Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Kontextualisierung
Als Gottfried Benn (1886-1956) im Alter von 67 Jahren dieses Gedicht schrieb, feierte er in Deutschland bereits sein ungeahntes Comeback. Ungeahnt deswegen, weil er sich im Zweiten Weltkrieg zum Nazi-Regime bekannt hatte und nach 1945 geächtet wurde. Er selbst zählte sich zu den Expressionisten, die seiner Meinung nach die Aufgabe hatten, zu „entblößen“. Gleichzeitig distanziert sich Benn als Nihilist1 und außerdem als der große Einsame von den jüngeren Dichtern des Expressionismus über die er ein Jahr vor seinem Tod (1956) schrieb, sie probierten „die Automatismen physiologischer und organhafter Art“ durch Exzesse ihres Individualismus zu lockern.
Das Gedicht „Nur zwei Dinge“ kann keiner Epoche ohne Widersprüche zugeordnet werden. Es ist vielmehr ein Unikum, ein einmaliges Kunstwerk des Sensationsautors Gottfried Benn.
Trotzdem steht das Gedicht unter einer Entwicklung der Gesellschaft und im speziellen der Großstadtlyrik, die Einflüsse auf das Denken jedes Menschen hatte. So spricht auch Georg Kaiser (1878-1945) in dem Drama „Die Bürger von Calais“: „Ich habe den neuen Menschen gesehen“. Dieser neue Mensch stand einer enormen Entwicklung ohnmächtig gegenüber. Eine Entwicklung der Technik, einer Entwicklung von Kriegen und der Entwicklung einer in sich geschlossenen verselbstständigten Gesellschaft. Bedingt wird dieser „neue Mensch“ jedoch, durch das Annehmen eben dieses Fortschrittes. Das „Ich“ des Einzelnen, das sich anonym, entfremdet und allein gelassen in der entinvidualisierten Welt erfährt, ist vielmehr Teil der Masse – der Gesellschaft.
Jedes Individuum hat innerhalb dieser Entwicklung sein „Ich“ verloren und ist nun bestandsloser Teil des Ganzen. Ein Staubkorn gegenüber einer ungeheuren Organisation mit Hilfe der Vernunft nicht durchschaubarer Mächte.
So ist auch dieses Gedicht Aufschrei eines Dichters gegen die nun sinnlos gewordene, bzw. noch sinnloser gewordene Welt. Ideale wie Selbstverwirklichung oder allgemein die Religiosität, die für die Menschen der vorangegangenen Jahrhunderte eine Rolle spielten, sind nun in eine unnahbare Weite gerückt. Die Religion selber, symbolisiert durch Nietzsches berühmten Ausspruch „Gott ist tot“, hat an Einfluss eingebüßt, gerade deswegen, weil in einer durchrationalisierten und technisierten Welt Vorstellungen wie das Paradies nach dem Tod so sehr an Bedeutung verloren haben. Warum? Weil man in der fortschrittlichen Gegenwart ein vermeintliches Paradies errichtet hatte. Alles war möglich. Sofortige Befriedigung setzte den Glauben an eine Befriedigung nach dem Tod ab. Das Leben wurde länger, den Tod konnte man nun immer öfter bekämpfen und den Zeitpunkt des Todes hinauszögern.
Das Gedicht greift die Problematik der Menschen auf. Die Sinnlosigkeit wird aber nicht durch Exzesse eines Individualismus zu durchbrechen versucht. Sie wird hingenommen.
Mit Hilfe einer Analyse und Interpretation wird sich zeigen, warum sich dieses Gedicht nicht mehr eindeutig dem Expressionismus zuordnen lässt.
Analyse (Makrostruktur)
Das Gedicht besteht aus drei Strophen, die jeweils einen Sinnabschnitt bilden. Die erste Strophe ist vier Verse lang. In ihr wird eine Frage gestellt, die bereits mit der zweiten Strophe und der zweiten Kompositionseinheit beantwortet wird. Diese Antwort geht über 5 Verse, und steht im Zentrum des Gedichts, um die Wichtigkeit der Aussage zu bekräftigen. Im letzten Sinnabschnitt wird eine Erklärung gegeben. Sie ist vier Verse lang.
Das Rhythmusschema wird der Wichtigkeit der Wörter angepasst. D.h. Betonungen entstehen auf wichtigen Wörtern oder Silben, um diese zu verstärken und zu betonen. Daraus entsteht eine Variation aus 3-hebigem Jambus und 3-hebigem Daktylus. Dieser Daktylus kann auch als variierter Jambus mit vielen überzähligen Senkungen interpretiert werden.
