Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Aus alten Märchen“ von Heinrich Heine entstand in der Epoche der Romantik und beschreibt die Sehnsucht des lyrischen Ichs nach einer Traumwelt. Viele Motive sind epochentypisch, wie die Natur und Sehnsucht, die letzte Strophe ist inhaltlich allerdings völlig untypisch, da sie die Aussage des Gedichtes komplett verändert.
Die äußere Form des Gedichtes ist sehr regelmäßig: Es gibt sechs Strophen mit jeweils vier Versen, das Versmaß ist ein Jambus. Auch das Reimschema ist gleichmäßig, nämlich ein Kreuzreim nach dem Schema abab. Diese Merkmale lassen das Gedicht wie ein Lied wirken, auch beim Vorlesen klingt es melodisch. Diese Wirkung lässt sich durchaus auf die Epoche beziehen, da viele Gedichte, insbesondere von Heine, von Komponisten wie Brahms oder Schuhmann vertont wurden.
Inhaltlich lässt sich das Gedicht in vier Teile gliedern: Die erste Strophe führt den Leser in das Geschehen, also in die Gedanken des lyrischen Ichs ein. In den nächsten beiden Strophen wird die wunderschöne Traumwelt des lyrischen Ichs bildreich beschrieben, jedoch dreht es sich zunächst nur um Äußerlichkeiten. Diese beiden Strophen führen zur vierten Strophe hin, die nun die Essenz, das Motiv der Träume beschreibt: Liebe und die damit verbundene Sehnsucht. Das Gedicht ist somit ein Liebesgedicht, das sich nicht an eine bestimmte Person richtet, sondern die Liebe allgemein beschreibt.
Im dritten Teil, in der fünften Strophe, drückt das lyrische Ich seine Sehnsucht und seinen Wunsch aus, in diese Traumwelt zu kommen, sie wirkt bereits wie eine endgültige Schlussfolgerung. Doch es folgt noch die sechste Strophe, die die gesamten Aussagen davor ihres Sinns beraubt: Das lyrische Ich stellt klar, dass alles Beschriebene nur geträumt ist und mit dem Aufwachen verschwindet, also keinerlei realen Bezug hat.
Bis auf die letzte Strophe ist das Gedicht sowohl inhaltlich als auch von der sprachlichen Gestaltung her klar der Epoche der Romantik zuzuordnen. Zentrale Motive, wie zum Beispiel der Bezug zu Märchen, machen dies deutlich (V. 1: „Aus alten Märchen winkt es“). Die Anspielungen auf Fantastisches waren in dieser Zeit sehr populär, zumal die Gebrüder Grimm1 ihre Märchensammlung veröffentlicht hatten. Auch, dass die Märchen „alt“ sind, ist ein romantisches Motiv, da die besprochene Mystik oft mit dem Mittelalter assoziiert wurde und viele Menschen sich nach der „guten alten Zeit“ sehnten.
Im Gedicht tritt das semantische Feld „Musik“ häufig auf, der Binnenreim „[...] singt es und da klingt es“ im ersten Vers unterstreicht außerdem die Melodik des Ganzen. Die „Liebesweisen“ in Vers 13 legen außerdem die Verbindung von Liebe und Kunst nahe, die in der Romantik zum Weltbild gehörte. Auch die Personifikationen2 der Bäume (V. 9 - 10) beziehen sich auf Musik, sie unterstreichen die Einheit von Kunst und Natur und verdeutlichen außerdem die Lebendigkeit der Umwelt.
Die zweite und dritte Strophe beschreiben das Zauberland des lyrischen Ichs, was durch Personifikationen unterstrichen wird, da Blumen und Bäume eigentlich nichts Besonderes darstellen. Doch das lyrische Ich sieht das Zauberhafte im Alltäglichen und romantisiert so die Natur. Auch der Schmerz und die Sehnsucht des lyrischen Ichs werden deutlich dargestellt, es sehnt sich so sehr nach seiner Traumwelt, dass es schmerzt. Dieses Sehnen wird mit der Personifikation der Blumen, die „schmachten“ (V. 5) ausgedrückt, jedoch klar angesprochen erst in der vierten Strophe, als „wundersüßes Sehnen“ (V. 15). Das lyrische Ich sehnt sich nach der Liebe, die diesen Zaubergarten darstellt, und das Sehnen stillen kann. Doch niemand weiß, wie wundervoll die Erfüllung ist, da noch kein Mensch diese Gefühle kennt, was der Vers „Wie du sie nie gehört“ (V. 14) besagt.
