Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Einleitung
Der Umstand, dass der Terminus „Jahrhundertwende“, also ein kalendarischer und noch dazu ungenauer Begriff, oftmals zur Bezeichnung der literarischen Epoche am Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert in Deutschland bemüht wird, zeigt deutlich, dass die Zeit homogener Epochenstile in der Literatur endgültig vorüber ist.
Bereits der Naturalismus der 1890er Jahre stellt nur eine mögliche Perspektive von mehreren dar. Als Gegenströmung hierzu entwickelt sich, noch während der naturalistischen Blütezeit, der sogenannte Impressionismus, der die möglichst genaue Darstellung von Wahrnehmungen und Stimmungen zum Ziel hat und sich von den realistischen Strömungen des 19. Jahrhunderts abgrenzt. Eng mit dem Impressionismus verbunden sind Fin de siècle (franz.: Ende des Jahrhunderts) und Symbolismus, wobei die Grenzen zwischen den Teilströmungen oft fließend verlaufen. Während in späterer Zeit auch impressionistische Autoren der Dichtung moralische und religiöse Aufgaben zuschreiben, entsteht die Kunst zu Beginn der Strömung vor allem um ihrer selbst Willen, der Ästhetizismus steht im Mittelpunkt: L’art pour l’art.
Die Kunst als Selbstzweck wird im circa 1910 aufkommenden Expressionismus grundsätzlich abgelehnt, Ziel ist das Ausdrücken der eigenen Gefühle. Die Darstellung von Abscheu und Ekel ist nicht selten, das Empfinden von Gefahr und das Weltende werden thematisiert und bislang tabuisierte Themen wie Krankheit, Hässlichkeit und Sexualität halten Einzug in die Lyrik. Das Einbringen solcher schockierenden Themen in die Dichtung ist insbesondere bei Gottfried Benn, dessen Gedicht „Kleine Aster“ im Folgenden analysiert werden soll, häufig zu beobachten, vor allem in dessen Zyklus „Morgue“ (franz.: Leichenschauhaus), aus dem auch das vorliegende Gedicht stammt.
Analyse inhaltlicher und sprachlicher Merkmale
Wie so viele Gedichte des Zyklus’ „Morgue“ ist auch „Kleine Aster“ in rhythmisierter Prosa verfasst, verzichtet also auf ein festes Metrum1 ebenso wie auf ein Reimschema. Es steht nicht, wie im Impressionismus, die Schönheit der Form im Vordergrund, vielmehr wird der Fokus durch die freie Form stärker auf den Inhalt gelegt. Das Gedicht besteht aus zwei Strophen, wobei die erste die Verse eins mit drei, die zweite die übrigen zwölf Verse umfasst
Die erste Strophe stellt dabei eine Art Vorgeschichte dar, sie beschreibt die Szenerie, wie sie sich vor dem Erscheinen des lyrischen Ich darstellt: In einem pathologischen Institut wurde die Wasserleiche eines Bierfahrers zur Obduktion bereitgelegt (vgl. V. 1). Allein die Darstellung des Toten – es ist tatsächlich nur „[e]in […] Bierfahrer“ (V. 1), ein völlig beliebiger also – macht klar, dass dieser nicht im Vordergrund steht, er wird entindividualisiert. Darüber hinaus ist der Kutscher nicht etwa ertrunken, sondern „ersoffen[…]“ (V. 1), ein Verb, welches im Allgemeinen, ebenso wie die Tätigkeit des Saufens, vor allem mit Tieren assoziiert wird; der Tote wird regelrecht entmenschlicht. Auch der Umstand, dass der Leichnam „auf den Tisch gestemmt“ (V. 1) wurde, lässt nicht gerade auf einen besonders pietätvollen Umgang mit dem Verblichenen schließen; er wird nicht auf den Tisch gelegt der gar gebettet, sondern gestemmt, ebenso wie er selbst dereinst seine Bierfässer stemmte. Der Bierfahrer ist also beliebig, er ist austauschbar und endlich nur der Grund für das notwendige Übel der Arbeit des Arztes.
Nun zeichnet sich der Fahrer doch noch durch eine Eigenheit aus, die jedoch nicht durch sein eigenes Zutun bedingt ist: Zwischen seinen Zähnen steckt eine Aster. „Irgendeiner“ (V. 2) – abermals eine Entpersonalisierung – hat sie dort eingeklemmt. Es handelt sich hierbei um eine „dunkelhellila [sic!] Aster“ (V. 2), wobei Benn hier einen Neologismus2 bildet, der ein Paradoxon3 darstellt, wodurch die Aufmerksamkeit des Lesers auf die titelstiftende Blume gelegt wird. Die Farbgebung ist im doppelten Sinne ungewöhnlich: Zum einen stellen „dunkel“ und „hell“ einen Gegensatz dar, der hier überwunden wird, zum anderen sind Astern gemeinhin von blässlicher Farbe, während sich in diesem Fall auch eine dunkle Komponente in das Dunkelhelllila der Blume mischt. Die Aster steht somit klar im Mittelpunkt, die Alliteration4 „zwischen die Zähne“ (V. 3) verstärkt diese zentrale Stellung zusätzlich.
