Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Aufgabe 1: Interpretieren Sie das Gedicht „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“ von Rainer Maria Rilke.
Das Gedicht „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“ hat Rainer Maria Rilke im Jahre 1899 verfasst. Es thematisiert die von einem lyr. Ich wahrgenommene Haltung der Menschen gegenüber dem Wunderbaren und Übersinnlichen.
Kernaussage des Werkes ist die entschiedene Warnung des lyr. Ich vor der von ihm empfundenen Totalität des Rationalen in der Moderne, durch die die menschliche Gesellschaft das Übersinnliche verdränge.
Die lyrische Form des Gedichtes wird bestimmt durch drei Strophen mit jeweils vier Versen. Es liegt kein durchgehendes Metrum1 vor und auch Enjambements2 sind nicht zu finden. Die umarmenden Reime (Strophen eins und zwei) lassen jeweils die beiden sich reimenden Verse als Einheit auffassen, in der zweiten Strophe ergänzen die beiden Binnenverse (vgl. V. 6, 7) die Aussage der äußeren, die bereits alleine die Kernaussage der Strophe transportieren. Die schlichte und einfache Wortwahl macht das Gedicht leicht verständlich.
Inhaltlich leitet das lyr. Ich bereits am Anfang Die Aussage des Gedichtes, die Furcht „vor der Menschen Wort“ (V. 1) ein. Hier ist kein genauer Adressat des Werkes zu erkennen und das lyr. Ich scheint monologisch zu sprechen.
Das lyr. Ich klagt nun darüber, dass Menschen für alle dinge Begriffe hätten (vgl. V.3) und diese auch aussprächen (vgl. V. 2). Auch die Fähigkeit der Menschheit, alles zu erfassen und begrifflich zu begrenzen wird genannt (vgl. V.4).
Dem lyr. Sprecher „bangt“ (V. 5) es vor der scheinbaren Allwissenheit der menschlichen Gesellschaft seiner Zeit, die allen Dingen das Wunderbare nehmen würde (vgl. V. 7). Wegen dieser Fähigkeiten erscheinen die Menschen selbst dem lyr. Ich als an Gott angrenzend (vgl. V. 8). In der Letzten Strophe wird die Warnung wiederholt, den „Dingen“ ihr „singen“ zu nehmen (V. 10), was die Menschen täten (vgl. V. 11). Es fordert die Menschen Fernbleiben vor den Dingen auf, damit diese nicht durch jene umgebracht werden könnten (vgl. V. 12).
In der ersten Strophe umreißt das lyr. Ich prägnant sein Anliegen, auch wenn der genaue Grund der Furcht nicht ad-hoc verständlich wird. Die Wirkung der Metapher3 „der Menschen Wort“ (V. 1) wird durch die altertümliche Genitivkonstruktion verstärkt, da diese beim modernen Leser erst einmal Irritation evoziert. Die Bedeutung der Metapher wird erst im inhaltlichen Kontext des Werkes deutlich und wäre die Art der Menschen, alle Dinge zu benennen und kategorial einzuordnen.
Dieses genaue wissenschaftliche Erfassen der Welt wird in der ersten Strophe inhaltlich ausgebreitet und vom Sprecher kritisiert.
Das wissenschaftliche Erfassen der Welt in „Zahlen und Figuren“ (Novalis) meint natürlich die Epoche der Aufklärung, deren Ethos die Geschichte der europäischen Gesellschaften maßgeblich geprägt hat.
Das genannte Ethos der Aufklärung wird auch in der nächsten Strophe ausgeführt und kritisiert.
Das Bangen des lyr. Ich vor der scheinbaren Omniszienz der aufgeklärten Menschheit wird ausgeführt und diese durch eine Alliteration4 verstärkt (vgl. V. 6). Diese Alliteration und Hyperbel5 „alles, was wird und war“ (V. 6) möchte entweder ironisch auf die Unmöglichkeit ihrer selbst verweisen oder zum Ausdruck bringen, dass die Menschen sich selbst vergöttlichten.
Die aufklärerische „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) wird für das lyr. Ich darin deutlich, dass Dingen, hier der Natur in Form eines Berges, das Prädikat des Wunderbaren genommen wird. Hier finden wir also einen Bezug auf das Naturmotiv der Romantik, die in der Natur das Göttliche wirken sah und in der Naturerfahrung auch eine Möglichkeit zum Erfahren des Übersinnlichen, der Transzendenz, erblickte.
Die Alliteration „Garten und Gut“ (V. 8) akzentuiert noch einmal, wie sehr die menschlichen Dispositionen der Macht Gottes gleichen. In der zweiten Strophe wird also die Apotheose des (post-)aufklärerischen Menschen deutlich, die aufgrund des unbegrenzten Fortschrittsoptimismus geschehen wäre.
Auch in der dritten Strophe ist wieder die Grundintention des Sprechers zu finden; so „warn[t] und wehr[t]“ (V. 9) er in einer Alliteration vor und gegen die kritisierte „Entzauberung der Welt“.
