Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Inhaltlich handelt das Gedicht von der Obduktion eines toten Mannes, dem eine kleine Aster zwischen die Zähne gesteckt wurde. Das Lyrische Ich „pflanzt“ die Aster, nachdem er sie aus dem Mund gestoßen hat, dem Mann in die Brusthöhle ein.
Das fünfzehnversige Gedicht, welches keinem einheitlichen Versmaß folgt, und nur zwei Reimpaare enthält, auf die ich in der Interpretation eingehen werde, lässt sich in drei Sinnabschnitte unterteilen. Im ersten Sinnabschnitt (V.1-3) wird lediglich der Leichnam des Mannes äußerlich beschrieben. Bei dieser Beschreibung wird die kleine Aster, neben der Überschrift, zum ersten Mal erwähnt; sie steckt zwischen den Zähnen des Bierfahrers. Im zweiten Sinnabschnitt (V.4-9) findet der Obduktionsvorgang statt. Das Lyrische Ich entnimmt dem Mann Zunge und Gaumen, sowie das Gehirn. Bei diesem Vorgang stößt er die kleine Aster an, die daraufhin aus dem Mund des Toten fällt. In Sinnabschnitt drei (V.10-15) pflanzt das Lyrische Ich dem Mann die Aster in den Brustraum ein.
Das Gedicht von Gottfried Benn trägt die Überschrift „Kleine Aster“. Es fällt sofort auf, dass die Aster wegen des fehlenden Artikels austauschbar, dass heißt entindividualisiert ist. Vollständige müsste es schließlich heißen „Die kleine Aster“, oder zumindest „Eine kleine Aster“. Auch der unbestimmte Artikel „Ein“(V.1) mit dem das Gedicht beginnt, und der sich auf den „Bierfahrer“(V.1) bezieht, ist ein Anzeichen des Individumsverlustes in der Gesellschaft. Insbesondere um die Jahrhundertwende ins 20. Jahrhundert ist die Bevölkerung stark gewachsen. In Deutschland zum Beispiel von 50 Millionen im Jahr 1890 auf 65 Millionen zwanzig Jahre später. Vorallem in den Städten geht der dörfliche Charakter, das „Jeder kennt jeden“-Gefühl verloren. Benn zeigt diese Veränderung der Gesellschaft schon früh in dem Gedicht auf, da sie die Ursachen für die Themen Benns, wie „Entwürdigung des Todes und des Menschen“ sind. Der Bierfahrer wird im ersten Satz dieses Gedichts tod auf einen „Tisch gestemmt“ (V.1). Als Todesursache wird „ersoffen“(V.1) angegeben. Versteht man den Ausdruck „Bierfahrer“(V.1) als Beruf, womit ein Mann gemeint wäre, der Bier ausfährt, so ist es dennoch erstaunlich, dass genau dieses Detail hier zusammen mit der Todesursache des Ertrinkens erwähnt wird. Ein Zusammenhang zum Naturalismus, den Benn eigentlich ablehnte, lässt sich hier nicht vermeiden. Die Alkoholikerproblematik ist in den Dramen des Naturalismus, wie dem Werk „Vor Sonnenaufgang“ von Gerhardt Hauptmann unübersehbar. Die Realität eins zu eins darzubieten, haben die Naturalisten als ihre Aufgabe gesehen. Auch Benn beginnt sein Gedicht mit einem verunglückten Seufer. Denn das Verb „ersoffen“(V.1) könnte man in diesem Zusammenhang auch an den Alkohol knüpfen, von dem er zu viel „[ge]soffen“(V.1) hat. Dass Suff in der Gesellschaft um 1900 alltäglich ist, zeigt auch die Erzählung „Papa Hamlet“ von Arno Holz, in der Niels Thienwiebel im Suff erfriert. Dieser Bierfahrer wird auf dem Tisch des Pathologen „gestemmt“(V.1), was zur Schau stellt, dass es sich um einen korpulenteren Mann handelt. Wahrscheinlich wohl genährt vom Alkohol. Ein wieder unbestimmter „Irgendwer“(V.2) hat diesem Mann eine Aster zwischen die Zähne gesteckt. Die Vorstellung eines toten Leichnams, dem jemand eine Blume zwischen die Zähne steckt ist schon sehr abstrus, passt jedoch zum Zynismus, für den Benn bekannt ist, und bringt eine klare Antithese1 zwischen Tod und Leben ins Spiel. Die „Aster“(V.2) selbst ist eine Blume, die es in verscheidenen Arten und Formen gibt. Eine weiße Aster steht normalerweiße für den Tod. Eine Antithese könnte man dann jedoch zwischen Blume und Bierfahrer nicht mehr finden. Deshalb ordnet der Dichter der Blume die Farbe „dunkelhellila“(V.2) zu. Hierin erschließt sich für den Leser eine weitere Antithese zwischen hell und dunkel. Außerdem kommt die Farbe lila noch mit ins Spiel. Es entsteht bei dem Adjektiv, welches die Aster beschreibt auf der einen Seite eine klare Trennung zwischen „hell“ und „dunkel“, Leben und Tod, auf der anderen Seite ist die Farbe „lila“(V.2) eine Mischfarbe, die aus den wieder