Autor/in: Gottfried Benn Epoche: Expressionismus Strophen: 3, Verse: 12 Verse pro Strophe: 1-4, 2-4, 3-4
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Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht ‚Requiem‘ gehört zur ersten Gedichtsammlung des modernen Dichters Gottfried Benns. Mit dieser Gedichtsammlung „Morgue und andere Gedichte“ wird Benn ‚über Nacht‘ im Jahr 1912 berühmt. Geschrieben hatte Benn diese Gedichte wahrscheinlich ein Jahr zuvor. Er griff damit Erfahrungen aus seinem Beruf als (Militär-)Arzt auf: er hatte zwei Jahre als Unterarzt in einem Infanterie-Regiment gearbeitet und danach ebenfalls als Unterarzt in der Psychiatrie der Berliner Charité. Berühmt wurde Benn durch das Skandalöse dieser Gedichte: Sie lasen sich wie die Protokolle einer Obduktion. Der Dichter kleidet den Gang durch das Leichenschauhaus (daher der Name ‚Morgue‘) in poetische Sprache, in Verse und Reime. Schonungslos stellt Benn die bloße Körperlichkeit und damit auch die Hinfälligkeit und Vergänglichkeit des menschlichen Lebens dar. Benn tritt bürgerliche (Schönheits-)Ideale mit den Füßen: die Gedichte dieser Sammlung haben nichts Erhabenes und auch nichts Erhebendes. Es geht um Körper, die eigentlich schon alles verloren haben, was sie zu Körpern macht: es geht um Leichen, um das bloß Stoffliche am Menschen. Aber dieser Mensch, dem diese Stofflichkeit zukommt, taucht weder als lyrisches Ich, noch als bloßer Beobachter auf. Er ist auch nicht der Nichtanwesende, aber Hinzuzudenkende, für den diese Materialität des Körpers ein Rätsel ist. Das Rätselhafte und Symbolische des toten Körpers verschwindet in den protokollhaften Beobachtungen und nüchternen Beschreibungen des Gesehenen. Benn wendet sich nicht nur gegen die bürgerlichen Schönheitsideale, er wendet sich gegen jede christlich-humanistische Erhöhung des Menschen. Der Körper ist heilig, so spricht die christlich-jüdische Tradition. Und der Tod des menschlichen Körpers sei nicht das bloße Ende, sondern die Erlösung der irdischen Qualen: der Eingang ins Himmelreich. Nicht so bei Benn.
Der Titel des Gedichts „Requiem“ greift diese christliche Tradition auf. Und erinnert an den noch älteren Kult um die Verstorbenen: Es braucht nicht erst auf die religiöse, katholische Totenmesse hingewiesen zu werden. Dass die Verstorbenen der gesellschaftliche Mittelpunkt werden für Trauer, Ehrung und Erinnerung ist viel älter als die christliche oder jüdische Religion. Dass Leichen nicht bloße Materie sind, sondern dass in ihnen das gelebte Leben zu einem erfahrbaren Stillstand gekommen ist; das ist eine der ältesten Weisheiten der menschlichen Rasse. Es wäre also zu kurz gegriffen, würde man den Skandal, den Benns Gedichtband hervorrief, als ‚Sakrileg‘ erklären: als Affront gegen die christliche Kirche. Sie, die Kirche, ist hier Stellvertreter eines viel älteren und damit viel tiefer in uns verwurzelten Wissens um die Rätselhaftigkeit des Sterblichen. Viele Kulturen haben für dieses Wissen und das daraus abgeleitete Verhalten den Toten gegenüber sogar ein eigenes Wort: Pietät (im Konfuzianismus Chinas ist die Ehrerbietung gegenüber den Toten Ursprung jeder Moralität). Die Pietät ist eine Tugend, ein Pflichtgefühl. Dass Benn über Nacht im Jahr 1912 mit seinem Gedichtband „Morgue und andere Gedichte“ berühmt werden konnte, liegt vor allem daran, dass er sich über dieses älteste über Generationen weitergegebene Wissen hinwegsetzt. Ist Benn pietätslos? Oder ist das eine ganz falsche Frage? Sollte Pietät ein Kriterium sein für das Schaffen von Kunst?
