Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Im Artikel „Haltung bewahren“ von Rebekka Reinhard aus dem Jahr 2012, erschienen in der Süddeutschen Zeitung, geht es um die Philosophie der Stoiker und was wir daraus heute noch lernen können.
Reinhard beginnt ihren Text mit dem Kaiser und Philosophen Marc-Aurel. Dieser war Herrscher im Römischen Reich und einer der letzten großen Anhänger der Stoa.
Marc-Aurel habe seine Philosophie im Krieg formuliert, um nicht verrückt zu werden. So seien seine „legendären ‚Selbstbetrachtungen‘“ zu einem Werk geworden, welches ermutigt auch „angesichts widrigster Umstände gelassen zu bleiben“. Um dies zu betonen, zitiert Reinhard hier zunächst Marc-Aurels Kernaussage: „Man soll aufrecht stehen, ohne aufrecht gehalten zu werden“. So beziehe sich die Unsicherheit heute allerdings im Gegensatz zu Marc-Aurel, welcher im Krieg jeden Tag um sein Leben fürchten musste, weniger auf direkt lebensbedrohliche Situationen, sondern mehr auf eine immer kompliziertere Welt, welche wir nicht mehr verstehen können.
Die Autorin behauptet in ihrer ersten These, dass es die „Unübersichtlichkeit einer globalisierten Welt ist, welche uns Angst macht. So nennt sie als bedrohlich wirkende Beispiele den „demographischen Wandel“, den „Klimawandel“, den „Wandel der Vermögensverteilung“ und „technologischen Wandel“. Sie bezieht dies alles auf einen Wandel, welcher sich in unserem Leben kaum merklich, aber doch stetig bemerkbar macht. Daher stellt sie nun die rhetorische Frage, woran man sich noch festhalten könne, wenn sich alles um uns herum wandele. Hierauf hat sie auch direkt eine Antwort, welche sie als zweite Kernaussage darstellt. „An uns selbst“, so lautet die Antwort. Die Bedingung für ein Festhalten an uns selbst, sei jedoch, dass man eine „eine innere Haltung, einen Ethos“ entwickele. Dieser könne uns dann durch alle Situationen tragen. Reinhard ist der Meinung, dass sich dies durch ein Leben im Augenblick verwirkliche lässt und begründet dies mit den Aussagen von Marc-Aurel, welcher diese These auch schon aufgestellt hatte. Somit bedient sie sich hier eines Autoritätsargumentes. Der Gedankengang von Marc-Aurel und anderen Stoikern wird noch etwas weiter ausgeführt. Die Aussage ist hierbei, dass Aufregung in den meisten Fällen nicht lohne, da sie sich auf Vergangenheit oder Zukunft beziehe. Diese lägen aber außerhalb dessen, was wir beeinflussen können. So bleibe zum Leben nur die Gegenwart, über welche wir „zumindest teilweise“ Macht haben, sie zu verändern. Das Leben in der Gegenwart muss jedoch, laut Reinhard, erst erlernt werden. Dies gelinge nur, wenn man sich aus dem Stress des Alltages herausnimmt und beispielsweise „dem Multitasking ab und zu die kalte Schulter zeigt“ (Z. 30). So dürfe man sich nur einer Sache gleichzeitig widmen. Hier kommt sie direkt zu ihrer dritten Kernaussage, welche lautet: „Konzentration ist die Essenz des Gegenwärtigseins“ (Z. 31f.). Dies begründet sie mit dem Beispiel, dass es heute durch elektronische Medien viel einfacher geworden sei, sich in Situationen, welche eigentlich unsere Konzentration fordern und uns zum Leben in der Gegenwart helfen würden, ablenken zu lassen und doch wieder mehrere Dinge gleichzeitig zu machen. Doch egal wie viel wir danach suchen, laut Reinhard, werden wir nie eine App finden, welche uns zur inneren Haltung eines Stoikers verhilft. Diese Haltung sei für das Leben im Hier und Jetzt jedoch unerlässlich.
Hier kommt die Autorin noch einmal auf das Zitat von Marc-Aurel zurück und umspannt den Text wie mit einem Rahmen. Sie führt das Zitat noch weiter und erläutert, dass man auf nichts in seinem Leben warten dürfe, „erst recht nicht auf das Glück“ (Z. 42). Denn Glück sei keine Frage der „äußeren Umstände, sondern der geistigen Haltung“ (Z. 46). Man dürfe also auch nicht aufgrund seiner Erfolge und Misserfolge seine Einstellung zur Gegenwart verändern, da dadurch ebendiese innere Haltung verändert wird. Da diese Ereignisse schon in der Vergangenheit sind oder noch in der Zukunft liegen, habe der Stoiker hierauf auch keinen Zugriff und er müsse sein Glück in der Gegenwart finden.
