Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
„Echte Liebe“ und „feste Beziehungen“ gibt es in unserer Gesellschaft heute immer seltener. Immer mehr Ehepaare lassen sich scheiden, es gibt kaum noch Hochzeiten und es ist modern sogenannte „offene Beziehungen“ miteinander einzugehen. Bei vielen Paaren treten dadurch Unsicherheiten auf, die oft sogar zu einem Ende der Ehe bzw. der Partnerschaft führen können. Der Unsicherheit innerhalb einer Beziehung hat sich auch der Autor Hugo von Hofmannsthal in seinem 1896 verfassten Gedicht „Die Beiden“ gewidmet. Durch einen Becher symbolisiert er darin die zunächst sicher geglaubte Liebe der beiden Partner, die jedoch zuerst ins Wanken gerät und schließlich auseinanderbricht.
Das lyrische Werk umfasst drei Strophen. Während die erste Strophe die Frau und die zweite Strophe den Mann thematisieren, befasst sich der dritte Abschnitt mit dem Zusammentreffen der Partner und schließlich auch dem Ende ihrer Beziehung. Da es in dem Werk ausschließlich um die Liebe und Beziehung der beiden Handelnden geht, lässt sich das Gedicht „Die Beiden“ in die Liebeslyrik einordnen.
In den ersten vier Versen charakterisiert Hofmannsthal den Gang der Frau als „leicht und sicher“ (V. 3). Im übertragenen Sinn steht diese Aussage für die Leichtigkeit, Fröhlichkeit und Sicherheit der Beziehung. Es springt kein Tropfen aus dem Becher, d. h. von der Liebe der beiden Personen und ihren Gefühlen füreinander geht nichts verloren.
Auch in Strophe zwei wird der Mann als sehr „leicht und fest“ (V. 5) dargestellt; jedoch sorgt er durch seine „nachlässige Gebärde“ (V. 7) für erste Unruhe und bringt das Pferd auch nur in zitterndem Zustand zum Stillstand.
Dadurch entsteht plötzlich Unsicherheit zwischen Mann und Frau, denn das Beben setzt sich auch im dritten Abschnitt fort. Es findet folglich „keine Hand die andre“ (V. 13) und der Becher fällt auf den Boden, was den Wein – symbolisch für die Liebe stehend – auslaufen lässt.
Auch sprachlich lässt sich dieser Wandel der Ereignisse deutlich erkennen.
Schon der Titel macht deutlich, dass es im Gedicht um zwei Personen und ihre Beziehung zueinander geht. Verstärkt wird dieser Aspekt durch die Verwendung der Personalpronomen1 „Sie“ (V. 1) und „Er“ (V. 6). Da im ersten Absatz nur von ihr die Rede ist und die zweite Strophe nur von ihm handelt, wird zugleich die Antithetik, sowie die verschiedenen Unterschiede der beiden handelnden Personen klar.
Doch am Anfang stimmt in der Liebesbeziehung noch alles und die Protagonisten gehen „leicht und sicher“ (V. 3) bzw. reiten mit „leicht[er] und fest[er]“ Hand (V. 5) aufeinander zu.
Auch die Wortwahl spricht vorerst für eine gute, intakte Beziehung. Am Anfang ist alles „leicht“ (V. 3), „sicher“ (V. 3) und „fest“ (V. 5), auch das „junge Pferd“ (vgl. V. 6) macht einen positiven Eindruck auf den Leser. Doch plötzlich tauchen erste Probleme auf. Er muss das Pferd „mit nachlässiger Gebärde“ zum Stehen zwingen. Plötzlich gerät die Situation außer Kontrolle, da das Pferd nur „zitternd“ (V. 8) steht. Jetzt ändert sich auch die Wortwahl deutlich und erzeugt nun eine negative Wirkung. Wörter wie „bebten“ (V. 12), „schwer“ (V. 11) und „Erzwang“ (V. 8) rücken die Handlung in ein sehr negatives Licht.
Unterstützt wird diese These zusätzlich durch bewusst gesetzte Stilmittel.
Zu Beginn des Gedichts werden Kinn und Mund der Frau noch mit dem Becherrand verglichen, beides Symbole für etwas Gerades, d. h. der Becherinhalt ist noch gerade, wackelt nicht und droht nicht auszulaufen. Auch ihr leichter und sicherer Gang (vgl. V. 3) und parallel dazu auch die leichte und feste Hand des Mannes (vgl. V. 5) sprechen eine eindeutige Sprache.
Weiterhin wird durch die Personifikation2 von „Kein Tropfen aus dem Becher sprang“ (V. 4) beschrieben wie intakt die Beziehung ist. Doch nachdem die ersten Unsicherheiten auftreten, wird der „leichte[...] Becher“ (V. 10) auf einmal „beiden allzu schwer“ (V. 11). So schwer, dass sie sich beide nicht finden – ausgedrückt durch die symbolische Bedeutung ihrer Hände. Auch die Epipher „Hand“ (V. 1, V. 5, V. 9), die der Autor jeweils im ersten Vers jeder Strophe eingesetzt hat, macht noch einmal deutlich, welche Wichtigkeit die Hände in Hofmannsthals Gedicht besitzen.
