Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Viele Menschen fühlen sich ihrer Heimat stark verbunden. Falls sie diese darum aus irgendeinem Grund verlassen müssen, kann das zu einigen Problemen für sie führen. Während der Zeit des dritten Reiches mussten jedoch viele Menschen, darunter auch Schriftsteller, aus ihrer Heimat fliehen und im Exil leben. Dadurch wurden vielen von ihnen zu Heimatlosen, die sich im Ausland zurechtfinden mussten. Das Leben dieser Schriftsteller im Exil wird auch häufig in der Literatur thematisiert, wie zum Beispiel in Hilde Domins Gedicht „Fremder“.
Im Gedicht „Fremder“ wird die Problematik der Heimatlosigkeit thematisiert, durch die das lyrische Ich überall fremd ist und mit der der so entstehenden Orientierungslosigkeit kämpft.
Das Gedicht besteht aus zwei Teilen: Der erste Teil umfasst sechs Strophen mit abwechselnd fünf und zwei Versen, der zweite Teil drei Strophen mit ebenfalls unterschiedlicher Anzahl an Versen. Diese schon äußerlich erkennbare Unregelmäßigkeit führt sich im Versmaß und in der Abfolge der Kadenzen1 fort, denn auch dabei gibt es kein festes Muster. Auffällig ist zudem, dass im gesamten Gedicht kein einziger Reim vorkommt. Dieser unregelmäßige Aufbau des Gedichts spiegelt den Inhalt und die Gefühlslage des lyrischen Ichs wider, denn auch das lyrische Ich ist nicht in feste Strukturen eingebunden, sondern ist aufgrund seiner Heimatlosigkeit orientierungslos und durcheinander.
Zu Beginn wird die Situation des lyrischen Ichs in Bezug zu seinen Mitmenschen durch Vergleiche dargestellt. Es sagt über sich aus, dass es „durch jedes Netz“ (V. 1) fällt. Das Netz zwischen den Menschen besteht aus den sozialen Bindungen, und steht so sinnbildlich für die gesellschaftliche Struktur. Da dieses Netz das lyrische Ich nicht auffängt, wird verdeutlicht, dass es keinen festen Bezugspunkt hat, also keine langjährigen Freunde oder Familie. Dabei wird es mit einem „Tote[n]“ (V. 2) verglichen, es kann sich also nicht dagegen wehren oder versuchen, die Situation zu verändern. Dieser Vergleich kann sich sowohl auf den ersten Vers als auch auf den dritten beziehen. Die Aufteilung der Strophen lässt vermuten, dass er zum ersten Vers gehört, inhaltlich und grammatikalisch lässt er sich aber eher dem darauffolgenden Vers zuordnen. Durch diese Unklarheit entsteht ein Bruch im Lesefluss, der dem Leser die Orientierungslosigkeit des lyrischen Ichs verdeutlicht, da auch er sich erst im Gedicht „orientieren“ muss. Der dritte Vers wiederholt inhaltlich den ersten, nur die Satzstruktur ist verändert. Mit Hilfe der Wiederholung wird nochmals die Aussichtslosigkeit des lyrischen Ichs gezeigt, denn es wird betont, dass es seinen Platz in der Gesellschaft nicht gefunden hat und nimmt auch die Hoffnung, ihn eines Tages zu finden. Das wird noch durch die Verwendung des Wortes „jedes“ (V. 1) verstärkt, denn es zeigt, dass es in keiner Gesellschaft zu Hause ist. Daraufhin wird das Ich mit einem „Samenkorn ohne Erde“ verglichen. Ein Samenkorn steht normalerweise für etwas Neues oder einen positiven Neuanfang, da eine neue Pflanze, also ein neues Leben, daraus entstehen kann. Die Chance auf einen solchen Neuanfang wird hier dem Sprecher jedoch genommen, da die „Erde“ (V. 4) fehlt. So hat er keine Entfaltungsmöglichkeiten, kann sich nicht verwirklichen und sein Potenzial nicht ausschöpfen. Das lyrische Ich kann jedoch nicht nur durch das Netz fallen, sondern auch daraus „empor“gehoben (V. 7) werden. Die Heimatlosigkeit muss also nicht nur negativ sein, denn eine fehlende Bindung an einen festen Ort macht auch freier. Darum kann sich das lyrische Ich treiben lassen (vgl. V. 6) und hingehen und machen, was es will. Das Wort „schwerelos“ verdeutlicht nochmals, dass es dabei an nichts gebunden ist. Das Netz, also die Gesellschaft, kann also zwei Rollen spielen: es kann einen auffangen und Halt und Ordnung geben, andererseits aber auch einengend wirken und den Menschen gefangen halten. Somit wird die Ambivalenz der Heimatlosigkeit deutlich: man ist zwar frei, hat aber auch keine feste Orientierung und keinen sicheren Halt.
