Novelle: Die Marquise von O.... (1808)
Autor/in: Heinrich von KleistEpochen: Weimarer Klassik, Romantik
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Die von Heinrich von Kleist verfasste Novelle „Die Marquise von O…“ (1808) thematisiert eine skandalöse und außereheliche Schwangerschaft einer Adeligen, die sich strengen Normen und Konventionen ihrer Zeit unterwerfen muss, mit denen sich der Autor gesellschaftskritisch auseinandersetzt, um die bürgerliche Doppelmoral vor Augen zu führen.
Der vorliegende Novellenauszug (S. 39-44) zeigt zunächst ein Gespräch zwischen den Eltern der Protagonistin und anschließend eines zwischen ihr und der Mutter. Zuvor wurde die Protagonistin – die Marquise von O… - aus ihrem elterlichen Haus verbannt, als ihre unwissentliche und außereheliche Schwangerschaft durch eine Diagnose eines Arztes und einer Hebamme bekannt wurde. Nach einer kurzen Dauer der Selbstfindung entscheidet sich die Marquise, den Kindesvater durch eine Zeitungsannonce ausfindig zu machen. Dieser bittet – ebenfalls in einer Zeitungsannonce – am Dritten… im Hause ihrer Eltern zu erscheinen.
Der zu analysierende Auszug zeigt nun die Reaktion der Eltern. Beide sind sichtlich überfordert und können ihren Augen nicht trauen. Der Vater ist von einer List der Tochter überzeugt, anders als seine Frau, die an der Schuld der Marquise zweifelt. So beschließt sie durch eine List die Ehrlichkeit ihrer Tochter auf die Probe zu stellen. Obwohl ihr Mann dies untersagt, widersetzt sie sich seinem Willen und reist nach V…, um die Marquise zu sehen. Es stellt sich heraus, dass die Tochter tatsächlich nicht den Kindesvater kennt, sodass es zu einer emotionalen Versöhnung der beiden kommt. Im Folgenden reisen Mutter und Tochter ins elterliche Haus zurück. Die Mutter verlangt die väterlich-töchterliche Versöhnung und es kommt zu einer sehr intimen Versöhnung zwischen Vater und Tochter, die stark inzestuös wirkt.
Die Reaktion der Eltern auf die Zeitungsannonce spiegelt deutlich ihre Überraschung wider. So „ver[geht] [der Obristin](…) die Sprache“ (Z. 9 f.) und sie muss zur Vergewisserung das Blatt dreimal (!) durchlesen (vgl. Z. 13). Dies zeigt, dass sie mit einer solchen Wende der Situation nicht gerechnet hat. Ihre überwältigende Reaktion führt zunächst zu Sprachlosigkeit, sodass ihre Ungläubigkeit lediglich an ihrer Körpersprache (wie dem Erzähler) ablesen lässt (vgl. Z. 9-13). Nach einem kurzen Moment der Fassungslosigkeit spricht sie ihren Mann auf die Seite an (vgl. Z. 14). Dabei begegnet sie ihm auf Augenhöhe, da sie ihm beim Vornamen anspricht (vgl. ebd.) und ihn duzt (vgl. Z. 15). Durch das Erkunden nach seiner Meinung (vgl. ebd.) wird deutlich, dass ihr die Meinung ihres Mannes wichtig ist, was die Rolle des Mannes als Familienoberhaupt unterstreicht. Dieser reagiert aufbrausend in einem Wutanfall (vgl. Z. 15-20). Seine aufbrausende Wut wird durch seine Körpersprache (vgl. Z. 16) und die Verwendung von zahlreichen Ausrufezeichen (vgl. Z. 16-20) deutlich. Seine überlegene Position demonstriert er, in dem er sich erhebt (vgl. Z. 16). Durch die wiederholten Ausrufe „O die Schändliche“ (Z. 15 f.) und „O die (…)“ (Z. 16) wird seine agitierte Haltung verdeutlicht. Besonders der Vergleich mit einer schamlosen Hündin (vgl. Z. 17 f.) zeigt sein verachtendes Verhalten gegenüber der Marquise und das Festhalten an gesellschaftlichen Konventionen, die durch Tugend und Sittenhaftigkeit geprägt sind. Durch die Verwendung des Komparativs „treuer“ (Z. 20) unterstreicht er seine Aussage einer frevelhaften und sittenwidrigen Tochter. Das Bild eines dominanten und männlich auftretenden Patriarchen gerät