) Strophe sechs Verse und die letzte Strophe besitzt sogar lediglich einen Vers. Insgesamt überwiegt dementsprechend ein parataktischer Satzbau mit einer Aneinanderreihung von mehreren kurzen, selbstständigen Sätzen. Ebenso fallen beim Lesen die nicht durchgängigen Reime am Zeilenende auf, welche kein regelmäßiges Metrum1 erkennen lassen. Diese Unregelmäßigkeit der Moderne grenzt sich zu den traditionellen strengen Formen der vergangenen Epochen ab. Auch die neuen sprachlichen Ausdrucksmittel unterstreichen den experimentellen Charakter dieser Epoche, welche thematisch oft geprägt ist von individuellen Empfindungen, pessimistischen Gedanken und dem Versuch, den zeitlichen, durch technische Neuerungen stark fortgeschrittenen Umbruch zu reflektieren.
So ungewöhnlich wie Ringelnatz sein hier vorliegendes Werk äußerlich gestaltet, besitzt es doch im Mittelpunkt des Geschehens eine gewöhnliche bzw. weit verbreitete Thematik in der Lyrik: Die Liebe. Hier beginnt das Gedicht mit der Aussage „Ich habe dich so lieb“ (V. 1), wobei dies sowohl dem Titel als auch dem letzten Vers entspricht. Wen das lyrische Ich damit genau meint wird auch im weiteren Verlauf nicht aufgedeckt, doch erfährt die Leserschaft einiges über die ihre Beziehung. So wird durch das Symbol des Feuers (vgl. V. 2ff.) ihre Liebe als aufflammend, hitzig und leidenschaftlich beschrieben, wobei die „Kachel(n)“ (V. 3) des Ofens diese Wärme speichern können. Sie wärmen auch dann noch, wenn das eigentliche Feuer im Ofen schon nicht mehr brennt, und nur noch die Glut eine leichte Restwärme ausstrahlt. Dieses metaphorische Bild kann auch für die langanhaltende Treue zwischen zwei Personen stehen, welche ihre Beziehung trotz Höhen (heiße Zeiten) und Tiefen (kalte Zeiten) nicht aufgegeben haben. Möglich wäre auch die Deutung, dass man sich am Ofen schnell die Finger verbrennen kann und somit nicht vor Schmerzen zurückschreckt, da man alles für seine Partnerin oder seinen Partner machen würde. Dadurch ist die komplette erste Strophe durch die Hingabe des lyrischen Ich zu seiner geliebten Person gekennzeichnet.
Allerdings kommt es beim Übergang zur zweiten Strophe zu einem schnellen Gefühlswechsel in Richtung betrübter Emotionen. Offensichtlich haben sich die Gefühle des Gegenübers gewandelt, sodass dem lyrischen Ich „traurig zu Mut“ (V. 6) ist. Über die genauen Hintergründe dafür erfährt die Leserschaft nichts konkretes, doch erzeugt Ringelnatz hier das metaphorische Bild des Abschiedes durch die „Eisenbahn“ (V. 7). Unabhängig davon, ob das lyrische Ich am Bahnhof steht und der Bahn hinterherblickt oder ob es sich selbst in der Bahn befindet: Die Entfernung zwischen ihnen vergrößert sich in beiden genannten Fällen. Nimmt man hier letzteres an, so könnte der leuchtende Ginster (vgl. V. 8) anhand des Blickes durch das Zugfenster beschrieben werden. Die strahlende Wirkung lässt sich hier entweder durch die Strahlen der Sonne oder durch die Tränen des weinenden lyrischen Ich erklären, welche die Pflanzen optisch verschwimmen lassen, wodurch sich ihr Anblick maßgeblich wandelt.
Die dritte Strophe gibt möglicherweise Aufschluss darüber, ob das lyrische Ich in dem Zug sitzt oder seine Partnerin/ sein Partner, nämlich durch die Aussage „Ich reise“ (V. 11). Neben der örtlichen Entfernung zu seiner Geliebten/ seinem Geliebten könnte diese Reise jedoch auch für eine Reise zu sich selbst stehen, auf der sich das lyrische Ich erst selbst findet, um im Anschluss daran wieder bereit für eine Beziehung zu einem anderen Menschen zu sein. Diese Reise wird sicherlich nicht nur ein paar Tage in Anspruch nehmen, sondern sein gesamtes Leben beeinflussen, was durch die sich steigernde Ellipse2 „Vorbei- verjährt-/ Doch nimmer vergessen“ (V. 9f.) hervorgehoben wird. Hier wird möglicherweise auch auf die fortwährend schlummernden Gefühle des lyrischen Ich zu seiner ehemals geliebten Person angespielt, welche ihn immer noch berühren.
Anschließend stellt Ringelnatz eine Verbindung vom Menschen zu allen anderen Lebewesen am Beispiel des Hundes her, wodurch er ausdrücken möchte, dass man einige Dinge in dieser Welt einfach hinnehmen muss und nicht ändern kann, auch wenn einige Leute behaupten, dass „[d]ie Zeit entstellt“ (V. 14). Die Zeit heilt also nicht alle Wunden, zumindest nicht im Fall des lyrischen Ich, denn die beiden „[…] können nicht bleiben“ (V. 19). Besonders durch die durchgängig niedergeschlagene Stimmung wirkt diese Strophe quasi als Tiefpunkt des Werkes, bevor es zu einem plötzlichen Stimmungswechsel in den letzten vier Versen des Gedichtes kommt. Das lyrische Ich besinnt sich hier mit einer lockeren Stimmung („Ich lache“, V. 20) auf die wesentlichen Dinge im Leben, womit bspw. die Familie, Freude oder die Gesundheit gemeint sein kann. Die Liebe wird somit als eine Art zusätzlicher Bonus dargestellt, welcher jedoch nicht unbedingt notwendig für ein erfülltes Leben ist. Dies lässt sich mit Verweis auf die Verse 21 und 22 („Die Löcher sind die Hauptsache/ An einem Sieb“) verdeutlichen, wenn hier das Sieb auf seine prägende Eigenschaft reduziert wird. Egal welche Form, Größe oder Farbe das Sieb besitzt, von entscheidender Bedeutung sind vor allem die Löcher.
Die letzte Strophe besteht, wie bereits bei der Beschreibung der äußeren Form erläutert, lediglich aus dem Vers „Ich habe dich so lieb“ (V. 23) und bildet so zusammen mit dem ersten Vers eine Rahmung des Gedichtes, da beide Verse identisch sind, ebenso wie der Titel des Gedichtes. Trotz der zahlreichen pessimistischen Gedanken zu seiner großen Liebe denkt das lyrische Ich dennoch positiv. Man könnte hier zahlreiche Vermutungen aufstellen, ob seine Liebe nun erwidert wird oder nicht (mehr), aber letztlich reicht ihm offensichtlich die schöne Erinnerung an ihre gemeinsame, „verjährt[e]“ (V. 9) Zeit.