Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das naturalistische Gedicht „Großstadtmorgen“ verfasst von Arno Holz in dem Jahr 1886, erzählt von dem abstoßenden Leben in der Großstadt und von einem Traum, welcher dem lyrischen Ich dabei hilft, die Hoffnung, diesem Leben zu entkommen, wiederzufinden.
Das Gedicht besteht aus 7 Strophen, die jeweils aus unterschiedlich vielen Versen bestehen. Ein Rhythmus bzw. Metrum1 lassen sich nicht erkennen, was beides zu dem Thema der Großstadt und ihrer Darstellung im Naturalismus passt. Die Großstadt wird als etwas Unordentliches, Schmutziges, Unschönes dargestellt, ebenso wie die äußere Form des Gedichts. Schon vor dem Lesen sieht der Leser also durch das unanschauliche Äußere, dass es in diesem Gedicht um etwas Unschönes geht, das man nicht gerne betrachtet. Das Gedicht beginnt mit einem Kreuzreim, dies ist aber eine Ausnahme, da es sich beim Rest des Gedichtes um Paarreime handelt.
Passend zum Titel des Gedichts „Großstadtmorgen“ beginnt das Gedicht damit, den Anfang des Morgens zu beschreiben. „Die letzten Sterne flimmerten noch matt/ein Spatz versucht früh schon seine Kehle“ (V. 1/2). Durch den Kreuzreim dieser beiden Verse mit den Versen 3 und 4 merkt der Leser, dass hier eine Besonderheit vorliegt. Die Sterne, die noch am Himmel zu sehen sind und flimmern, sind mit dem letzten Hoffnungsschimmer des lyrischen Ichs gleichzusetzen, welcher in den nächsten Strophen zerstört, im letzten Vers („Mich … fröstelte!“ (V. 47)) aber wieder aufgegriffen wird und zum lyrischen Ich zurückfindet. Die Hoffnung, dem Großstadtleben zu entkommen, bildet also eine Klammer um das Gedicht. In den nächsten Versen und Strophen wird deutlich, warum das lyrische Ich dem Leben in der Großstadt entkommen möchte. Das lyrische Ich erzählt davon, wie die Großstadt, welche in diesem Fall symbolisch durch die Friedrichsstadt dargestellt wird, es bis in die Seele beschmutz hat (vgl. V. 4). Die Großstadt hat das lyrische Ich also von außen her bis ins tiefste Innere mit einer Hässlichkeit belegt, die sein gesamtes Selbst verschmutzt. Wie tief die Großstadt in sein Inneres vorgedrungen ist, wird mit den nächsten Versen aufgegriffen und weitergeführt. Das lyrische Ich läuft durch die Stadt und ist an die Prostituierten sowie die Betrunkenen auf der Straße gewöhnt. Das einzige, was es hier verspürt, ist ein dumpfes Gefühl und der schlechte Geschmack seiner Zigarre (vgl. V 5ff). Dass es selbst bei einer so unangenehmen Situation keine tieferen Gefühle verspürt, keinen Ekel, wie es selbst anspricht (vgl. V. 5), zeigt, wie betäubt seine Gefühle mit der Zeit geworden sind. Das Leben in der Großstadt hat es abgehärtet und seine Gefühle abgeschwächt, sie vielleicht sogar zerstört und somit dem lyrischen Ich auch die Chance auf eine eigene Identität genommen. Gefühle machen eine Person individuell und da das lyrische Ich diese nur abgedämpft verspürt, fehlt ihm ein Teil des eigenen Selbst und es verfällt der Massenidentität der Großstadt. Dass selbst die Zigarre, die eigentlich ein Genuss und etwas Schönes für es sein sollten, schlecht schmeckt, zeigt, dass ihm nichts die Taubheit und Dumpfheit, die es verspürt, nehmen kann. Es gibt für das lyrische Ich keine Hoffnung. Des Weiteren werden hier die Prostitution und der Alkoholismus aufgegriffen, die im Naturalismus und in der Großstadtlyrik oft Thema sind.
Die nächste Strophe beginnt mit der Zeitangabe „Halb zwei“ (V. 11), wobei es sich um den Schreibstil Sekundenstil handelt, welcher im Naturalismus oft verwendet wurde. Weiter geht es mit „Mechanisch sah ich nach der Uhr“ (V. 11), was für eine personale Erzählweise spricht. Hier wirkt es so, als würde es sich eher um eine Geschichte, als um ein Gedicht handeln, was ebenfalls typisch für den Naturalismus ist, da die Realität genau so geschildert wird, wie sie passiert.
