Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Der zu analysierende Sachtext stammt aus einem Essay des Literaturwissenschaftlers Michael Jaeger. Dieser Essay „Global Player Faust oder Das Verschwinden der Gegenwart. Zur Aktualität Goethes“ ist im Jahre 2008 in Berlin erschienen. Jaeger beschäftigt sich in dem zu analysierenden Abschnitt mit der Aktualität Goethes Werk „Faust“ in unserer Gegenwart. Besonders bezieht er sich dabei auf das unentwegte, rastlose Streben nach Neuem, sowie nach reicheren Erkenntnissen der Hauptfigur, des Professors Faust. Der Autor möchte auf den Verlust des Gegenwärtigen aufmerksam machen, den er nicht nur in „Faust“ vermerkt, sondern auch in unserer gegenwärtigen Zeit als Problem ansieht.
Zu Jaegers Hauptaussagen zählt, dass Goethe in „Faust“ das „moderne Fortschritts- und Bewegungsideal“ als Hauptgrund für die negative Wende im menschlichen Dasein in der „modernen Existenz“ verorte. Auf dieser Annahme könne somit erst der Pakt zwischen Faust und Mephistopheles entstehen. Fausts Existenz sei geprägt von einem rastlosen Streben und einer unüberwindbaren Unzufriedenheit mit der Realität. Falls Faust je zu dem Punkt gelinge, an dem er „verweilen wollte“, wäre dies aufgrund des abgeschlossenen Paktes Fausts Todesurteil und er wäre dazu verdammt, von diesem Zeitpunkt an Mephisto im Jenseits zu dienen. Dementsprechend dürfe Faust niemals verweilen, er unterläge somit einem „Verbot des Verweilens“, woraus zwangsweise eine gewisse Geschwindigkeit hervorgehe. Jaeger bezieht diese Rastlosigkeit auch auf die moderne Zeit. Die, Faust und Mephistos Pakt als Hauptgegenstand dienende, Unfähigkeit zur Akzeptanz und Unzufriedenheit mit dem Gegenwärtigen sei auch in unserem gesellschaftlichen Dasein tief verankert und beeinflusse die Wahrnehmung der Zeit besonders stark. Gerade Kommunikation, Politik und ähnliches seien Bereiche, in denen das Streben nach ständigem Fortschritt, Bewegung und Verbesserung sehr extrem ist. Dabei hebt Jaeger noch einmal speziell die Medien- und Informationsbranche hervor, die die Geschwindigkeit mit der Suche nach neuen Attraktionen und Unterhaltung auf die Spitze treibe. Letztendlich sei in unserer Gesellschaft das „Verweilen des anschauend-reflektierenden Bewusstseins“ unmöglich geworden. Die Möglichkeit des langsamen-bedachten Betrachtens von Situationen und die Fähigkeit, nicht weiter zu streben, sondern das Gegenwärtige als solches wahrzunehmen und zu genießen, nähmen somit ab.
Um seine Ansicht zu stützen, verwendet Jaeger verschieden sprachliche Mittel.
Generell richtet Jaeger seinen Essay an interessierte, gebildete Leser so wie an Fachpublikum, dies geht aus seinem hypotaktischen Satzbau und der Verwendung vieler Fachbegriffe, wie z. B. „Prozessdenken“, „säkularisierende Ergänzung“ oder „Strukturgesetz des modernen Zeitempfindens“, hervor.
Um die Komplexität des Problems des Verschwindens der Gegenwart zu beschreiben, benutzt er viele negativ konnotierte Adjektive, wie z. B. „wertlos, öde, tot“. Jaeger verdeutlicht, wie unwichtig die Gegenwart und das Aktuelle geworden sind. Er stellet die Gegenwart in Kontrast mit der Zukunft und arbeitet heraus, dass, während das aktuelle Dasein irrelevant und kurzlebig sei, die Zukunft bzw. das „Nochnichtseiende“ als erstrebenswert, interessant und lebendig wahrgenommen werde. Er illustriert diese These sehr anschaulich, indem er mehrere Trikolons verwendet. Die Gegenwart wird als „Hiersein“, „Jetzt- und Dasein“ bezeichnet, das „wertlos, öde, tot“ sei. Die Zukunft wird als das „was nicht da ist, nicht zur Verfügung, das Nochnichtseiende“ charakterisiert. Die dreifache Wiederholung der scheinbar gleichen oder zumindest ähnlichen Aussage erzeugt eine Vorstellung der Vollkommenheit und prägt sich somit beim Leser ein.
Zusätzlich erzeugt Jaeger durch das häufige Verwenden von Aneinanderreihungen und vielen Adjektiven, eine erhöhte Geschwindigkeit, die den Leser tatsächlich die von ihm beschriebene Rastlosigkeit spüren lässt.
Die rhetorische Frage, wer verneinen könnte, dass wir in unserer heutigen Zeit von der gleichen Rastlosigkeit geprägt sind wie Faust in Goethes gleichnamigen Drama, suggeriert eine Antwort, passend zur These Jaegers. Gleichzeitig regt Jaeger somit die Leser zum Nachdenken an, sodass sie wie von selbst auf Jaegers Aussage kommen und demnach auch seine Herleitung gut verstehen können.
Der Autor stützt sich bei seiner These auf „zahlreiche Beispiele“, die er jedoch nicht genauer erläutert, sondern nur aneinandergereiht nennt, was den Anschein erweckt, dass Jaegers These sehr gut belegt ist, auch wenn er nur eines der Beispiele weiter ausführt.
