Gedicht: Der Arzt II (1917)
Autor/in: Gottfried BennEpoche: Expressionismus
Strophen: 1, Verse: 20
Verse pro Strophe: 1-20
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt und kann daher nicht angezeigt werden.
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Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das vorliegende Gedicht „Der Arzt II“ von Gottfried Benn, welches 1917 veröffentlicht wurde, entlarvt den Menschen als gewöhnliches Tier.
Das Gedicht ist nicht strophisch gegliedert und besteht aus einer einzigen Versgruppe mit zwanzig Versen unterschiedlicher Länge. Sowohl ein durchgehendes Reimschema als auch ein Metrum1 lässt das Gedicht vermissen. Allerdings kann das Gedicht in vier Sinnesabschnitte unterteilt werden: Es wird eine Finalstruktur erkennbar.
Der erste Sinnabschnitt hat eine einleitende Funktion. Das lyrische Ich behauptet von dem Menschen, sich in keiner Weise von den Tieren zu unterscheiden. In dem zweiten Sinnabschnitt zählt der Sprecher einige Krankheiten des Menschen auf, um ihn zu degradieren. Diese „Attacken“ auf den Menschen und seine vermeintliche Stellung auf der Erde werden im dritten Sinnabschnitt fortgesetzt. Zum Schluss schließt der Sprecher in dem letzten Sinnabschnitt des Gedichtes aus den vorhergegangenen Argumenten, dass der Mensch und dessen Rolle vollkommen überbewertet seien. Der Mensch unterscheide sich durch nichts von anderen Lebewesen.
Das Gedicht beginnt mit einer bekannten Metapher2, der „Krone der Schöpfung“ (V. 1). Dem Leser wird hierdurch erkenntlich gemacht, welches Thema nun folgen wird, nämlich „der Mensch“. Doch bevor das lyrische Ich diesen als „Krone der Schöpfung“ tituliert, macht es einen Einschub („das Schwein“ V. 1). Es ist fraglich, ob sich nun der Titel auf das Schwein als Tier bezieht oder ob „das Schwein“ nicht als Beleidigung des Menschen verstanden werden muss. Eindeutig ist allerdings, dass der Sprecher den Menschen nicht als „Krone der Schöpfung“ ansieht, sondern im Gegenteil diesen durch den Vergleich mit einem Schwein zu degradieren versucht. Der Folgevers gibt hierfür einen Beweis: „Geht doch mit anderen Tieren um!“ (V. 2). Das lyrische Ich sieht im Menschen keinen Unterschied zu anderen Tieren.
Der folgende Sinnabschnitt (V. 3-6) ist argumentativ, d. h. der Sprecher versucht den Leser von seiner Sichtweise zu überzeugen. Der Mensch habe bereits „Mit siebzehn Jahren Filzläuse“ (V. ), was den Vergleich mit dem „dreckigen Schwein“ zulässt. Trotz aller Hygiene ist der Mensch in seiner scheinbaren Perfektion anfällig für Filzläuse. Es folgt in den weiteren Versen (4-6) die Aufzählung weiterer Krankheiten und Schwächen des Menschen. In seiner jugendlichen Naivität („siebzehn Jahren“ V. 3) führt ihn sein Leichtsinn zu „Darmkrankheiten“ und „Alimenten“ (V. 5). Gründe hierfür seien „Weiber und Infusorien“ (V. 6). Diese Krankheiten des Menschen, dargestellt durch einen Chiasmus (V. 5 f. ), zeigen Schwächen des Menschen, die das lyrische Ich ausnutzt um dessen Autorität zu untergraben. Hierfür benutzt es unter anderem das abfällige und aus dem Tierbereich stammende Wort „Schnauze“ (V. 4). Statt mit ihren Mündern, küssten sich Jugendliche mit ihren Schnauzen, Schweinen gleich, die mit ihren Schnauzen im Dreck wühlen.