Das lyrische Ich stellt dar, dass es keine Erinnerung an seine Gedanken hat, da alles bedeutungslos ist. Selbst sein Haustier, sein Hund, ruft keine freudigen Gefühle hervor, sondern steht in gleicher Wertigkeit wie eine unbedeutende Krawatte, die als Symbol für etwas völlig Unwichtiges und Gefühlsloses verstanden werden kann (vgl. V. 12ff.). Der einzige tiefgründigere Gedanke in dieser Strophe wäre das Ideal, welches allerdings auch als „zerbolzt“ (V. 15), also zerstört, beschrieben wird. Auch dieses wird mit einem beliebigen Café auf eine Stufe gestellt (vgl. V. 16), was zeigt, dass ihm dieses im Großstadtleben verloren gegangene Ideal nicht mehr wichtig ist und das lyrische Ich gefühlskalt lässt.
In Strophe drei erfolgt ein Bruch der tristen Stimmung, welche zu Beginn des Gedichtes herrscht, da dem lyrischen Ich eine schöne Erinnerung an eine verpasste Gelegenheit kommt. Hier lassen sich Rückschlüsse auf das verlorene Ideal aus Vers 15 ziehen, da dieses Ideal ebenso wie der verpasste Traum für das lyrische Ich nicht mehr zu erreichen sind. Trotzdem wird diese Gelegenheit positiv und schön beschrieben. So scheint auch das Alleinsein etwas Positives zu sein (vgl. V. 23), das einen Gegensatz zu der Massenidentität und dem Menschengewimmel in der Großstadt bildet. In seinem Traum befindet sich das lyrische Ich im Abendschein (V. 24), welcher im Kontrast zum Beginn des Gedichts und zum Titel „Großstadtmorgen“ steht. In den folgenden Versen berichtet das lyrische Ich ausführlich von den positiven Gefühlen und Empfindungen, die die Natur bei ihm auslöst. Es wird von Stille, Fröhlichkeit und Frieden erzählt (vgl. V. 25ff.). Außerdem wird die Natur als etwas sehr Schönes dargestellt, es wird von Blumen berichtet (vgl. V. 29), von Mühlen am Horizont (vgl. V. 32), der schnuppernden Stute (vgl. V. 26) und guten Gerüchen (vgl. V. 40), auch dies ist wieder ein deutlicher Kontrast zu der Gefühlslosigkeit und Hässlichkeit, die die Stadt im lyrischen Ich hervorruft.
In der fünften Strophe endet dieser Gedankenblitz abrupt, das lyrische Ich betont die Kürze der Erinnerung: „Ein Sonnenblitz, drei flüchtige Sekunden/ wies gekommen, wars auch schon verschwunden“ (V. 41/42). Dieser Traum war ein kurzer Eintritt in die Phantasiewelt, die dem lyrischen Ich die Schönheit zeigte, die es in der Stadt nicht findet. Des Weiteren zeigt dieser kurze Tagtraum in der Stadt, dass auch in der Stadt mal die Sonne scheint und diese kurzzeitig nicht ganz so trist und hässlich erscheinen lässt, wie sonst. Allerdings verschwindet die Sonne über der Stadt schnell, wie es auch der Traum des lyrischen Ichs getan hat. Die Schönheit ist nicht von Dauer, sie ist vergänglich.
Das lyrische Ich ist wieder in der Realität angekommen und sieht erneut die Hässlichkeit und Armut in der Großstadt, symbolisiert durch den Bettler (vgl. V. 43ff.). Das lyrische Ich allerdings hat durch seine kurze Flucht in die Phantasiewelt seine gedämpften Gefühle wachgerüttelt. Ihm wird die abstoßende Lage in der Großstadt wieder bewusst und es nimmt den Bettler wahr, im Gegensatz zu der Prostituierten am Anfang des Gedichts. „Mir …fröstelt!“ (V. 47), durch die Punkte wird deutlich, dass das lyrische Ich überrascht ist, dass die Armut des Bettlers ihm nahegeht und es tief berührt und nicht nur dumpfe, oberflächliche, geschweige denn gar keine Gefühle hervorruft. Es besteht wieder Hoffnung dafür, dass seine Gefühle nicht völlig in der Bedeutungslosigkeit und Massenidentität der Großstadt verloren gehen.