ins Wanken, als er anfängt zu jammern (vgl. Z. 21) und trotz seiner Position des Obristen, die Selbstzucht erfordert, nicht beruhigen kann (vgl. ebd.). Er kann seinen Emotionen keinen Ausdruck verleihen, sodass sich seine Gefühle in seinem Verhalten und der Körpersprache widerspiegeln. Seine Frau hinterfragt seine Ansichten, in dem sie seine Argumentation ins Wanken bringt (vgl. Z. 22-24). Dies entspricht nicht dem typischen Rollenbild der damaligen Zeit, da sie es wagt, die männlichen Ansichten zu hinterfragen, obwohl der Mann die Funktion als Hüter der Familie hat. Ihr Mann führt ihr die Absurdität ihrer Idee vor Augen, als er mit einer rhetorischen Frage entgegnet: „Was sie damit bezweckt?“ (Z. 23 f.) und als Erklärung die Durchsetzung der Betrügerei seiner Tochter anführt (vgl. Z. 24f.). Sein Sarkasmus, den er mit einem Diminutiv2 unterstreicht „Mein liebes Töchterchen“ (Z. 28), zeigt, dass er das Sagen im Hause hat und er sich der Aufforderung der Seite nicht hingeben wird. Durch die Verwendung des Diminutivs „Töchterchen“ (ebd.) verdeutlicht er, dass seine Tochter ihm in der familiären Hierarchie weitaus unterlegen ist und impliziert somit eine allgemeine Überlegenheit, d. h. auch gegenüber seiner Frau. Seine ironische und sarkastische Sprechweise (vgl. Z. 29f.) soll die weibliche Unterlegenheit betonen und soll außerdem eine Grenzüberschreitung der Frau implizieren. Dies kann als Drohung verstanden werden, dass es nicht in der Natur der Frau liegt, seine Entscheidungen kritisch zu hinterfragen. Es wird deutlich, dass ein gesellschaftlicher Fehltritt (hier: die außereheliche Schwangerschaft der Marquise) der Familienmitglieder ernsthafte Konsequenzen hat und dies den Familienfrieden dauerhaft stört und beeinträchtigt. Die Familie ist ein verlängerter Arm der Gesellschaft, die den strengen Normen unterliegt und diese Erwartungshaltung der Sittenhaftigkeit steht in der Obhut des Mannes. Die Rolle des Patriarchen, der für Tugend und Sittenhaftigkeit sorgt, spiegelt sich im Verhalten des Vaters wider, da er nicht zur Vergebung bereit ist und gesellschaftliche Ächtung zu minimieren versucht. Die komplizierte hypotaktische Syntax und die gehobene Sprache spiegeln ebenfalls das Bild gesellschaftlicher Normen und Konventionen wider, da er sich an ihnen orientiert. Trotz des dominanten Auftretens des Vaters ist die Obristin noch nicht überzeugt und überliest erneut die Seite (vgl. Z. 34). Sie positioniert sich auf die Seite ihrer Tochter (vgl. Z. 35-38) und somit gegen ihren Mann, den Patriarchen. Dieser verbietet solche Auffassungen, indem er sie bei Wort unterbricht (vgl. Z. 40). Er fordert sie explizit zum Schweigen auf (vgl. Z. 41) und verlässt das Zimmer (vgl. Z. 41 f.). Er geht der direkten Konfrontation aus dem Weg, indem er versucht, Probleme und Konflikte totzuschweigen. Dieses Verhalten spiegelt mangelnde Widerstandsfähigkeit wider, sodass das Bild einer starken Männerfigur ins Wanken gerät. Der Versuch, eine dominante, überlegene Führungsrolle innerhalb der Familie einzunehmen, scheitert somit immer mehr, auch wenn er versucht, seine Regeln durchzusetzen (vgl. Z. 42). Weitere Kommunikationsbarrieren werden deutlich, als der Vater den Brief der Marquise, in dem sie ihn auffordert, den Kindesvater zu ihr nach V… zu schicken (vgl. Z. 48 f.), liest und sich nicht verbal dazu äußert. Die Obristin muss somit seine Mimik deuten (vgl. Z. 51 f.). Der Obrist handelt triebgeleitet, da sein Agieren auf seinem verletzten Stolz sowie seiner Ehre basieren. Ganz im Gegensatz zu der Obristin, die rational denkt und dementsprechend handelt. Sie ist nicht von einer List der Tochter