Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das, der Epoche der Romantik zuzuordnende Gedicht „Ein Fräulein stand am Meere“ wurde im Jahre 1832 von Heinrich Heine veröffentlicht. Es ironisiert eine sehr emotionale Bindung zu einem immer wiederkehrendem Naturereignis. Dem Sonnenuntergang.
Das Gedicht besteht aus zwei Strophen mit je vier Versen. Das Reimschema ist ein regelmäßiger Kreuzreim. Das Metrum1 ist ein dreihebiger Jambus.
In der ersten Strophe wird eine Frau beschrieben, die von dem Sonnenuntergang sehr gerührt ist.
Der Leser wird in das Geschehen eingeführt. In der zweiten Strophe tritt das lyrische Ich in das Geschehen ein. Er zerstört die emotionale Stimmung, indem er der Frau erklärt, das der Sonnenuntergang ein immerwiederkehrendes Ereignis ist.
Das Gedicht wirkt sehr ironisch. Dies liegt vor allem an den krampfhaften Versuchen des Autors, das Reimschema aufrecht zu erhalten. In den Versen 1 und 3 sind die angehängten Änderungen „Meere“ und „sehre“ (V. 3) sogar unnötig. Dieser Reim wirkt durch das angehängte „e“ bei „Meere“ (ein sog. Dativ-e, welches grammatisch optional angehängt werden kann) und das dadurch ebenfalls nötige (hier allerdings grammatisch falsche) „e“ bei „sehr“, stark aufgesetzt. Dies verstärkt den ironisierenden Effekt des Gedichtes. Auch der Reim innerhalb des zweiten Verses „lang und bang“ (V. 2), der sich zudem noch auf „Sonnenuntergang“ (V. 4) reimt, verstärkt diesen Effekt. Die Verniedlichung „Fräulein“ (V. 1) lässt das Gedicht fast kindlich erscheinen. „Fräulein“ ist eine in Deutschland ungebräuchlich gewordene und heute meist als Herabsetzung empfundene Bezeichnung für eine unverheiratete Frau. Zur Zeit Heines waren dies mit wenigen Ausnahmen (wie bei Lehrerinnen, dem sog. Lehrerinnenzölibat) fast ausschließlich junge Frauen. Damit wird die Frau in diesem Gedicht subtil als naiv dargestellt. In der ersten Strophe bedient sich Heine mehrerer Klischees und Motive hinsichtlich der Romantik. Es werden insbesondere das Motiv der Sehnsucht, der Einsamkeit und des Blicks in die Vergangenheit (der untergehenden Sonne) und ins Unendliche (Sonne und das weite Meer) aufgegriffen. Das tiefe Seufzen der Frau (V. 2), welche von der Beobachtung eines alltäglichen Ereignisses geradezu von Weltschmerz ergriffen zu sein scheint, ist ebenfalls ein klischeehafter Griff in die Werkzeugkiste der Romantik.
In der zweiten Strophe bietet das lyrische ich, sehr ironisch einen Lösungsvorschlag für die Sehnsucht der Frau an, indem er ihr das Naturereignis kurz und plausibel erklärt. Die Beschreibung des Sonnenuntergangs als „altes Stück“ (V. 6), lässt diesen sehr negativ und fast abschätzig wirken. Der Sonnenuntergang wird in der Literatur häufig als ein erhabenes Naturschauspiel beschrieben. Hier wird dies durch oben beschriebene Bezeichnung als „altes Stück“ (V. 6) parodiert. Der Sonnenuntergang wirkt wie ein altes Theaterstück was man schon in- und auswendig kennt und welches sprichwörtlich alltäglich aufgeführt wird. Hier findet eine Deromantisierung statt. Das sonst so romantische Motiv des Sonnenuntergangs wird mit einem langweiligen und immer wiederkehrenden Ereignis verglichen. Die saloppe und beschwingte Anrede des lyrischen Ichs („Mein Fräulein“, V. 5) steht im Kontrast zur traurig wirkenden Frau in der ersten Strophe. Die darauffolgende kurze und einfache, sowie mit spöttischem Unterton verkündete Erklärung des Naturschauspiels lässt das Gedicht endgültig ins Komische abgleiten.
Des Weiteren findet ein Stilbruchwechsel statt, indem die Redeform gewechselt wird. Zuerst beschreibt das lyrische Ich die Szene, springt dann jedoch direkt in die Szenerie und spricht die Frau direkt an. Dies wirkt sehr untypisch für ein Gedicht. Außerdem wird die in der ersten Strophe vorherrschende romantische Stimmung mit einer banalen Erklärung, der Erklärung des Sonnenuntergangs zerstört.
Das Gedicht lässt sich der Epoche der Romantik zuordnen, jedoch ist Heinrich Heine kein klassischer Romantiker, sondern auch ein Antiromantiker. Er ironisiert und parodiert die romantischen Themen. In diesem Gedicht parodiert der Autor das Motiv der Nacht und des Sonnenuntergangs, dies wird vor allem durch die in der ersten Strophe verursachten romantische und idyllische Stimmung deutlich, die in der folgenden Strophe vom lyrischen Ich regelrecht zerstört wird. Besonders wird hier die vergangenheitsgerichtete Wahrnehmung und Verklärung der Romantiker karikiert. Während das „Fräulein“ noch verträumt der Sonne nachschaut und damit den Blick in die Vergangenheit des verstrichenen Tages richtet, merkt sie nicht, dass hinter ihr bereits die Zukunft des neuen Tages zu dämmern beginnt. Die Hinwendung zur Vergangenheit ist ein zentraler Kritikpunkt Heines an den Romantikern, welche sich oft in ein stark idealisiertes Mittelalter und in die Zeit, als es in Europa noch einen gemeinsamen Glauben vor der Reformation gab, zurück versetzen und sich derer Motive und Themen (Burgen, Märchen, Christentum etc.) bemächtigen. Gleichwohl ist die erste Strophe, würde man sie isoliert betrachten, eindeutig der Romantik zuzuordnen. Diese bei Heine oft anzutreffende Art der Montage und Demontage der Romantik führt dazu, dass Heine sich selbst als „entlaufenen Romantiker“ bezeichnet hat.
Abschließend kann gesagt werden, dass der Autor sich verschiedener Techniken bedient um die oben genannten romantischen Motive zu entromantisieren. Dazu gehört die Verwendung von Ironie, ein abrupter Stimmungswechsel, aufgesetzt wirkende Reime und die Verwendung eines unregelmäßigen Versmaßes.