Es folgt nun der dritte Sinnabschnitt (V. 7-14). Der jugendliche Mensch von siebzehn Jahren ist nun einem vierzigjährigen gewichen (V. 7). Es wird folglich eine zeitliche Entwicklung des Menschen erkennbar, durch die der Sprecher das Leben eines Menschen verfolgt und kritisiert bzw. herabwürdigt. „Mit vierzig fängt die Blase an zu laufen“ (V. 7). Der Mensch hat ein Alter erreicht, in dem einige Organfunktionen nachlassen. Zwar wird mit dieser Aussage kein konkreter Vergleich mit einem Tier vorgenommen, doch lässt sie erkennen, dass der Mensch nicht perfekt ist, sondern empfindlich gegenüber Krankheiten. Diese Empfindlichkeit nimmt mit steigendem Alter sogar zu, was den Menschen (oder „die Krone der Schöpfung“ V. 1) allzu normal und sterblich erscheinen lässt. Mit dem nächste Vers wendet sich der Sprecher mit seinen Vorwürfen erstmals an andere Personen: „Meint ihr, um solch Geknolle wuchs die Erde“ (V. 8). Zieht man nun den Titel des Gedichtes in Betracht, so erscheint das lyrische Ich in der Rolle eines Arztes, der eine (vermutlich christliche) Ihr-Gruppe um sich versammelt hat, um die Nichtigkeit des Menschen auf der Erde zu beweisen. Ferner spielt der Sprecher auf einen religiösen Bezug an; die Schöpfungsgeschichte, aus der der Mensch als Herrscher über Natur und Umwelt hervorgeht und ebenso über die gesamte Tierwelt verfügt. Der Neologismus3 „Geknolle“ (V. 8) lässt den Menschen wiederum als eine unbedeutsame Kreatur erscheinen, die in keiner Weise über das Gefüge aus Erde, Sonne und Mond (V. 9) zu herrschen im Stande erscheint. Die Reaktion des Publikums auf das lyrische Ich spiegelt sich in der folgenden Aussage wieder: „Was kläfft ihr denn?“ (V. 9). Die Ihr-Gruppe scheint erstaunt und verärgert zugleich, was aufgrund der gewagten Thesen des Arztes nicht verwunderlich erscheint. „Ihr sprecht von Seele- Was ist eure Seele?“ (V. 10). Der Begriff „Seele“ verdeutlicht hierbei, dass es sich um eine religiöse Gruppe handeln muss. Ferner fragt das lyrische Ich völlig indiskret, ob nicht“ die Greisin Nacht für Nacht ihr Bett [verkacke]“ und ob nicht der Greis sich die „mürben Schenkel“ zuschmiere (V. 11 f. ). Es wird ersichtlich, dass die zeitliche Entwicklung weiter fortgeschritten ist und dass nun ein Greis und eine Greisin das Angriffsziel des Sprechers sind. In der letzten Lebensphase vor dem Tod haben die alten Menschen jegliche Kontrolle über ihre Organe und somit auch über ihren Körper verloren. Sie sind gezeichnet von dem Leben, das hinter ihnen liegt, und bereiten sich auf den Tod vor. Die Verben „verkackt“ und „schmiert“ (V. 10 f. ) weisen abermals eine Ähnlichkeit zu den Tieren auf. Die vulgäre Ausdrucksweise des Sprechers erweckt sogar Abscheu vor den Menschen. Ähnlich abstoßend erscheinen die Bedürfnisse der Menschen zu essen. Das Bedürfnis wird von dem lyrischen Ich so umschrieben, dass die Aussage auch auf die Ernährung eines Schweins passt (V. 13). Noch einmal wendet sich das lyrische Ich fragend an sein Publikum. Es fragt sie, ob die Menschen wirklich dazu bestimmt wurden, über die Erde zu verfügen, oder ob der Mensch nicht doch irrtümlicherweise für die „Krone der Schöpfung“ gehalten wird (V. 14). Die vom Sprecher verwendete Interpunktion in Form von Auslassungspunkten zeigt, dass er davon abgehalten wurde, eine weitere Frage diesbezüglicher Art zu stellen. Sein Publikum versucht wahrscheinlich zu antworten, doch der Sprecher wehrt mit einer Interjektion („Äh!“ V. 15) ab. Das lyrische Ich ignoriert die kritischen und zweifelnden Stimmen seiner Audienz und fährt unbeirrt fort. Der Ausruf „Äh!“ zeigt zum einen den Ekel, den der Sprecher gegenüber dem Menschen empfindet und zum anderen dessen Unbeholfenheit sich adäquat auszudrücken, was seiner Gleichgültigkeit den Kritikern gegenüber besonderen Ausdruck verleiht.
In dem letzten Sinnabschnitt ist die zeitliche Entwicklung der genannten Personen abgeschlossen. Das lyrische Ich betont noch einmal, dass der Mensch keineswegs die Krone der Schöpfung ist, sondern vielmehr das Produkt einer ziellosen und hässlich-brutalen Evolution vom Anorganischen zum Organischen (V. 15-17). Letztendlich ist auch er, der Mensch, sowohl als Individuum wie als Spezies zum allmählichen Untergang verdammt (V. 19). Der Sprecher beendet das Gespräch in dem Glauben die Ihr-Gruppe von seinen Thesen überzeugt zu haben. Der Mensch verschwindet mit seinem Tod spurlos von der Erde; hier: im Schatten. Die Krone der Schöpfung ist tot.
Das Gedicht ist der Epoche des Expressionismus zuzuordnen. Hierfür spricht zum einen die Sprache: die vielen ungeordneten Verse (Syntax und Form) und der vulgäre Sprachgebrauch (Beleidigungen und Interjektionen4). Diese zeugen von Sprachnot und suggerieren einen euphorisierten und wütenden Sprecher.
Das durch Darwin, Freud und Nietzsche veränderte Menschenbild erklärt hierbei den Anlass des lyrischen Ichs für dessen Argumentation: Es sieht (als Arzt) durch die neuen menschlichen Erkenntnisse nichts weiter als ein Tier in dem Menschen. Die für den Expressionismus typische Weltuntergangsstimmung geht mit den o. g. Thesen einher.
Die Sprachkrise erfasst eine kurze Periode um die Jahrhundertwende herum in der viele Autoren das Gefühl hatten sich mit der Sprache nicht adäquat ausdrücken zu können.
Benns Gedicht weist eben solche epochentypische Merkmale auf. So benutzt er Vulgärsprache um seinen Ekel gegenüber dem Menschen zu untermauern. Die Interjektion „Äh“ zeugt von Sprachnot. Der Sprecher weiß sich nur durch den Gebrauch der Interjektion zu behelfen. Auch die ungewöhnliche Struktur des Gedichtes und der formlose Satzbau suggerieren Merkmale der Sprachkrise um 1900.