Das Reimschema wird größtenteils beibehalten. Der Kreuzreim wird nur in Vers 7-8 in einen Paarreim umgewandelt.
Die äußere Form steht im Dienste der Aussage des Gedichts. Sie ist strukturiert, harmonisch und hilft der Verständigung des Inhalts. Diesem Inhalt kommt besondere Bedeutung zu.
Analyse (Mikrostruktur)
In der ersten Strophe wird auf die Sinnlosigkeit des Lebens hingewiesen. Das lyrische Ich ist durch viel „Form geschritten“ (V. 1). Es lernte seine Identität kennen – das „Ich“, dann das „Wir“ und zuletzt das „Du“ (V. 2). Diese Personalpronomina2, verdeutlicht durch ein Polysyndeton, stehen für grundsätzliche Lebensverhältnisse, bzw. Identitäten. Doch für das lyrische Ich ist es nur eine Form, die man durchschreiten kann. Dabei steht das „Wir“ für eine nicht näher genannte Konstellation von Menschen, genau wie das „Du“ (V. 2). Es ist nur die äußere Form eines Menschen, die nicht hilft: „doch alles blieb erlitten“ (V. 3). Eine Problematik des Expressionismus wird aufgegriffen: der Identitätsverlust des Individuums. Egal in welcher „Form“ (V. 1) man sich befindet, es bleibt die „ewige Frage: wozu?“ (V. 4).
Um die Sinnlosigkeit weiter zu definieren, müsste man als Leser selbst ein absolutes Ziel setzen, zum Beispiel sagen: für das Glück, hilft es nichts die Form zu verändern. Jedoch liegt es bei jedem Selbst, sich dieses Ziel zu setzen, da es für die Menschen, wie in der Kontextualisierung der Gedichtanalyse geschrieben, kein objektives Ziel wie den Glauben mehr gab und gibt. Das absolute Ziel wird subjektiviert. Aber auch aus Ehrgefühl zum verstorbenen Dichter Gottfried Benn, der gerade gegen diese Zielsetzung dieses exemplarische Gedicht geschrieben hat, liegt es mir Fern, diese zu postulieren.
Das gemeinte wird deutlich, wenn man die zweite Strophe des Gedichts näher betrachtet. Durch den fünften Vers, in dem er die ewige Frage als „Kinderfrage“ (V. 5) betitelt, wird diese keineswegs herabgesetzt. Kinderfragen gelten als die ursprünglichsten und existenziellsten aller philosophischen Fragen.
Im nächsten Vers spricht er den Leser erneut direkt an mit dem reflexiven Personalpronomen „Dir“ (V. 6). Gerade weil es eine existenzielle Frage ist, geht es alle Menschen gleichermaßen an. Dem lyrischen Ich und dir selber wird „erst spät“ (V. 6) bewusst, was die Antwort auf die Frage sein könnte. Das heißt erst nach Ansammlung von Lebenserfahrung, durch das Alter.
Die Antwort steht im Mittelpunkt des 13 Verse langen Gedichtes. Diesen Vers kann man als die Spiegelachse des Gedichtes betrachten. Alles führt zu diesem Punkt.
Die Antwort ist ernüchternder als alles andere. Sie lautet „ertrage“ (V. 7). Sie wird eingeleitet mit einem zum Titel im Kontrast stehenden Satz: „es gibt nur eines“ (V. 7). Der nächste Vers ist durch Gedankenstriche als eingesetzt gekennzeichnet, und zählt auf, was man ertragen soll. Verstärkt wird diese Einsetzung durch ein Polysyndeton, d. h. durch die Folge von Substantiven, die durch Konjunktionen verbunden sind „ob“ (V. 8). Doch erst im neunten Vers wird konkret gesagt, was man ertragen soll: „dein fernbestimmtes: Du mußt“ (V. 9).
Durch die erneuten persönliche Anreden „dein“ und durch „du“ (V. 9) wird Betroffenheit im Leser hervorgerufen. Wichtig ist außerdem das Adjektiv „fernbestimmt“ (V. 9). Es wird nicht gesagt, wer bestimmt. Es ist vielmehr die bereits angesprochene ungeheure Organisation von nicht durchschaubaren Mächten. Diese kann ein bestimmter Gott sein. Oder im Schopen- hauer’schen Sinne der Wille selbst. Ein äußeres Etwas, welches für die Weltordnung, für deine Welt verantwortlich ist. Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens wurde nicht konkret gegeben. Aber es wurde geschildert, was man machen muss: „es gibt nur eines: ertrage“ (V. 7). Die Ausweglosigkeit und Sinnlosigkeit muss man ertragen.