Benn jedenfalls gerät mit seinen Gedichten an Grenzen des damaligen bürgerlichen Bewusstseins und ist in diesem Sinne mit Fug und Recht als Avantgarde und Begründer der literarischen Moderne zu bezeichnen: Benn stellt nicht nur bürgerliche Schönheitsideale in Frage. Er stellt sich gegen die christlich-jüdische Tradition. Durch Benns Gedichte muss über das Verhältnis der Kunst zur Religion und über ihr Verhältnis zu den gesellschaftlichen Verhältnissen neu nachgedacht werden. Hat Kunst eine gesellschaftliche Aufgabe? Ist Kunst frei oder hat sie Grenzen? Und auch hinsichtlich stilistischer Fragen eröffnet sich durch Benn ein weiter Horizont. Der Gang durch das Leichenschauhaus hat die Form und mehrere Stilmerkmale eines traditionellen Gedichts. Und doch schafft Benn mit seinen Gedichten etwas Neuartiges: Galt vorher das innere Gebot einer Harmonie zwischen Form und Inhalt: so dass beispielsweise die Symmetrie der Form die Schönheit des Inhalts wiederspiegelt, so ist nun diese Harmonie von innen zersetzt. Die Hässlichkeit des Inhalts sträubt sich gegen die Symmetrie der Form. Die ästhetische Darstellung des Hässlichen und des ‚Bösen‘ wird zu einem Problem, das wiederum ein innerer Antrieb wird für die künstlerischen Tendenzen der Moderne.
In Frankreich (Baudelaires „Blumen des Bösen“, Flauberts Erzählungen und Romane) und auch in England (Edgar Allan Poes Kurzgeschichten) hat es sowas wie eine Ästhetik des Bösen schon gegeben. Ein Vergleich zwischen diesen Varianten sprengt den Rahmen: der Unterschied zwischen Benn und den Genannten liegt vielleicht am ehesten darin, dass bei letzteren viel offensichtlicher ist, dass dem Hässlichen, Unschönen und Bösen etwas abgewonnen werden soll. Ihnen kommt, wenn nicht moralischer, so zumindest ästhetischer Wert zu. In Benns Protokollen über Leichen, Obduktion, Tod und Verfall, ist selbst das fraglich. Es ist jedenfalls etwas, das man beim Lesen dieser Gedichte im Hinterkopf haben sollte und das nun auch die Interpretation des Gedichts ‚Requiem‘ leiten soll.
Über den Inhalt des Gedichts ‚Requiem‘ ist nicht viel zu sagen. Der Titel ist, wie erwähnt, der christlichen Tradition entlehnt: als Requiem wird die katholische Totenmesse bezeichnet. In Benns Gedicht geht es um Tote. Vielleicht sagt man besser: es geht um Leichen, um bloße Körper. Das Gedicht ist drei Strophen lang mit jeweils vier Versen. Es hat ein durchgängiges Kreuzreim-Schema (abab) und einen fast durchgängigen 5-hebigen Jambus. Der jeweils erste und dritte Vers jeder Strophe endet mit einer weiblichen Kadenz1, hat also eine überzählige, das Lesen vorwärtstreibende Silbe.
Es geht um Leichen, die auf Tischen liegen, Männer und Frauen. Das Gedicht ist aber nicht einfach nur Protokoll einer Obduktion oder Bericht eines Gangs durch das Leichenschauhaus. Es gibt Deutungen des Gesehenen: zum einen wird eine christliche Thematik aufgegriffen und zum anderen, damit assoziiert: das Thema der Geburt, des Gebärens. Ein ‚lyrisches Ich‘ gibt es nicht. Es findet sich keine Stellungnahme, kein Hinweis auf ein Gefühl, das sich auf das Gesehene bezieht. Nur einmal taucht das ‚Ich‘ auf. In der dritten Strophe, Vers drei: „Ich sah …“ – hier wird das Gesehene gedeutet und der Rahmen des bloßen Protokolls gesprengt.