Im Gegensatz zum lyrischen Ich sind die anderen Menschen fest in der Gesellschaft verankert. Sie bilden ein „Gespinst von Wegen“ (V. 8), sind also fest miteinander verbunden und ihre Leben miteinander verflochten. Dieser Aspekt wird zusätzlich betont, da „Gespinst von Wegen“ (V. 8) und „eng verknüpft“ (V. 9) eine ähnliche Aussage haben, da sie beide die soziale Verankerung der Menschen verdeutlichen und so die Aussage doppelt wirkt. Die übrigen Menschen haben also eine Heimat, egal wo man ist (vgl. V. 8). Der sich daraus ergebende Gegensatz zwischen dem Leben des lyrischen Ichs und dem der übrigen wird durch das persönlich wirkende Pronomen „ich“ (V. 8) verstärkt, da es zeigt, dass es eine strikte Trennung zwischen dem Ich und den anderen gibt und das Ich kein Teil der übrigen Gesellschaft ist. Diese Trennung ist nicht zu beenden, da die Beziehungen so „eng verknüpft“ (V. 9) sind, dass es für das lyrische Ich kein Durchkommen gibt. Das lässt den Schluss zu, dass die Gesellschaft keine Toleranz und Offenheit für Neues zeigt, da sie sich nur auf bereits bestehende Dinge konzentriert und z. B. fremde Menschen ausschließt.
Die nächste Strophe schildert das geordnete Leben der anderen. Ein solches Leben ist „in jeder Stadt“ möglich, ist also nichts besonderes und alle Menschen führen ein mehr oder weniger ähnliches Leben. Die Stationen eines solchen typischen Lebens werden symbolhaft durch verschiedene Gegenstände dargestellt. Zu Beginn kommt die Kindheit, die durch das „Spielzeug“ (V. 12) repräsentiert wird. Diese Kindheit ist darum idealerweise unbeschwert und fröhlich, da Kinder beim Spielen ihrer Fantasie freien Lauf lassen können und tun und lassen können, was sie wollen. Spielen steht folglich für diese Unbesorgtheit und Freiheit. Das „Hochzeitslaken“ (V. 12) steht für einen neuen Lebensabschnitt nach der Heirat, bei dem das Familienleben im Vordergrund steht. Die Familie bleibt bis zum Tod sehr wichtig, denn das Grab soll „bei dem Sarg der Mutter“ (V. 14) sein. Diese Stationen gehen fließend ineinander über, was die mit „und“ (V. 11f) verbundene Reihung ausdrückt, und sind mehr oder weniger gleich für alle Menschen. Diese Gleichheit wird durch die Verwendung des unpersönlich und distanziert wirkenden Pronomens „sie“ (V. 11) verdeutlicht, denn die anderen Menschen werden so zu einer Masse zusammengefasst und zählen nicht mehr als Individuum. Dadurch wird nochmals die Situation des lyrischen Ichs verdeutlicht, denn es ist somit praktisch der einzige Mensch, der ein Leben außerhalb dieser Normen führt und ist darum allein und ohne festen Halt.
Die gegensätzliche Haltung wird nochmals in der folgenden Strophe aufgezeigt, denn dort bezieht das lyrische Ich Stellung zu dem Leben der anderen und grenzt sich selbst von ihnen ab, indem es erklärt, dass es nichts braucht (vgl. V. 15). Die Wiederholung von „brauchen“ (V. 11 und 15) verdeutlicht die divergierenden Sichtweisen. Der Sprecher braucht also nicht die Dinge, die die anderen für ein erfülltes Leben benötigen, wie z. B. eine Familie. So erweckt er den Eindruck, dass es mit seiner Heimatlosigkeit zufrieden ist und gar nicht an Personen wie z. B. die Familie gebunden sein möchte. Genauso wenig möchte er die Bindung an einen Ort, denn er „kommt und geht“ ohne länger zu bleiben. Seine „offenen Hände“ (V. 16) dabei zeigen, dass er dabei auf andere zugeht und interessiert und offen für sie ist.