Die letzte Frage, welche Reinhard nun aufwirft, ist die nach einem Sinn des Lebens. „Was motiviert mich eigentlich, jeden Tag aus dem Bett zu steigen?“. Auch diese Frage ist nur rhetorisch, denn auch hierauf gibt Marc-Aurel mit der Stoa eine Antwort. Er sagt in seinen „Selbstbetrachtungen“, dass man erwacht, um „als Mensch zu wirken“. Dass man also den „Wert des Nur-Mensch-Seins“ erkennt. Um diesen zu erkennen, solle man in einen „schweigenden Dialog“ mit sich selbst treten. Dabei gelte es, sich auf seine sehnlichsten Bedürfnisse zu besinnen und diesen nachzugehen und seine jetzige Situation diesen Bedürfnissen anzupassen. Man solle also seine Situation nicht „ohnmächtig zu erleiden“, sondern einen aufrechten Gang annehmen. Hier betont die Autorin im letzten Satz auch noch einmal die Bedeutung eines Wertebewusstseins und des Respektes vor jedem Augenblick.
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Zunächst möchte ich auf die erste These des Textes eingehen. Die Autorin sagt, dass die Stoa und mit ihr Marc-Aurel lehrt, dass man im Moment leben solle. Man habe keinen Einfluss auf Vergangenheit und Zukunft. Zwar besagt die Stoa tatsächlich, dass der Moment genutzt werden soll und jeder ein Schicksal hat, welches sein Leben bestimmt und das akzeptiert werden muss, jedoch geht sie auch von einer strengen Kausalität aus. Mark Aurel drückt dies so aus: „Alles ist wie durch ein heiliges Band miteinander verflochten. Nahezu nichts ist sich fremd.“ (Selbstbetrachtungen VII, 9). Es bedeutet, dass sich eine „lückenlose Kausalkette“ zwischen allen Ereignissen ziehen lässt. Dies wiederum bedeutet, dass ein „Augenblick“ nicht losgelöst, jenseits von den Verflechtungen des Lebens, betrachtet werden kann.
In seinen „Selbstbetrachtungen“ beantwortet Marc-Aurel die Frage nach dem Sinn des morgendlichen Aufstehens und nach dem Sinn des Lebens. Er meint, man erwache, um „als Mensch zu wirken“: Auch diese Aussage impliziert einen Einfluss des heutigen Handelns auf die Zukunft, wo sich die ausgelöste Wirkung entfaltet. Wenn nun Rebekka Reinhard den „Augenblick“ losgelöst von Vergangenheit und Zukunft betrachtet, dann übersieht sie den engen Zusammenhang zwischen diesen zeitlichen Ebenen. Denn die Vergangenheit beeinflusst noch unsere Gegenwart und diese wiederum die noch kommende Zukunft.
Trotzdem ist nichts Falsches daran, aufrecht durch das Leben zu gehen, sich nicht unterkriegen zu lassen und zu diesem Zweck eine „innere Haltung“ zu entwickeln. So wie Rebekka Reinhard die Stoa hier interpretiert, also als Besinnung auf den losgelösten Augenblick, wage ich zu behaupten, dass sie eher Fans in gut verdienenden Kreisen findet. Wer gut verdient und sich sicher sein kann, immer genug Geld zu haben, ohne jemals hungern zu müssen, für den ist der Blick in die Zukunft nicht mit Ängsten behaftet. Der kann den Moment akzeptieren und das Beste daraus machen, ohne sich Sorgen machen zu müssen, in der Zukunft nicht überleben zu können. Wer jedoch von Monat zu Monat oder sogar von Tag zu Tag lebt, der kann sich dies nicht leisten. Natürlich versucht auch derjenige das Beste aus dem aktuellen Moment zu machen, bezieht dabei jedoch auch immer die Sorge über die Zukunft mit ein. Denn wer zum Beispiel Angst haben muss, heute zu viel Geld auszugeben und dann am Ende des Monats kein Essen mehr zu haben, wird den Moment nie so ausleben können, wie Menschen ohne diese Sorgen.
Auch Reinhards Vorschlag, das Multitasking einmal ruhen zu lassen und sich von einer einzelnen Sache voll vereinnahmen zu lassen, lässt sich ähnlich aufnehmen. Wer sich in finanzieller Sicherheit weiß, muss sich auch nicht mit viel Arbeit gleichzeitig herumschlagen und verlagert seine Konzentration auf einzelne schöne Dinge wie das Briefeschreiben. Wer diese Sicherheit nicht hat, wird viel Arbeit parallel machen und sich keine Auszeit gönnen, welche lediglich mit Tagebuchschreiben gefüllt ist. Derjenige muss arbeiten, um den Moment und die Zukunft für sich zu sichern. Auch Marc-Aurel konnte es sich in seiner Position leisten sein Los einfach zu akzeptieren, da er Kaiser war. Wäre er in einer anderen sozialen Schicht aufgewachsen, würde er das System und seine damit verbundene Stellung eventuell auch nicht einfach akzeptieren, sondern versuchen diese zu ändern.