Gesteigert wird diese Abwehrhaltung durch den Imperativ „bleibt fern“ (V. 9), der eine Aufforderung zur Beendigung der kritisierten aufklärerischen Geisteshaltung darstellt. Der Sprecher mag den transzendenten Schein der „Dinge“, den er in der Personifikation7 „Die Dinge singen“ (V. 10) ausdrückt. Dieser „hohe Schein“ des „Gemeinen“ (Novalis) ist ein weiteres Motiv der Romantik, auf die sich das Gedicht offensichtlich bezieht.
In den Schlussversen (V. 11, 12) zeigt das lyr. Ich die Folgen des Handelns der aufgeklärten Menschheit auf. Durch die Anapher8 „Ihr“ (V. 11, 12) werden die „Täter“ betont, nämlich die aufklärerisch lebende Mehrheit der Menschen, die durch ihr Handeln die Welt des Scheins des besonderen, des Unendlichen entheben.
Außerdem wird der starke Kontrast zwischen dem lyr. Ich und den „Anderen“ deutlich. Das lyr. >Ich gehört nicht einmal einer Minderheitengruppe an, sondern ist ein Solitär in einer modernen Welt, wie es wohl auch der Verfasser Rilke war. Dies wird durch das Personalpronomen9 „mir“ (V. 129 statt „uns“ deutlich. Das lyr. Ich steht gedanklich konträr zur ganzen übrigen Menschheit und ist dieser sicher entfremdet.
Die Folgen des Handelns nach Prinzipien der unbedingten Ratio in den Schlussversen werden betont durch den gebrauch von Paarreimen in der letzten Strophe, da deshalb die beiden Verse jeweils enger zusammenstehen.
Es lässt sich ein Rückbezug zum Anfang finden, weil in den beiden Schlussversen die Konsequenzen der vorerst deutungsoffenen Metapher (vgl. V. 1) dargelegt werden. Die Heftigkeit der Konsequenzen wird durch das Verb „umbringen“ (V. 12) beschrieben; die Aufklärung zieht also hier laut dem lyr. Ich das maximale Opfer, nämlich den Tod nach sich. Der Tod der „wunderbaren“ (V. 7) „Dinge“ (V. 12)kann auch auf den zumindest gefühlsmäßigen Tod des sie (potenziell) erlebenden Menschen ausgeweitet werden. Die ganze Gesellschaft wäre also durch einen totalen Vollzug der Aufklärung zumindest gefühlskalt.
Das Gedicht übt Kritik an der Aufklärung und bezieht sich also sowohl thematisch als auch durch konkrete Motive auf die literarisch-philosophische Epoche der Romantik. Das Erfahren der Unendlichkeit, der Transzendenz in normalen, in endlichen Gegenständen ist ein Kernpunkt der Romantik, auf den sich auch der Sprecher dieses Gedichtes bezieht.
Die Erfahrungen des lyr. Ich in diesem Gedicht lassen sich gut aus dem Epochenkontext erklären, da um die Jahrhundertwende vom 19. Zum 20. Jahrhundert viele technische Neuerungen wie etwa Straßenbahnen und Automobile erfunden wurden und auch das als anonym empfundene Leben in Großstädten an Bedeutung gewann. Diese als kalt und technisch-rational wahrgenommene Welt ließ bei einigen dann den an die Romantik angelehnten Wunsch nach einem intensiven Gefühlserlebnis entstehen. Weitere Angriffsfläche bot das Wirken der der Aufklärung etwa bei offensichtlichen Ungerechtigkeiten der Zeit, die beispielsweise in einem großen Proletariat zu erblicken sind.
Aufgabe 2: Prüfen Sie, ob bzw. inwieweit sich die Aussage des Gedichtes in Eichendorffs „Wünschelrute“ widerspiegelt.
Die Kernaussage von Eichendorffs Gedicht „Wünschelrute“ ist die Möglichkeit, „allen Dingen“ einen (V. 1) einen „hohen Sinn“ geben zu können und sie dadurch zu „romantisieren“ (Novalis). Jedem endlichen Gegenstand ist so also auch die Unendlichkeit immanent, man braucht nur das „Zauberwort“ (V. 4), um das Besondere in dem Gegenstand erblicken zu können. Dabei meint das „Zauberwort“ den Vorgang des „Romantisierens“, wie er etwa in der Lyrik der Zeit durchgeführt wurde.
Die Kernaussage also, dass man Dinge romantisieren kann und soll, spiegelt sich auch implizit in Rilkes Gedicht wider, wo sie Im Vers „Die Dinge singen höre ich so gern“ (V. 10) streckt.
Das „Singen der Dinge“ wird hier eindeutig als Chiffre10 genutzt für das, was Novalis „romantisieren“ nennt. Das lyr. Ich bei Rilke stellt das Wunderbare in den Dingen vor allem im Kontrast zur Aufklärung dar, die das Übersinnliche negiert11. Die Aufklärung bildet bei Rilkes Gedicht also die Projektionsfolie vor der erst die Meinung des lyr. Ich sichtbar wird. Diese Meinung des „Singen[s]“ der Dinge deckt sich mit der Kernaussage von dem Gedicht „Wünschelrute“ nach dem jeder Gegenstand etwas Besonderes in sich hätte und beispielsweise durch die Literatur oder persönliche Gefühlerlebnisse romantisiert werden könne.