konträren Farben blau und rot entsteht. Auch in der Beschreibung der Aster scheint also ein Paradoxon2 zu stecken. Der erste Sinnabschnitt schließt mit einem, der beiden einzigen Reime des Gedichts. Es handelt sich um einen umarmenden Reim zwischen Vers eins und drei, zwischen dem wieder die „Aster“(V.2) steht. Hiermit zeigt sich die Ambivalenz der Blume, die in diesem Gedicht zu Beginn im „Tod“, nämlich dem Mund des Mannes steckt, jedoch außen noch Kontakt zur lebendigen Natur hat. Die sich reimende passivisch konjugierten Verben „gestemmt“(V.1) und „geklemmt“(V.3) schließen den ersten Sinnabschnitt und damit die Beschreibung der Situation und des Leichnams, ohne, dass das Lyrische Ich eingreift, ab.
Im zweiten Sinnabschnitt(V.4-9) beginnt die Obduktion durch das Lyrische Ich, bzw. den Pathologen. Dieser gesamte Abschnitt zieht sich über sechs Verse, besteht dabei jedoch nur aus einem einzigen Satz. Diese kompakte und komprimierte Form des Ausdrucks bei einem so tief in die Persönlichkeit und Würde eines Menschen eingreifenden Vorgang der Obduktion, ist nur wegen der radikal sachlichen Schreibweise Benns möglich. Ohne jegliches Gefühl bringt der Dichter zu Papier, wie das Lyrische Ich dem Toten mit „einem langen Messer“(V.6) „Zunge und Gaumen“(V.7) herausschneidet. Auch für einen Laien ist an dieser Stelle klar, dass es sich nicht um einen normalen Obduktionsvorgang handeln kann. Dort wird zwar auch die Brust aufgeschnitten und wenn nötig werden die Organe geprüft. Das herauschneiden von Zunge und Gaumen scheint jedoch zur Untersuchung der Todesursache unnötig. Umso eindeutiger wird klar, dass Benn mit diesem beschriebenen Vorgang etwas anderes darstellen will. Nämlich die Sprach-Krise. Dieses Thema beschäftigt die Expressionsten, zu denen sich Benn zuordnen lässt, stark. Sinnbildlich für die verlorengegangene Kommunikation in der Welt schneidet das Lyrische Ich dem Toten die Zunge hinaus. Die Welt der damaligen Zeit wurde durch viele Erfindungen aus Naturwissenschaft und Technik immer koplizierter und schwieriger zu verstehen. So kompliziert, dass den Menschen die Worte dafür fehlten, was sie sagen wollten. Im Chandos-Brief von Hugo von Hoffmansthal schreibt dieser, dass ihm die Worte im Mund zerfielen, wie modrige Pilze. Benn stellt diese Sprachkrise auf seine eigene, brutale und schockierende Weise dar, indem er dem Toten die Zunge, dass wichtigste Organ zum Sprechen hinausschneiden lässt. Unter dem Aspekt der Sprach-Krise ließe sich auch die zwischen den Zähnen klemmende Aster erläutern, denn auch mit geschlossenem Mund kann man nicht Sprechen. Das Bild eines Menschen ohne Zunge, und mit geschlossenem Mund den er ohne hin nicht Öffnen könnte, ohne die Aster zu verlieren, spiegelt eindeutig die Sprachkrise wieder. Bei seinen Obduktionsarbeiten geht das Lyrische Ich ohne „Rücksicht auf Verluste“ vorbei an der „Brust“ (V.4) „unter der Haut“ (V.5) bis zum Sprechorgan. Nur dieses scheint ihn zu intersieren. Wie vorher schon erwähnt benötigt es des Rausschneidens der Zunge eigentlich nicht, um eine Todesursache festzustellen. Möglicherweise muss man sich hier gar die Frage stellen ob es sich beim Lyrischen Ich überhaupt um einen Pathologen handelt oder nicht gar um einen Wissenschaftler, der den toten Körper für Versuche nutzt. Damit würde der tote Mensch an dieser Stelle zum Versuchkanninchen degradiert. Von Seele, Himmel und Gott, wie im Barock ist hier an keiner Stelle der Rede. Der Tote wird nur auf das körperliche hin betrachtet. Beim Herauschneiden der Zunge stößt das Lyrische Ich an die Aster und diese fällt in „das nebenliegende Gehirn“(V.9). Wie nebensächlich zeigt sich hier, dass auch das Gehirn schon entnommen worden ist. Der Interlekt des Menschen liegt schon neben ihm. Diese Trennung zwischen Geist und Körper zeigt, dass der Mensch , ob mit oder ohne Gehirn und Verstand die Welt von heute nicht mehr verstehen kann. Gefühlslos beschreibt Benn den Vorgang des Herasuschneidens der Zunge. Ganz im Gegensatz dazu verwendet er das sanfte Wort „angestoßen“(V.8) für die Berührung zwischen dem Messer und der Blume. Für sie hat er anscheinend mehr Gefühle und Mitleid übrig als für den toten „Bierfahrer“(V.1).