überzeugt, da sie keine Ansprüche auf eine Verzeihung erhebt (vgl. Z. 54 f.). Trotzdem handelt sie nicht wagemutig und vorschnell, sondern schmiedet einen Plan. Sie ist sich ihre unterlegene Rolle bewusst, weshalb sie ihren Mann um Erlaubnis bittet, nach V… zu fahren (vgl. Z. 61 f.). Die vermeintliche Unterlegenheit wird durch die Verwendung des Konjunktivs („erlauben wolle“, Z. 61) unterstrichen. Außerdem ist auffällig, dass ausschließlich indirekte Rede verwendet wird. Ganz gegensätzlich zu dem ersten Abschnitt des Auszuges, der auffällig viel direkte Redeanteile mit der Verwendung von Gänsefüßchen der Personen und beinhaltet und somit die emotionalen Gemütszustände widerspiegeln soll, steht der zweite Abschnitt, welcher von indirekter Rede und einem sachlich, nüchternen auktorialen Erzähler geprägt ist. Dieser soll einen kalkulierten und berechenbaren Zustand vermitteln. Zusätzlich fällt auf, dass die Obristin einen deutlichen höheren Redeanteil hat, was symbolisch für eine Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb der Familie steht. Sie hat einen festen Plan gefasst, den sie auch ohne Einwilligung ihres Mannes durchsetzen wird. Somit hat sie die Fäden in der Hand und schlüpft in die Rolle einer revolutionären, starken Frauenfigur, die nicht dem damaligen Frauenbild entspricht. Durch ihren Plan, die Ehrlichkeit der Marquise durch eine List zu erfahren, agiert sie taktisch clever und klug. Der Kommandant fühlt sich von dem starken Auftreten seiner Frau in die Ecke gedrängt, weshalb er emotional aufgeladen reagiert. In einer „plötzlich heftigen Bewegung“ (Z. 68) zerreißt er den Brief. Seine zuvor indirekte Kommunikation verläuft nun nonverbal. Dieser Wutausbruch spiegelt die Gewalt, mit der er versucht, seine Vorhaben durchzusetzen, wider, sodass er erbarmungslos erscheint. Er schlüpft in die Rolle des Patriarchen, indem er es ihr untersagt, in Kontakt mit der Marquise zu treten, was besonders durch das Machtverb „verbiete[n]“ (Z. 70) zum Ausdruck kommt. Des Weiteren siegelt er die zerrissenen Stücke ein und schickt sie an die Marquise (vgl. Z. 71 f.). Dies stellt nicht nur eine Machtdemonstration, sondern stellt ebenfalls ein Kommunikationsdefizit dar. Er ist nicht in der Lage, seine Gefühle zu verbalisieren oder in persönlichen Kontakt mit der Marquise zu treten. Seine Frau setzt trotzdem ihren Willen durch, indem sie ihr Vorhaben in aller Heimlichkeit und Hartnäckigkeit realisiert (vgl. Z. 73-76). Dies spiegelt Mut und Hartnäckigkeit wider, sich gegen den Herrn des Hauses aufzulehnen. Die Abschaffung der Marquise (vgl. Z. 81 f.) zeigt, dass sich diese immer noch in einer Selbstfindungsphase befindet und sich mit ihrem Schicksal abgefunden hat. Sie würde mit „keine[m] Menschen auf der Welt“ (Z. 86 f.) sprechen. Die Obristin reagiert jedoch selbstsicher und dominant, um ihr Vorhaben durchzusetzen (vgl. Z. 88-90). Die Marquise reagiert auf die Anwesenheit äußerst emotional, eilt zum Tor (vgl. ebd.) und wirft sich vor ihre Mutter auf die Knie (vgl. ebd.). Sie befindet sich in einem sehr aufgewühlten Zustand, sodass sie „von [ihren] Gefühlen überwältigt“ (Z. 98) ist. Auch sie kann ihre Gefühle zunächst nicht artikulieren, sodass sie körperlich mit Tränen reagiert (vgl. Z. 99). Sie spricht ihre Mutter im Superlativ „Meine teuerste Mutter“ (Z. 101) an, sodass ihre Freude deutlich wird. Dies wird besonders durch verschiedene, positiv konnotierte Adjektive und Verben wie „glücklich[er]“ (Z. 103), „unschätzbar[e]“ (Z. 104) und „verdanke[n]“ (Z. 105) unterstützt. Die vorherige Rationalität der Mutter, die durch die indirekte Rede so wie die Verwendung des Stils eines