Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
„Reife ist, wenn man das Vollkommene nicht im Ungewöhnlichen, sondern im Alttäglichen sucht“ (Hugo von Hofmannsthal)
Dieses Zitat spiegelt das Thema des vorliegenden Gedichtes Regen in der Dämmerung von Hugo von Hofmannsthal, verfasst 1892, wider. Es findet ein Reifungsprozess des lyrischen Ichs statt, da es sich von seinem unerfüllten Verlangen zur alltäglichen Natur hinwenden kann. Während des Spazierganges ändert sich seine Einstellung zu den Wünschen, die es hat und es muss außerdem erkennen, dass nicht alles zu einem Ziel führt.
Das Gedicht lässt sich in die Epoche des Symbolismus einordnen, enthält aber auch romantische Elemente.
Der zu untersuchende Analyseschwerpunkt liegt auf der Entwicklung des lyrischen Ichs. Es ändert im Verlaufe des Gedichtes seine Beziehung zu den Träumen, die es hat. Dieses innere Befinden und der Wandel werden durch die Naturbeschreibungen ausgedrückt.
Die Analyse wird linear erfolgen, da das Gedicht eine Veränderung des lyrischen Ichs beschreibt und diese sich im Verlauf des Gedichtes schrittweise vollzieht. Bei einer geradlinigen Untersuchung ist es möglich die einzelnen Entwicklungsschritte nachzuvollziehen.
Das Gedicht besteht aus vier Strophen mit jeweils vier Versen. Das Reimschema ist ausnahmslos ein Kreuzreim (abab). Im Gegensatz dazu ist das Metrum1 nicht durchgehend gleichbleibend.
Das Versmaß der ersten und vierten Strophe entspricht dem Kreuzreim. Immer der erste und dritte Vers ist ein dreihebiger Daktylus mit Auftakt. Die Kadenzen2 dieser Verse sind weiblich. Im Gegensatz dazu stehen die Verse zwei und vier. Sie sind vierhebige Jamben mit einer männlichen Kadenz.
Im Gegensatz dazu steht der Aufbau der zweiten und dritten Strophe. Hier ist das Metrum ausnahmslos ein dreihebiger Daktylus. Die Kadenzen der zweiten Strophe sind durchgängig weiblich. In der dritten Strophe sind sie passend zum Reimschema alternierend. Daraus ergibt sich eine Rahmung des Gedichtes, da die erste und letzte Strophe durch das Metrum verbunden sind.
Bereits hier zeigt sich die Autofunktionalität des Textes. Durch die Überstrukturiertheit wird deutlich, dass die Form über den Inhalt dominiert.
Besonders Interesse weckt das Verhältnis von Titel und Inhalt. Die Überschrift Regen in der Dämmerung bezieht sich auf den ersten Blick nur auf die Natur und geht gar nicht auf das lyrische Ich und seine Entwicklung. Die Denotation ist, dass zwei verschiedene Naturereignisse geschildert werden, Regen und Dämmerung. Allerdings beinhaltet die Überschrift auch einige Konnotationen3. Mit der Dämmerung verbindet der Leser einen ambivalenten Zwischenzustand. Der Regen aber ruft Assoziationen von Reinheit und Klarheit hervor. Daraus entsteht die Frage, was der Schwerpunkt des Gedichtes ist. Liegt der Fokus auf der Natur, wie man zunächst aus dem Titel schließen würde oder beschreibt die Natur nur die Gefühlslage des lyrischen Ichs? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden ist eine genauere Analyse notwendig.