Im letzten Sinnabschnitt (V.10-14) hebt das Lyrische Ich die Aster auf, pflanzt sie dem Mann in die „Brusthöhle“ (V.10), bevor diese wieder zugenähnt wird. Am Ende flüstert es der Aster noch freundlich Worte des guten Gedeihens zu. Zwischen die „Holzwolle“(V.11), die augenscheinlich zur Füllung der Leichen verwendet wird, „packt(..)“ (V.10) er die Aster. Er setzt sie in die „Brusthöhle“(V.10). Genau dorthin, wo eingentlich das Herz schlägt. Daraus ergibt sich, dass auch dieses schon aus der Leiche entnommen worden ist. An Stelle des toten Herzens sitzt nun eine kleine Aster, ein kleines Stück Leben im Brustkorb. Ein lyrischer Vorverweis darauf, dass sich die Natur früher oder später sowieso ihren Zugang zum menschlichen inneren Bahnen wird. Letztendlich wird der Mensch wieder zur Natur. „Trink dich satt in deiner Vase!“ (V.13), müsste eigentlich in Anführungszeichen der direkten Rede stehen, denn das Lyrische Ich spricht nun direkt mit der Blume. Das zynische an dieser Szene ist, dass man normalerweise, z. B. bei einer Beerdigung dem Toten etwas zuflüstert, obwohl dieser es nicht mehr hören kann. Als Zeichen des Abschieds. Als Parodie auf diesen Abschiedskult des Menschen flüstert das Lyrische Ich hier der Aster etwas zu, und nicht dem Toten. Benn zieht damit den Totenkult der Menschen, wie die Beerdigung, oder die christliche Vorstellung von Himmel und Hölle völlig ins lächerliche. Für ihn als Nihilist3 ist der Mensch ein gleichberechtigter Teil der Natur. In diesem Fall ist ihm die Aster sogar wichtiger als der Mensch. Wenn man diesen Satz inhaltlich betrachtet, wird der Mensch, och zum Objekt, zum Mittel zum Zweck. Der menschliche Körper wird zu einer „Vase“ (V.13) und die Körpersäfte zum Wasser, welches die Pflanze zum Überleben braucht. Die Tatsache, dass der Mensch normalerweise die Natur gebraucht, wie er das möchte und diese sich aufgrund ihrer fehlenden Ausdrucksmöglichkeit nicht zu wehren weiß, wird komplett umgedreht. Das Lyrische Ich pflanzt dem Menschen die Pflanze ein, die sich nun in ihm vermehren kann, ohne das dieser sich zur Wehr setzen kann. Die letzten beiden Verse wirken wie ein vorhin schon erwähnter Abschiedsspruch für einen toten Menschen, der nun beerdigt werden soll: „Ruhe sanft“ (V.14). Die beiden freundlichen und besänftigenden Worte „Ruhe“ und „sanft“ stehen eigentlich für den ewigen Frieden des Menschen. Dieser scheidet jedoch für Benn aus, weshalb die Worte an die kleine Aster gerichtet sind, und nicht an den Menschen. Mit dem Protagonist „kleine Aster“ (V.15) endet das Gedicht in einer Ringkomposition zur Überschrift. Das gesamte Gedicht und der beschriebene „Bierfahrer“(V.1) dienen nur als Bühne für den Protagonisten, die „kleine Aster“(V.2), die das gesamte Geschehen einrammt. Von einer Beerdigung des Menschen ist nicht mehr die Rede, denn der Protagonist, die Aster wurde schon begraben. Eine komplette Umkehr der Realität, die Natur wird im Menschen begraben und nicht der Mensch in der Natur. Mit dieser Darstellung nimmt Benn dem Menschen, der von je her denkt, er steht über der Natur, jede Würde.