Erzählberichts repräsentiert wird, wird nun durch Emotionalität ersetzt, zunächst seitens der Tochter, dann beider Gesprächspartner, was durch die direkte Rede deutlich wird. Das Gespräch zeigt, dass die Verstoßung durch den Vater erfolgt, da sie vom „väterlichen Hause“ (Z. 108) spricht und somit klar stellt, wer das Sagen im Familienhause hat. Noch erscheint die Mutter klar und berechnend, da die Lage noch unklar ist, weshalb sie den Handkuss ihrer Tochter vermeidet (vgl. Z. 111). Die Marquise ist wahrhaftig am Wissen bezüglich des Kindesvaters interessiert und reagiert mit vielen Fragen (vgl. Z. 118-120, Z. 125). Dies spiegelt sich auch in ihrer Mimik wider (vgl. Z. 20 f.). Durch ihre Aufregung die durch ihre klopfende Brust (vgl. Z. 124) deutlich wird, erkennt man Schwierigkeiten beim Artikulieren. Dadurch wirkt sie wie ein kleines Kind, das in der Obhut der Mutter ist. Die Mutter erklärt Leopardo, der Jäger, als Kindesvater (vgl. Z. 135). So wird indirekt deutlich, dass sie nur Menschen der unteren Stände eine solche Schandtat zutraut. Dieser Eindruck wird durch die Namensgebung, der an den animalischen Bereich erinnert, verstärkt. Die Unterlegenheit und Kindlichkeit der Marquise wird dadurch unterstützt, dass ihre Sätze unvollständig sind und sie lediglich mit Fragewörtern (vgl. Z. 142) kommuniziert. Das starke einschneidende Erlebnis, das die Familienstruktur maßgeblich verändert, ist von deutlicher Wichtigkeit, was durch die Verwendung der vielen Ausrufezeichen und Ausrufe wie „O…“ (Z. 150) deutlich wird. Sexualität ist Thema der Familie, auch wenn sie tabuisiert ist und keine Offenheit erfolgt. Andererseits wird deutlich, dass alles Handeln und Tun Auswirkungen auf das Familienleben hat und individuelle Familienangelegenheit wird. Das Siezen der Mutter (vgl. Z. 165 f.) zeigt die Hierarchie der Familie und dass die Tochter der Mutter stets mit Respekt und Distanz begegnet. Es wird eine innige und sehr emotionale Mutter¬-Tochter-Beziehung deutlich, da auch die Mutter aufrichtig um Verzeihung bittet (vgl. Z. 163-165). Außerdem spricht die Mutter ihre Tochter mit „du Herrliche, Überirdische“ (Z. 164 f.) an. Das Verhalten der Mutter zeigt, dass ihre Werte wie Ehrlichkeit wichtiger als gesellschaftliche Normen sind. Der Mutter ist es wichtig, dass sie von ihrer Tochter geliebt und verehrt wird (vgl. Z. 168 f.), was zeigt, dass ihr das Erfüllen der idealen Mutterrolle wichtig ist. Ihre Worte spiegeln absolute Fürsorglichkeit und Hinwendung wider (vgl. Z. 175 f.). Die Obristin nimmt die Schande (vgl. Z. 184) der Marquise in Kauf, mit dem Ziel, den Familienfrieden herbeizuführen und zu gesellschaftlichen Normen zurückzukehren. Die Marquise wirkt sehr reflektiert (vgl. Z. 172 f.) und äußerst erfreut, den Weg in ihr vorheriges Leben zurückzufinden. Es scheint ihr wichtig zu sein, den Erwartungen einer idealen Tochter nachzukommen.
Die Analyse verdeutlicht, dass die Familienstruktur der exemplarischen Figuren der damaligen Zeit weitgehend entspricht. Der Vater steht in der Hierarchie weit oben und demonstriert seine Machtposition, die ihm zum überlegenen und dominanten Oberhaupt der Familie macht. Tatsächlich aber erfüllt er seine Rolle nur äußerlich, denn seine vermeintlich unterlegene Frau hat die Fäden in der Hand und verwirklicht ihre Pläne gegen den Willen ihres Mannes gekonnt und klug. Sie widersetzt sich der patriarchischen Struktur. Dass der Obrist dem Ideal des Patriarchen nicht voll und ganz nachkommt, wird auch durch seine sentimentale Seite und Sprachlosigkeit deutlich. Die Marquise versucht sich dem Ideal ihrer Zeit anzupassen und hat eine enge Bindung zu ihrer Mutter.