Zunächst ist eine Gliederung des Gedichtes sinnvoll. Die Unterteilung wird durch die Strophen und den wechselnden Gebrauch des Metrums vorgegeben. Es entstehen vier Sinnabschnitte. Jede Strophe hat eine Entwicklungsstufe des lyrischen Ichs zum Thema. Der erste Teilabschnitt schildert die Situation, in der sich das lyrische Ich befindet. Auffällig ist hierbei, dass die Beschreibungen mit der Natur und nicht mit dem lyrischen Ich beginnen (vgl. Strophe 1, Vers 1). Allerdings findet man schon einen ersten Verweis auf etwas Menschliches hinter der Natur: die Personifikation4 des Windes, der wie ein Mensch auf den Wegen wandert, „der wandernde Wind auf den Wegen“ (Strophe 1, Vers 1). Zuerst wird der Wind genannt und dann erscheinen die Wege. Dies wird noch durch einige stilistische Mittel hervorgehoben. Als erstes betont die Alliteration „wandernde Wind auf den Wegen“ (Strophe 1, Vers 1) diesen Vers. Die Dominanz der Natur, die sich auch im Titel zeigt, setzt sich im weiteren Verlauf der ersten Strophe fort. Sie wird synästhetisch beschrieben. Der Hör-, Seh- und Gefühlssinn wird angesprochen (vgl. Strophe 1, Vers 2f). Dadurch fühlt sich der Leser als ein Teil der Natur. Hierbei wird durch die Alliterationen5 („der dämmernde“(Strophe 1, Vers 2)/ „rieselnde Regen“(Strophe 1, Vers 3)) und die gekreuzten Anaphern6, die mit dem Reimschema übereinstimmen, Harmonie erzeugt.
Erst im letzten Teil des ersten Sinnabschnittes wird dann menschliches „Verlangen“ (Strophe 1, Vers 4) erwähnt.
Auch im zweiten Sinnabschnitt stehen die Naturgewalten Wasser und Wind im Vordergrund. Hier wird die Ambivalenz der Naturbeschreibungen deutlich. Zum einen ist die Natur negativ belegt, zugleich hat sie aber auch etwas Harmonisches. Dieser Zwiespalt zeigt sich besonders deutlich, wenn man die häufig benutzten Nomen einer Semanalyse unterzieht. Das Nomen „Regen“ (Strophe 1, Vers 3) zum Beispiel enthält die Seme [ungemütlich, Nässe, Kälte] aber auch [Reinheit, Leben]. Derselbe Effekt zeigt sich auch bei Dämmerung, Wind und Wasser.
Trotz dieser Unterschiede wirkt der Abschnitt durch die Verfremdungen, wie das regelmäßige Metrum, harmonisch. Auch die gleichbleibenden weiblichen Kadenzen tragen dazu bei.
Das Menschliche wird, besonders durch die „Stimmen“ (Strophe 2, Vers 2), die zu den Träumen (vgl. Strophe 2, Vers 3) des lyrischen Ichs gehören, ausgedrückt.
Somit wird in der zweiten Strophe der erste Entwicklungsschritt des lyrischen Ichs deutlich. Sein Verlangen hat sich in Träume gewandelt. Obwohl diese beiden Begriffe viele gemeinsame Seme haben [Wünsche, Hoffnung, Besserung, Erwartungen], ist eine Entwicklung erkennbar. Das Bedürfnis nach Erfüllung der Wünsche ist nicht mehr so stark. Dies erkennt man auch daran, dass die Träume in der Natur verschwinden (vgl. Strophe 2, Vers 4). Die weiblichen Kadenzen zeigen ebenfalls das Verblassen der Träume.
Dieser Entwicklung wird eine zentrale Bedeutung beigemessen. Das erkennt man an dem abweichenden Aufbau der zweiten Strophe mit einem regelmäßigen Metrum und den durchgängig weiblichen Kadenzen.
Der dritte Abschnitt beginnt ebenfalls mit der Beschreibung der Natur. Wobei der Wind in diesem Teil eine herausragende Rolle spielt. Eine Naturgewalt, die neuen Wind und somit Veränderungen in das Leben bringt. Aus diesem Grund wird der Wind sprachlich durch einen Chiasmus hervorgehoben (vgl. Strophe 3, Vers 1f). Dies passt auch zu der Wandlung, die das lyrische Ich durchläuft. Eine Verbindung zwischen dem Wind und dem lyrischen Ich wird, wie in der ersten Strophe, durch die Personifikation des Windes hervorgerufen.