Diese mittlere Strophe ist die entscheidene, deswegen noch ein kleiner Anhang zum eingesetzten Vers: Die verbundenen Substantive, die außerdem in Form einer Alliteration3 genannt wurden: „Sinn“, „Sucht“ und „Sage“ (V. 8) sind Wörter, die für bestimmte Bereiche stehen – sie sind Synekdochen4. Der erste Bereich „Sinn“ ist der des Kopfes, der Gedanken und des Nachdenkens. Mit „Sucht“ (V. 8) ist der Bereich des unmittelbaren Vergnügens abgedeckt und die „Sage“ (V. 8) steht für den Mythos, für Fantasie. Damit kann die Flucht in die Fantasie, aber auch die Flucht in eine Religion gemeint sein. Wobei sich die Flucht in das Fantastische erst später – mit der Entwicklung der Computerspiele oder durch Comics etc.- in der modernen Welt einen Platz im Alltagsleben geschaffen hat.
Im übertragenen Sinne stehen diese drei Bereiche für Forschung, Hedonismus und Religion. Diese drei Bereiche helfen nicht. Gottfried Benn kritisiert damit die Gesellschaft, bzw. alle Menschen, die sich einen dieser drei Namen auf die Fahne geschrieben haben und versuchen dadurch einen Sinn zu finden.
Der letzte Vers gibt die Erklärung für die Antwort. Eine Erläuterung des vorher genannten. Das Stilmittel des Polysyndeton wird mit gleicher Konjunktion übernommen. Ein Motiv aus der Romantik wird aufgegriffen: die Vanitas - die Vergänglichkeit alles Seienden. Im 10. Vers werden durch Substantive aus der Welt der Natur im Leser Bilder hervorgerufen, die im nächsten Vers, zerstört werden: „was alles erblühte, verblich“ (V. 11). Alles noch so schöne, und ehemals göttliche (Pantheismus), ist nicht von Dauer und vergeht.
Es gibt nur zwei Dinge, die von Dauer sind: „die Leere und das gezeichnete Ich“ (V. 12-13). Erbaut man sich demnach eine Weltanschauung, kann sich diese nur auf die beiden genannten Faktoren stützen. Darauf ist Verlass. Konkret wäre dies zum Beispiel der Nihilismus, zu dem sich Gottfried Benn auch oftmals bekannt hatte. Die Aussage dieses Gedichts wird aber deutlich im Zentrum mit dem Wort „ertrage“ (V. 7). Irgendeine Weltanschauung steht im Kontrast zu dem „einen“ (V. 7). Dadurch wird die Dualität des Gedichts veranschaulicht.
„es gibt nur eines“ (V. 7) steht im Kontrast oder im Konflikt zu „es gibt nur zwei Dinge“ (V. 12). Aber dieser Konflikt ist nur ein oberflächlicher. Beides schließt einander nicht aus. Vielmehr bedingen sie einander. Man muss ertragen, weil es nur Leere gibt, und nur das gezeichnete Ich.
Obwohl mit dem Adjektiv „gezeichnete“ (V. 13) ein klar negatives Bild geschaffen wird, ändert dies nichts an der übergeordneten Bedingung: „Du mußt“ (V. 9).
Weitergehende Interpretation und Synthese
Gottfried Benn zeigt auf, dass das Leben sinnlos ist, jedoch gibt es einen Weg dieses Leben zu bestreiten. Dieser Weg liegt nicht in der Durchschreitung der Formen, bzw. der Identitäten, nicht in Forschung, Genusssucht oder Religion, noch in der Natur selber. Es gibt ein fernbestimmtes Müssen, und dieses Müssen muss man ertragen.
Obwohl Thematik des Gedichts in die Epoche des Expressionismus passen würde, werden genauso Motive der Romantik aufgenommen (Motiv der Vanitas in Strophe 3). Die einfache und geordnete Form des Gedichts lässt außerdem auf eine ältere Epoche schließen. Auffällig ist dennoch die häufige Verwendung des Personalpronoms „Du“. Der Leser wird direkt in den Bann des Gedichtes gezogen. Es ist keine allgemein gefasste Hymne auf die Sinnlosigkeit der Welt. Es ist ein direktes Aufzeigen und Wegweisen und in dieser Hinsicht politisierend.
Insgesamt ein einzigartiges Gedicht mit Vermischungen aus Expressionismus, moderner politischer Großstadtlyrik und Romantik.