Die Aster ist eine ausdauernde, kältefeste, teilweise auch mehrjährige Blume des Herbstes, einer Jahreszeit, die traditionell mit Vergänglichkeit assoziiert ist, und wird außerdem aufgrund ihrer Zähigkeit oftmals als Friedhofsblume eingesetzt. Eine Vorausdeutung auf den Tod der Aster ist also hier schon zu erkennen, obschon die noch blühende Blume an dieser Stelle auch einen Kontrast zum toten Bierfahrer herstellt.
Mit Beginn der zweiten Strophe betritt das lyrische Ich, ein Arzt, die Szenerie. Es beschreibt das Vorgehen der Obduktion detailliert, indem es „mit einem langen Messer Zunge und Gaumen“ (V. 6f) herausschneidet. Die Beschreibung der Untersuchung erstreckt sich in einem Satz über sechs Verse, die Enjambements5 heben ihre Zusammengehörigkeit deutlich hervor. An vielen Stellen werden medizinische Begriffe, beispielsweise das „lange[…] Messer“ (V. 6) oder „Zunge und Gaumen“ (V. 7), in das Gedicht eingebracht, was in früheren Literaturepochen undenkbar gewesen wäre; die Obduktion wird nicht bildhaft umschreiben, sondern realitätsnah dargestellt, wobei kein Raum für Gefühle dem Toten gegenüber bleibt. Stattdessen sind Gefühlsregungen des lyrischen Ich der Aster gegenüber erkennbar, geht es doch in seiner Beschreibung auf die aus medizinischer Sicht völlig nebensächliche Vermutung, es habe die Pflanze angestoßen, ein (vgl. V. 8). Das lyrische Ich scheint sich geradezu Sorgen um die Aster zu machen, die in das „nebenliegende“ – neuerlich ein Adjektiv, welches keinerlei Emotionen bezüglich des Menschen erlaubt – „Gehirn“ (V. 9) glitt.
In den folgenden drei Versen wird abermals die Entpersonalisierung des Bierfahrers deutlich, während die Aster regelrecht umsorgt wird. Das lyrische Ich entschließt sich, die Aster in die Holzwolle zu betten, die zum Aufsaugen der Flüssigkeit statt der entfernten inneren Organe in den Leichnam gefüllt wird. Es „packt[…]“ (V. 10) sie dazu „ihm“ (V. 10) in die Bauchhöhle; der Fuhrmann ist nun nicht mehr der „Bierfahrer“, sondern nur mehr ein Pronomen. Doch selbst dieser letzte Rest Individualität und Persönlichkeit geht verloren, „als man zunähte“ (V. 12). Benn schreibt nicht „als man ihn zunähte“, sondern verzichtet an dieser Stelle sogar auf das Pronomen. Auch die Vorgehensweise an sich, statt der inneren Organe, die heute nach der Obduktion mitbestattet werden, Holzwolle in die Bauchhöhle zu füllen, entwürdigt den Menschen ein weiteres Mal.
Die letzten drei Verse der zweiten Strophe widmen sich nun ausschließlich der Aster, der tote Bierfahrer findet keine Erwähnung mehr. Es erfolgt ein Zeitwechsel ins Präsens, die Aster wird nun direkt angesprochen: „Trinke dich satt in deiner Vase!“ (V. 13). Allein aus der in diesem Gedicht einmaligen Verwendung von „dich/deiner“ spricht Zuneidung der Aster gegenüber, während der menschliche oder eher entmenschlichte Körper nur mehr als Vase für die Aster fungiert, die sich darin hoffentlich satttrinken möge.
Doch das lyrische Ich ist sich auch bewusst, dass die Aster ohne Luft im Körper des Bierfahrers keine Überlebenschance hat, dass bereits mit der Trennung von ihren Wurzeln ihr Tod feststand, nur noch herausgezögert wurde; die kleine Aster wird sterben, und dies nicht zuletzt durch menschliches Zutun. Das lyrische Ich verabschiedet sich von der Aster mit den Worten: „Ruhe sanft, // kleine Aster!“ (V. 14f). Dieser erneut emotionale Ausruf drückt abermals die Gefühle des Arztes aus, was vor allem durch das hier positiv konnotierte und mit Niedlichkeit und Schutzbedürftigkeit assoziierte Adjektiv „klein“ unterstrichen wird. Das Gedicht gipfelt in der Wiederholung des Titels, der im letzten Vers alleine steht und gleichsam die Quintessenz des Werkes darstellt: Ausschließlich für die „kleine Aster“ werden Gefühle empfunden, wohingegen der Mensch zum Ende vollständig an Bedeutung verliert. Der Blume wird ihr Tod so angenehm wie möglich gemacht (vgl. V. 13), während der Bierfahrer, getreu dem Motto „Dienst nach Vorschrift“, regelrecht abgefertigt wird.