Am Ende wird der dunkle Wein, der Inhalt des Bechers, zum Symbol für die endende Liebe bzw. das Ende ihrer Gefühle füreinander. Auch farblich ähneln sich Liebe und dunkler Wein, beide haben rot als Symbolfarbe. Die dunkelrote Farbe des Weines könnte jedoch auch für eine blutrote Färbung stehen, die den Schmerz über die verlorene Liebe symbolisiert.
Da Liebeskummer etwas Menschliches ist, wird diese These auch durch die Personifikation „rollen“ (V. 14) verstärkt.
Auch mit formalen Aspekten lässt sich die Liebesgeschichte in Einklang bringen.
Das Gedicht besteht aus drei Strophen, wobei die letzte Strophe nicht aus vier – wie die ersten beiden – sondern aus sechs Versen besteht. Dadurch ähnelt der Aufbau recht deutlich dem eines barocken Sonetts, welches aus zwei Quartetten und zwei Terzetten besteht. Teilt man die letzte Strophe in der Mitte, so entstehen diese beiden Terzette auch im vorliegenden Gedicht. Doch auch sonst finden sich Anklänge an das Sonett3.
So kann man zum Beispiel schon in den ersten beiden Quartetten die Gegensätzlichkeit beider Partner erschließen. Werden im Barock in der ersten beiden Strophen These (1. Strophe) und Antithese4 (2. Strophe) vorgestellt, so befasst sich die erste Strophe des vorliegenden Gedichts ausschließlich mit der Frau, während in der zweiten Strophe der Mann die zentrale Rolle spielt. Die Frau ist also im übertragenen Sinn die „These“, während sich Strophe zwei mit dem Mann als „Antithese“ befasst.
Ein weiteres Merkmal des Sonetts – das Fazit bzw. das Ergebnis im letzten Terzett – ist ebenfalls im vorliegenden Gedicht übernommen worden. „Beide bebten sie so sehr“ (V. 12), schließlich findet „keine Hand die andre“ mehr (V. 13) und die Liebe endet schließlich bzw. „dunkler Wein am Boden rollte“ (V. 14). Das Gedicht „Die Beiden“ kann also als „abgewandeltes“ Sonett bezeichnet werden.
Das Metrum5 – ein vierhebiger Jambus – wird bis auf eine Ausnahme eingehalten. Interessanterweise befindet sich diese Ausnahme genau an der Stelle, an der das Unglück seinen Lauf nimmt. Spiegelt der Jambus sonst den Gang der Frau bzw. das Reiten des Mannes wider, so wird in dem Moment als der Mann seine „nachlässige[...] Gebärde“ (V. 7) einsetzt das Metrum kurzzeitig unterbrochen.
Auch dem Reimschema kommt eine besondere Bedeutung zu.
Liegt bei der Beschreibung der Frau in Strophe eins noch ein Paarreim vor, so wird der Mann im umarmenden Reim beschrieben. Dieser Unterschied könnte ebenfalls den Gegensatz der beiden Partner hervorheben. Ein richtig komplexes Reimschema tritt schließlich in der dritten Strophe, beim Zusammentreffen der beiden Personen, auf. Es handelt sich hierbei um einen Kreuzreim, in dem ein Paarreim verflochten wurde. Diese Komplexität soll ebenfalls die Spannungen und Probleme innerhalb der Beziehung verdeutlichen.
Alles in allem lässt sich meine Deutungshypothese, dass das Gedicht von einer zuerst sicher geglaubten Liebe handelt, die jedoch am Ende unerfüllt bleibt, bestätigen und sich eine Einheit von Inhalt, Sprache und Form bilden.
Hugo von Hofmannsthal verwendet viele Symbole und möchte mit der Darstellung dieser Szene eigentlich etwas anderes sagen: Es geht hier nicht um den Becher, sondern um Liebe und Gefühle der beiden Partner. Somit lässt sich das Gedicht eindeutig der Epoche des Symbolismus zuordnen. Dafür spricht übrigens auch das Nichtvorhandensein eines lyrischen Ichs. Das Gedicht wird vielmehr von einem neutralen Beobachter geschildert, ebenfalls ein Merkmal, welches die „Esoteriker des Ästhetizismus“ - wie die Symbolisten auch genannt werden – häufig eingesetzt haben.
Auch wenn das Gedicht schon vor über 110 Jahren verfasst wurde, so hat es dennoch nicht an Aktualität eingebüßt. Im Gegenteil: Es gibt immer mehr Beziehungen, in denen die Gegensätze zu groß sind um zu bestehen.
Vielleicht liegt es ja an der – ebenfalls im Gedicht thematisierten – Unsicherheit der Beiden. So könnte man eine Quintessenz des Gedichts auch in unser hier und jetzt übertragen, nämlich, dass es wichtig ist die Unsicherheit innerhalb einer Beziehung zu überwinden, denn auch in einer perfekt geglaubten Beziehung kann Unsicherheit zum endgültigem Aus der Partnerschaft führen.