Diese Offenheit zeigt sich auch darin, dass das lyrische Ich die gleiche Sprache spricht, was die übrigen überrascht, weshalb es sich wahrscheinlich nicht um seine Muttersprache handelt. Es versucht sich, durch die Sprache an die anderen anzupassen. Trotzdem wird es von den anderen nicht als einer von ihnen anerkannt und bleibt ein Fremder, da sie sich über sein Sprachvermögen wundern. „Der Fremde, der ihre Sprache spricht“ (V. 20f) wird also zwar respektiert, aber nicht wirklich in die Gemeinschaft mit eingeschlossen. Die Sprache spielt als Schlüsselelement der gegenseitigen Verständigung eine sehr wichtige Rolle für soziale Bindungen. Nur wenn man sich auf sprachlicher Ebene versteht, kann auch ein geistiges gegenseitiges Verständnis und eine tiefere Beziehung entstehen. Darum wird das Wort „Sprache“ (V. 17 und 21) und das dazugehörige Verb sprechen auch wiederholt verwendet. Eine gemeinsame Sprache ist aber trotzdem kein Garant für geglückte menschliche Beziehungen, denn trotz der gemeinsamen Sprache bleibt das lyrische Ich ein Fremder. Es kommt nur zu einer oberflächlichen Beziehung, die zwar von Respekt geprägt ist, dem lyrischen Ich aber keinen festen Bezugspunkt oder eine Heimat bietet. Diese erwähnte Beziehung wird im zweiten Teil des Gedichts beschrieben.
Das Leben des lyrischen Ichs kann als immerwährende Reise beschrieben werden, dass es nirgendwo zu Hause ist und sich immer an anderen Orten aufhält. Auf dieser Reise gibt es keine Konstanz, denn vor dem lyrischen Ich „wird aufgebaut“ (V. 22), dahinter „abgebaut“ (V. 23). Das zeigt, dass das lyrische Ich in der Gegenwart lebt, denn die Zukunft muss erst neu gebaut werden, unterscheidet sich also vom jetzigen Zustand. Gleichzeitig wird die Vergangenheit abgebaut, das lyrische Ich zieht also weiter und lässt das Vergangene vergangen sein. Mögliche bestehende Bindungen werden darum aufgelöst, wenn das heimatlose Ich weiter zieht, sodass es, falls es zurück kehrt, dort von vorne anfangen muss. Das Leben geschieht auf einer „Bühne aus sehr dauerhaften Häusern, Strassen und Bäumen“ (V. 24f). Der Ort, an dem man sich gerade befindet, dient also nur als Kulisse und ist darum für das Leben kaum von Bedeutung. Dieser Vergleich unterstreicht die Ansicht des lyrischen Ichs, das sich mit der Heimatlosigkeit anscheinend arrangiert hat, denn es hält einen festen Wohnsitz darum nicht für notwendig. Im folgenden schildert das lyrische Ich eine typische Szene aus seinem Leben. Wenn es an einen Ort kommt, empfängt man es freundlich und richtet ihm einen „Platz, Stühle, ein Tisch“ (V. 27), danach bekommt es „Kaffee“ (V. 28). Es handelt sich also um alltägliche Dinge, die zwar Freundlichkeit und Respekt gegenüber dem Sprecher zeigen, aber auch von der mangelnden Intensität der Beziehungen zeugen, denn es ist eben nichts besonderes. Das wird auch dadurch verdeutlicht, dass es sich beim Gastgeber nicht um einen Freund oder ein Familienmitglied handelt, sondern nur um einen „Kellner“ (V. 29). Der Sprecher ist also immer nur zu Besuch und folglich nirgendwo wirklich zu Hause. Hier wird das Motiv der Sprache erneut aufgegriffen, denn auch hier spricht das lyrische Ich die Sprache des Kellners. Die Bedingung für gegenseitiges Verständnis ist also gegeben, trotzdem entsteht aber keine vertiefte Beziehung. Denn auch den Abend verbringt das lyrische Ich alleine in einem Hotelzimmer, also einem von den übrigen Bewohnern der Stadt relativ isolierten Ort. Zudem ist das Hotel „laut“ (V. 32), ist also nicht unbedingt schön und einladend. Dieses Hotel befindet sich „Stunden entfernt“, das lyrische Ich reist also viel. Durch das ständige Reisen bleibt es nie lange genug an einem Ort, um dort wirklich Fuß zu fassen und vollständig integriert zu werden. Man sorgt sich zwar um den Sprecher, aber nur so weit wie unbedingt nötig, denn ihm wird das Zimmer vorbereitet, aber es wartet z. B. niemand am Bahnhof auf ihn. Gerade das sehnliche Warten auf jemanden wie z. B. am Bahnhof zeigt aber die Verbundenheit zweier Menschen, darum wird hier nochmals gezeigt, dass das lyrische Ich keinen festen Freundeskreis oder eine Familie hat.