Vergleich zum Gedicht „Schöne Jugend“
In seinem Aufbau, vor allem aber in seinem Inhalt weist „Kleine Aster“ große Parallelen zu Benns Morgue-Gedicht „Schöne Jugend“ auf. In ihm geht es ebenfalls um die Obduktion einer Wasserleiche, jedoch einer weiblichen. Dieses sogenannte Ophelia-Motiv entfällt in „Kleine Aster“. Im ersten Sinnabschnitt wird auch in „Schöne Jugend“ zunächst die Leiche geschildert, im zweiten Sinnabschnitt treten an die Stelle der kleinen Aster einige Ratten, welche sich in dem Leichnam eingenistet und dort eine „schöne Jugend“ verbracht haben. Auch in „Schöne Jugend“ ist der Mensch entindividualisiert, ja entmenschlicht, während deutliche Gefühlsregungen des lyrischen Ich in Bezug auf die Ratten dargestellt werden.
Im letzten Sinnabschnitt wird schließlich, analog zur kleinen Aster, der Tod der Ratten dargestellt, doch auch ihnen werden noch im Angesicht des Todes positiv konnotierte Adjektive und Verben zugeschrieben.
Als Unterschied lässt sich ferner ausmachen, dass die Obduktion im zweiten Sinnabschnitt von „Schöne Jugend“ weniger detailliert beschrieben wird; stattdessen geht Benn dort stärker auf die Ratten ein. Im ersten Sinnabschnitt von „Schöne Jugend“ wird dagegen das Aussehen des Leichnams genauer beschrieben als in „Kleine Aster“.
Verweise auf die Biographie von Gottfried Benn
In sämtlichen Gedichten des Zyklus „Morgue“ finden sich starke Bezüge zur Biographie Gottfried Benns. Benn selbst war Arzt, wobei er auf Haut- und Geschlechtskrankheiten, die beispielsweise in „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“ eindrücklich geschildert werden, spezialisiert war. Ferner führte er eine Reihe von Obduktionen durch.
Durch seine Morgue-Gedichte versucht Benn, die Belastungen seiner Tätigkeit zu verarbeiten, was häufig durch Zynismus geschieht, weswegen er auch „Medizyniker6“ genannt wurde. Auch der Titel des Gedichts „Kleine Aster“ ist in hoher Weise zynisch, weckt er doch eine Leseerwartung, die im Gedicht enttäuscht wird; ebenso zynisch ist die Überhöhung der Aster zu der im Gegensatz zum Menschen Emotionen vorhanden sind.
Auch die detailgetreue Beschreibung der Obduktion und das Einbringen medizinischer Begriffe weisen auf Benns Fachwissen und seine Arzttätigkeit hin.
Epocheneinordnung
Genau diese Darlegung von Schockierendem, wie einer Obduktion, ist ein Aspekt, der das Gedicht „Kleine Aster“ zu einem typischen Werk expressionistischer Lyrik macht. Auf die Darstellung von Hässlichem wird in dieser Epoche nicht nur nicht verzichtet, vielmehr wird das Hässliche bewusst dargestellt. Dies bezieht sich neben dem Inhalt auch auf die Form: ein Gedicht muss nicht notwendigerweise fixes Metrum oder Reim aufweisen oder sich durch ansprechende sprachliche Bilder auszeichnen.
Typisch expressionistisch ist auch die Entindividualisierung des Menschen, die in „Kleine Aster“ beispielhaft zu erkennen ist. Zusätzlich findet eine Überhöhung der Aster statt, sodass die Pflanze am Ende sogar über dem Menschen steht. Dass die Aster den Tod erleidet, da sie durch einen Menschen von ihrer Wurzel getrennt wurde, spiegelt zudem metaphorisch das negative Bild vieler Expressionisten von der Entwicklung der Gesellschaft wider.
Schluss
Benn versucht, sich durch seine Gedichte von seiner Tätigkeit, seinem Leben abzugrenzen und letzteres von außen zu beobachten. Diese Tendenz setzt sich in der späteren Strömung der Neuen Sachlichkeit fort, in der sich die Autoren nahezu vollständig auf den Posten eines neutralen Beobachters zurückziehen. Nicht selten werden sie dabei, wie auch Benn, zynisch, was beispielsweise am Werk Erich Kästners zu erkennen ist.