Die einzelnen Verse sind sinnvoll zusammengehalten. Auffällig sind einige Enjambements2, Zeilensprünge, mit denen das in den Versen Geschriebene über das Zeilenende hinaus weitergeführt wird. Auffällig ist außerdem die elliptische Auslassung des Verbes jeweils in den ersten Versen jeder Strophe. Enjambements sprengen (tendenziell) den traditionellen formalen Aufbau eines Gedichts und bringen Unruhe ins Lesen. Ellipsen3 wiederum verstärken das Protokollhafte, das sich mit den Beschreibungen bereits nahegelegt hat. Dass das Verb fehlt, heißt auch, dass an diesen Stellen der Hinweis auf die Person oder die Personen fehlt.
Dort, wo in den ersten zwei Strophen Verben auftauchen, sind es die Leichen, bzw. die Leichtenteile, die zum Leben erwachen: „Die Leiber / gebären nun ihr allerletztes Mal“ (V. 3-4) und „begrinsen Golgatha und Sündenfall“ (V. 8). Dass Benn hier die ‚Leiber‘ und die Leichenteile zu Wort kommen lässt, kann am ehesten als Zynismus gedeutet werden. Dass die toten Körper gebären, also etwas Neues schaffen, - das ist eine leere Assoziation, ein teuflischer Witz: Das Bild der offenen Leichen wird hier assoziiert mit der Geburt eines Kindes. Dieses Themenfeld der Geburt und des Gebärens wird in der dritten Strophe wieder aufgegriffen: „Neugeburten“ (V. 9) und „wie aus einem Mutterleib“ (V. 12). Zynisch ist es, weil damit die Sinnlosigkeit des Todes auf die Spitze getrieben wird: Aus dem geöffneten Brustkorb einer Leiche wird kein neues Leben entspringen. Benn ist mit diesem Bild noch nicht zufrieden. In der dritten Strophe setzt er noch einen drauf: die Leichenteile, der „Rest“ (V. 9): „Mannsbeine, Kinderbrust und Haar vom Weib.“ (V. 10) bezeichnet Benn hier als „Lauter Neugeburten“ (V. 9): „wie aus einem Mutterleib“ (V. 12). Man zögert bei der Deutung des Gedichts den Gedanken Benns hier weiter auszuführen. Der Gedanke ist zu dunkel, zynisch und hat etwas Teuflisches: Das Zusammenhäufen von Leichenteilen wird hier verglichen mit der Geburt eines Kindes. Aus dem zufälligen Zusammenfallen der Leichenteile entsteht in der Deutung des ‚Ichs‘ des Gedichts etwas Neues. Natürlich muss dies etwas Lebloses sein, ohne Sinn. Aber auf diese Sinnlosigkeit kommt es Benn wohl an. Wenn überhaupt (wenn es Benn überhaupt um ‚Sinn‘ geht), will er dagegen angehen, dass man in den toten Körper etwas hineindeutet, was diesem Körper nicht zukommt. Und damit richtet Benn sich in erster Linie gegen die christlich-jüdische, meinetwegen auch gegen jede andere Form von Religion, da in jeder Religion dem Totenkult eine zentrale Stellung zukommt.
Das ‚Wunder‘ neuen Lebens, die Geburt, wird hier gleichgesetzt mit dem zufälligen Zusammenfallen von Leichenteilen nach einer Obduktion. Entweicht im Moment des Todes die unsterbliche Seele dem sterblichen Körper und strebt dann dem himmlischen Paradies zu? Ist die Leiche etwas, was dem Zwischenreich angehört zwischen Erde und Himmel? Ist die Leiche noch etwas Menschliches? Oder schon etwas nur Stoffliches? Diese Fragen sollen nicht beantwortet werden. Es soll nur darauf hingewiesen werden, mit was für Bildern, Problemen und Rätseln Gottfried Benn spielt. Das ‚Ich‘ des Gedichts entscheidet sich für die nihilistische Deutung: die Reduktion des toten Körpers auf das bloß Stoffliche.