In der letzten Strophe wird das einzig Dauerhafte im Leben des Ichs und ein möglicher Ausweg aus der Heimatlosigkeit aufgezeigt: die Liebe. Die Liebe wird bildlich als „Tuch“ (V. 35) dargestellt, das das lyrische Ich umhüllt (vgl. V. 34f) und somit komplett erfüllt. Es ist das „einzige[...] Kleid“ (V. 37), das es besitzt. Da es der einzige Besitz an Kleidungsstücken ist, ist die Liebe das einzige Dauerhafte und Haltgebende in dessen Leben. Das Tuch ist allerdings „schon dünn“, trägt also die Spuren der Vergangenheit mit sich. Das zeigt, das Liebe allein keinen wirklichen Ausweg aus der Heimatlosigkeit darstellt und mit der Zeit abnehmen kann. In diesen Versen wird mit der Wendung „deiner Liebe“ (V. 36) auch zum ersten Mal eine konkrete Person erwähnt, was die Beziehung zwischen dem lyrischen Ich und dem Du auf eine persönlichere Eben stellt. Die Erinnerung an die Liebe durch das „Lächeln“ (V. 41), das wahrscheinlich auf den Geliebten bezogen ist, zeigt, dass die Liebe noch große Auswirkungen auf den Sprecher besitzt. Denn in dem „Licht“ (V. 38) dieses Lächelns lebt er heute immer noch. „Licht“ (V. 38) verdeutlicht Helligkeit und Klarheit und steht so für die positiven Seiten des Lebens, wortwörtlich im Gegensatz zu dessen Schattenseiten. Trotz dieser positiven Darstellung ist das Lächeln „längst erloschen“ (V. 40), die Liebe der beiden ist also in der Gegenwart nicht mehr präsent. Warum das so ist bleibt offen, der Geliebte könnte gestorben sein, weil dessen „Lächeln“ (V. 41) „erloschen“ (V. 40) ist, es kann sich bei dem Geliebten aber auch um eine weitere der vielen Stationen im Leben des lyrischen Ichs handeln, weil er auch als „fern“ (V. 39) beschrieben wird. Es hat vielleicht einige Zeit in Liebe mit ihm verbracht, ist danach aber weitergezogen und hat die Beziehung abgebrochen und ist wieder auf sich allein gestellt, wie es in den oberen Strophen beschrieben wurde. Gleichzeitig hängt das lyrische Ich immer noch an der Liebe, was dessen Orientierungslosigkeit verdeutlicht, da es an Dingen festhält, die nicht mehr existieren und so den Bezug zur Realität verliert.
In dieser Strophe wie auch im gesamten Gedicht wirkt die Sprache sehr persönlich, was an der Häufung von Pronomen in der Ich-Form liegt wie z. B. „Ich“ und „mich“ (V. 6). Betont wird diese Subjektivität mit Hilfe von Anaphern2 nochmals durch die hervorgehobene Stellung am Satzanfang (vgl. V. 1, 15, 20, 29, 34, 38).
Zudem liegen im gesamten Gedicht viele Enjambements3 vor, die das Gedicht etwas zerstückeln und zu einer Unregelmäßigkeit führen, was die Orientierungslosigkeit des lyrischen Ichs verdeutlicht.
Die Darstellung des lyrischen Ichs im Gedicht zeigt biographische Bezüge zur Autorin und lässt vermuten, dass Hilde Domin darin ihre eigene Situation beschreibt. Sie wurde 1909 in Deutschland in einer jüdischen Familie geboren und musste zur Zeit des dritten Reiches im Exil leben. Sie musste ihren Wohnsitz häufig wechseln und lebte in vielen verschiedenen Ländern. Trotzdem fühlte sie sich dort nicht wirklich zu Hause, sondern blieb immer eine Fremde. Genauso wie das lyrische Ich reiste sie also von einem Ort zum anderen, ohne dort Wurzeln zu schlagen, was ein Gefühl der Heimatlosigkeit und der Orientierungslosigkeit hervorruft.