Grundsätzlich stimme ich ihrer These, dass „Konzentration […] die Essenz des Gegenwärtigseins“ (Z. 32) also zu und glaube auch, dass es sehr gesund wäre uns nur mit einer einzelnen Sache zu beschäftigen ich glaube jedoch nicht, dass sie sich für die meisten Menschen im Alltag umsetzen lässt.
In Anlehnung an Marc Aurel erklärt die Autorin, dass man nicht auf sein Glück warten solle. Mit diesem Rat geht es ihr um eine positive Lebenseinstellung.
Diese sollte tatsächlich jeder haben und möglichst danach leben, jedoch kann man die Aussage auch etwas anders verstehen. Man könnte zwar sehen, dass Marc-Aurel das „Sich-helfen-lassen“ als etwas sehr Negatives sieht. Je nach Situation ist dies jedoch nicht der Fall. Wer in einer sehr benachteiligten Umgebung aufwächst, kann es mit seinen Mitteln einfach nicht schaffen, bis zum Kaiser aufzusteigen. Dies hat sich in Teilen bis heute kaum verändert, denn auch heute ist es sehr schwierig aus einer sehr armen Umgebung bis zum Konzern-Manager aufzusteigen. Da wäre es nicht von Nachteil, sich helfen zu lassen. Natürlich mehr im Sinne von „Hilfe zur Selbsthilfe“, sodass jeder tatsächlich die gleichen Chancen im Leben hat. Dieser Punkt der positiven Hilfe kommt bei Reinhard etwas zu kurz, wie ich finde.
Abschließend merkt Reinhard an, dass es wichtig ist, sein „internetfähiges Gerät“ (Z. 58) beiseite zu legen, um herauszufinden was wirklich wichtig ist im Leben. Diesen Tipp kann jeder umsetzen und sich einmal darauf besinnen was der Sinn ist für welchen man morgens aufsteht. Wenn man, wie sie es ausdrückt, „in einen schweigenden Dialog mit sich selbst“ tritt (Z. 59 f.), kann man Antwort auf diese Frage finden. So kann man den Wert des „Nur-Mensch-Seins“ erkennen und seinem Leben einen Sinn geben, mit dieser einzelnen Besinnung auf das Leben selbst.
Zuletzt möchte ich noch auf Reinhards Aussagen aus den Zeilen zwölf bis 16 eingehen. Hier drückt sie aus, dass die „Probleme und Krisen, mit denen wir uns heute herumschlagen, weit weniger lebensgefährlich“ (Z. 12-13) seien. Hier führt sie beispielsweise den Klimawandel an, welcher natürlich in direkter Form weniger gefährlich für uns ist als ein Krieg, jedoch auch heute schon viele Existenzen bedroht und auf lange Sicht auch unser Leben nachhaltig verändern wird. Außerdem führt sie auch eine globalisierte Welt an. Auch diese führt heute schon über den Umweg der Armut in Ländern der sogenannten Dritten Welt und über prekäre Arbeitsbedingungen vielfach zum Tod. Was mir in dieser Auflistung etwas fehlt, sind die Kriege, welche weltweit immer noch stattfinden, in welchen tagtäglich Menschen sterben. Als ganz aktuelles Beispiel, in welchem es besonders wichtig scheint den Moment zu nutzen, ist hier auch die Corona-Pandemie zu nennen. Auch diese bedroht viele von uns mit dem Tod. Somit sind die „Probleme und Krisen“, die wir heute haben, nicht weniger gefährlich als zu Zeiten Marc Aurels. Sie fordern uns zu einem verantwortungsvollen Handeln heraus.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass es auf jeden Fall wichtig ist, wie die Stoa beschreibt, den Moment zu leben, dass man jedoch auch nie Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart als voneinander getrennte Teilbereiche betrachten darf, da man sich selbst sonst zu leicht in ausweglose Situationen steuern kann. Auch lässt sich festhalten, dass man es als Gutverdiener deutlich leichter mit dieser Philosophie hat und dass auch heute noch überall auf der Welt ganz akut bedrohende Zustände existieren, welche ein „Akzeptieren seiner Situation“, je nach Standpunkt, fast unmöglich machen.