Der zweite Themenkomplex ist markiert durch die christlichen Bilder, die Benn gewählt hat. Wir erwähnten schon das Wort „Requiem“ im Titel des Gedichts. Insbesondere in der zweiten Strophe tauchen diese christlichen Bilder auf. Benn greift das berühmte Wort Paulus auf aus dem Korintherbrief, kehrt dieses Wort in das Gegenteil um und bezeichnet die Leichen als „Gottes Tempel“ (2.Kor 6,16), ergänzt es durch das Gegenteil „Teufels Stall“ (V. 6) und lässt beide, ihres Sinnes dadurch beraubt, als Leichenteile auf den ‚Boden eines Kübels‘ zusammenfallen. Der Körper als Gottes Tempel? Der Körper als heilige Stätte des Geist Gottes? Bloßer Unsinn denkt sich Gottfried Benn. Der Ort der Kreuzigung Jesu (Golgatha) und der Sündenfall, die Säulen der christlichen Religion, werden lächerlich gemacht und sind im Gedicht nur noch gut für ein Grinsen. Der tote Körper, die Leichenteile auf dem Boden eines Kübels, können diese Dinge nur noch be-grinsen (V. 8). Ein zynisches und teuflisches Grinsen. Hier macht sich einer lustig über die größten Errungenschaften der christlichen und abendländischen Tradition. Gottes Tempel und Teufels Stall werden hier in ein bloßes Nebeneinander und Einerlei zusammengezogen. Gut und Böse, Sinn und Unsinn – einerlei. In der Sinnlosigkeit gibt es nur noch ein Grinsen.
Triumphiert hier der Nihilismus? Sind diese Verse gemeint als Rundumschlag gegen die humanistische Erhöhung des menschlichen Körpers? Oder geht es nicht nur um die Erhöhung des Körpers, geht es um die christlich-eschatologische Erwartung eines besseren Lebens im Paradies? Um die Erwartung des Heils? Um Hoffnung? Geht es um jegliche Sinnentwürfe, die sich darin auflösen, dass der menschliche Körper am Ende „von Hirn bis Hoden“ (V. 5) letztlich auf dem Boden eines Kübels landet? So oder so ist Benns Gedicht ein großer Skandal. Es macht Benn berühmt.
Benn schreibt weiter Gedichte, schreibt Essays und längere Texte. Er bleibt auch weiterhin Arzt. Ihm wird im Ersten Weltkrieg als Militärarzt das Eiserne Kreuz zweiten Grades verliehen, er stirbt dann im Jahr 1956 in Berlin.
Die Fragen, die sich beim Lesen des Gedichts aufdrängen, von denen einige erwähnt wurden, können nicht beantwortet werden. Es muss auch offenbleiben, ob Benn dieses Gedicht geschrieben hat mit dem Ziel der christlichen Kirche einen Schlag zu versetzen und um gegen das Konzept der Heiligkeit des Körpers anzugehen. Meiner Meinung nach wäre das zu kurz gegriffen. Der pietätvolle Umgang mit Toten ist kein Alleinstellungsmerkmal der christlichen Kirche. Dieser besondere Umgang ist viel älteren Ursprungs und ist Fundament der Zivilisation und des gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Dass die Menschen anfingen, ihre Toten zu begraben, ist Ursprung einer Erinnerungskultur, der Zivilisation und damit auch der Religion. Benns Gedichte aus dem Gedichtband „Morgue“ und insbesondere dieses Gedicht „Requiem“ sind ein Angriff auf die Fundamente der Zivilisation. Das soll keine moralische Bewertung sein. Und schließt auch jede ästhetische Beurteilung aus. Es soll nur zeigen, dass Benn einen sehr tiefen Nerv getroffen hat. Und vielleicht ist die Poesie die geeignete Art und Weise, diesen Nerv freizulegen.
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