In dieser Strophe wandeln sich die Träume des lyrischen Ichs zu „sehnenden Leiden“ (Strophe 3, Vers 3). Die Sehnsucht verschwindet in der Dämmerung, womit deutlich wird, dass die Natur einen heilenden und befreienden Charakter für das lyrische Ich hat.
Die vierte Strophe thematisiert die Erkenntnis, dass der Weg „zu keinem Ziel“ (Strophe 4, Vers 2) führt. Trotzdem tut die Wanderung dem lyrischen Ich gut. Dies wird durch die Alliteration „gut zu gehen“ (Strophe 4, Vers 3) verdeutlicht. Die Natur hilft ihm bei der Verarbeitung seiner Wünsche. Somit hat auch der „rieselnde Regen“ (Strophe 4, Vers 4), der den Abschluss des Gedichts bildet, eine reinigende Funktion und nimmt dazu das Menschliche der ersten Strophe wieder auf.
Schließlich zeigt sich eine Entwicklung des lyrischen Ichs von einem Verlangen über Träumen und über sehnsuchtsvollen Leiden zu der Erkenntnis, dass das menschliche Streben nach Träumen kein Ziel hat. Trotzdem empfindet es den Weg als positiv. Die vielen Verfremdungseffekte und die Überstrukturiertheit verdeutlichen, dass die Natur einen wichtigen Beitrag bei der Bewältigung der Lebenskrise spielt.
Auffällig ist auch, dass das gesamte Gedicht die Wandlung des lyrischen Ichs zum Thema hat, aber nie ein explizites lyrisches Ich erscheint. Es tritt komplett hinter die Natur zurück.
Trotzdem kann durch die Wegsymbolik eine Identifikation des Lesers mit dem lyrischen Ich stattfinden. Zum einem versinnbildlicht der Weg die Entwicklung, die sich vollzieht. Je weiter es auf dem Weg voranschreitet, desto weiter ist auch seine Entwicklung hin zu innerem Frieden. Des Weitern kann der Leser dem lyrischen Ich auf diesem Weg folgen.
Eine weitere Auffälligkeit ist der hypotaktische Satzbau. Dieser führt dazu, dass die Sätze nicht einfach zu erfassen sind. Sie spiegeln die Verwirrtheit und Unklarheit des lyrischen Ichs wider. Aber beim genaueren Hinsehen löst sich die Konfusion und der Leser erlangt, wie das lyrische Ich, Klarheit. Den gleichen Effekt haben die häufig verwendeten Enjambements7 (vgl. Strophe 1, Vers 1; Strophe 1, Vers 2).
Außerdem fällt auf, dass nur bestimmte Artikel benutzt werden. Diese stehen in den ersten Abschnitten im Kontrast zu der unklaren Situation des lyrischen Ichs. Besonders stark zeigt sich dieser Gegensatz zum „[V]erschwimmen“ (Strophe 2, Vers 4) der Träume im zweiten Sinnabschnitt.
Zusammenfassend kann man sagen, dass der Schwerpunkt des Gedichtes auf der Natur liegt. Trotzdem bestätigt sich die oben genannte Hypothese. Es wird eine Wandlung des lyrischen Ichs beschrieben, die durch die Natur verdeutlicht wird.
Das Gedicht lässt sich gut in das Gesamtwerk des Autors Hugo von Hofmannsthal einordnen. Es zeigen sich einige für ihn sehr typische Merkmale.
Zunächst wird das Motiv der Dämmerung (beziehungsweise des Tagesanbruchs) oft von Hofmannsthal verwendet. So dient der Zustand zwischen Tag und Nacht zum Beispiel in dem Gedicht Erlebnis und dem Drama Der Kaiser und die Hexe zur Beschreibung der ambivalenten Zustände des lyrischen Ichs, beziehungsweise der Hauptfiguren.
Weiterhin hat das humane Dasein für Hofmannsthal eine große Bedeutung. Dies setzt er oft in Verbindung mit der Natur. Die genannten Aspekte zeigen sich auch in dem vorliegenden Gedicht.