Obwohl Sehnsucht ein schmerzendes Gefühl ist, wird sie als „wundersüß“ (V. 15) beschrieben, das zeigt, dass das lyrische Ich sogar sein Leiden genießt, mit der Hoffnung auf Besserung. Dieser Gedanke wird in der vorletzten Strophe fortgeführt, die Interjektion3 „Ach, [...]“ (V. 17) drückt noch einmal den ganzen Schmerz aus. Auch die Anapher4 in den Versen 18 bis 20 („Und [...]/ Und [...]/ Und [...]“) zeigt, wie sehr das lyrische Ich die Erfüllung herbeisehnt: Alle diese Wünsche sind so schnell in seinen Gedanken, dass es keine komplizierten syntaktischen Konstruktionen erstellt, sondern einfach aufzählt, was es möchte.
Diese überwältigende Sehnsucht ist ebenfalls typisch für die Romantik: Die Menschen schlossen mit Vernunft und Aufklärung ab, sie hatten ihre Hoffnung in politische Mitbestimmung und Freiheit gesetzt, wurden jedoch enttäuscht: Nach der Völkerschlacht bei Leipzig wurde im Wiener Kongress wieder die alte Ordnung hergestellt, die Ideen der Aufklärung hatten nicht geholfen. Deshalb suchte nun der Einzelne die Erfüllung im Gefühl, man ging in sich, anstatt sich um Politik zu kümmern. Die Rückkehr zur Natur lässt sich als Gegenbewegung zur Industrialisierung verstehen, da die Menschen sich wieder über ihren Wert bewusst wurden, was im Gedicht durch die verklärende Beschreibung deutlich wird.
Auch der Unterschied zwischen Tag und Nacht wird im Gedicht klar unterstrichen, der Dichter träumt sich einsam hinweg, der Tag hingegen ist der Ort der Vernunft, was in der letzten Strophe herausgestellt wird: In den ersten beiden Versen (21 - 22) bezieht sich das lyrische Ich noch einmal auf alles Gesagte und stellt seufzend („Ach“ (V. 21) fest, dass es nur geträumt ist. Bis dahin lässt sich das Gedicht als Beschreibung der Gedankenwelt des lyrischen Ichs verstehen, die Träumerei und Sehnsucht sind seine Erfüllung und sein Hauptanliegen, es scheint für diese Welt zu leben. Doch in den letzten beiden Versen wird die Aussage des ganzen Gedichtes verneint, denn tagsüber ist das alles nicht hilfreich, beständig oder sinnvoll. Der Vergleich mit zerfließendem Schaum (V. 24) drückt aus, wie voluminös die Gedanken sind, also wie viel Platz sie einnehmen, ohne jedoch Substanz zu haben, genau wie Schaum: Er ist zwar schön anzusehen, besteht jedoch hauptsächlich aus Luft.
Mit diesen letzten Versen muss das ganze Gedicht anders betrachtet werden, die beschreibenden Vergleiche der Blumen und Bäume wirken nun übertrieben, fast ironisch. Auch die Wiederholung des Adjektivs „wundersüß“ (V. 15-16) verdeutlicht die Übertreibungen. Das Gedicht arbeitet also mit immer übertriebeneren kitschigeren Bildern, um den Leser dann von der Unnötigkeit des Ganzen zu überzeugen.
Die Interpretationshypothese hat sich demnach nicht bestätigt, das Gedicht stellt nicht die Sehnsucht des lyrischen Ichs nach einer Traumwelt dar, sondern beschreibt die Erkenntnis, dass das Hinwegräumen bei aller Schönheit doch keinen Nutzen hat. Das Leben findet tagsüber statt, und die Schwärmereien sind nicht haltbar.