Die Geschwindigkeit, die der Lesende wahrnimmt, wird durch viele illustrierende Worte hervorgehoben und erhöht. Der Datenstrom sei „immer schneller“ und „ununterbrochen“. Es entstehe ein Kult der „rastlosen Innovation“ und des „permanenten Bild- und Sensationswechsels“. Auch zeitliche Konnektoren, wie z. B. „kaum“ oder „sogleich“, zeisen dem Leser eine Kurzlebigkeit auf. Die Personifikation1 der „rasenden Bildwechsel“ und „hetzenden Rhythmen und des „sofort weiter“ jagenden „Bild-, Klang-, Daten- und Nachrichtenstrom (s)“ verleiht diesen menschliche Eigenschaften, die parallel auch auf die in der heutigen Zeit lebenden Menschen übertragen werden. Es wird verdeutlicht, wie gehetzt und gestresst unsere Gesellschaft ist. Gleichzeitig wird die Ursache dafür auf den Bildwechsel und den Nachrichtenstrom bzw. die Medien- und Informationsgesellschaften im Allgemeinen geschoben, die scheinbar menschlich sind und so beinahe selbstständig und eigenmächtig porträtiert werden.
Insgesamt lässt sich sagen, dass Jaeger seine Hauptaussage, die in „Faust“ abgebildete Rastlosigkeit und das ständige Streben nach Weiterentwicklung und Verbesserung sei auch in unserer Gesellschaft verkörpert, durch den Aufbau einer hohen Geschwindigkeit in seinem Text und durch die Verwendung vieler Adjektive verdeutlicht. Sein gehobener und fachlicher Sprachstil zeigt, dass sich der Literaturwissenschaftler vor allem an kundiges Publikum und teilweise auch andere Wissenschaftler wendet.
In dem zu analysierenden Teil seines Essays bezieht sich Jaeger auf die Szene „Studierzimmer II“ , in der Mephisto Faust in seinem Studierzimmer aufsucht und ihm den Pakt vorschlägt, den die beiden nach einigen Modifizierungen eingehen. Zum Zeitpunkt des Abschlusses des Paktes ist Faust in einer sehr verzweifelten Lage. Er ist frustriert von seinem Leben, da es ihm nicht gelungen ist, die menschlichen Grenzen zu überwinden und so zu höheren Erkenntnissen zu gelangen, nach denen er strebt. Er möchte eigentlich sein Leben nicht weiter fortsetzen, sondern wäre lieber tot. Er sieht keinen Ausweg mehr und ist davon überzeugt, dass Mephisto ihn nicht davon überzeugen kann, zu ruhen und nicht weiter zu streben. Vor allem aus diesem Grund geht Faust auf diese Wette ein und erweitert sie, sodass, sobald er einen Augenblick verweile, Mephisto ihn „in Fesseln schlagen“ solle und sein Leben beendet wäre. Faust lässt sich also auf den Pakt ein, da dieser für ihn die letzte Möglichkeit darstellt, zu Erkenntnis zu gelangen. Seine vorherigen Versuche zur Erkenntnis über die Welt und ihre Zusammenhänge zu gelangen, zum einen durch das Studieren jeglicher Fachrichtungen, zum anderen über Magie bis hin zum Suizidversuch sind alle gescheitert.
Jaeger vergleicht den von Wissensdurst und der Sehnsucht nach Erkenntnis getriebenen Faust mit den Teilnehmern unserer heutigen Gesellschaft, die ebenso wie Faust den Bezug zum Hier und Jetzt, zur Realität verlören. Dabei hebt er im Besonderen Bereiche wie Politik und Wirtschaft hervor und misst der Informations- und Medienbranche mit ihrer modernen Technik eine extreme Bedeutung bei. Im Gegensatz zu Faust sind die Menschen, die durchaus einer gewissen Rastlosigkeit unterlegen sein mögen, weniger von Innen heraus dazu verleitet. Faust wird von dem Streben nach mehr Wissen angetrieben, dass ihm nicht von der Gesellschaft impliziert wird, sondern tief in seinem Inneren verankert ist. Dies wird beispielsweise im Vergleich von Faust und seinem Assistenten Wagner deutlich, der als herkömmlicher, traditioneller Buchwissenschaftler bezeichnet werden kann: Während Faust als Ausnahme in seiner Gesellschaft gesehen werden kann, ist Jaeger der Meinung, dass es niemanden in unserer Gesellschaft gebe, der verneinen könne, dass wir nach einem ständigen Fortschritts- und Bewegungsideal streben. Jedoch geht dieses Streben nicht aus dem Wunsch nach Verbesserung oder ähnlichem hervor, sondern wird durch den sozialen Druck in unserer Gesellschaft erzeugt. In einer Leistungsgesellschaft sind automatisch Bereiche wie Kommunikation, Ökonomie usw., wie sie auch Jaeger nennt, von einer Rastlosigkeit und einem ständigen Weiterentwickeln geprägt. Des weiteren strebt in unserer Gesellschaft die deutliche Mehrheit nach anderen Dingen als der ultimativen, absoluten Erkenntnis über die Zusammenhänge der Welt. Vielmehr sehnt man sich nach Unterhaltung und Belustigung als nach einem umfassenden Erleben jeglicher Gegensätze, so wie Faust es tut.
Natürlich hat Jaeger Recht, wenn er behauptet, dass unsere Gesellschaft von Fausts Pakt- und Weltformel bestimmt ist, in dem Sinne, als dass unsere Gesellschaft von einem rastlosen Streben geprägt ist. Jedoch ist es wichtig zu berücksichtigen, wie unterschiedlich das Streben ausfällt, die Ursachen für diese „Negatio jeder innehaltend verweilenden Reflexion des Daseienden“ geht in unserer Zeit nicht aus jedem einzelnen Individuum hervor, sondern wird durch die Werte und das System einer Leistungsgesellschaft hervorgebracht. Zudem bezieht sich das Streben weniger auf Erlangen von Erkenntnissen, als dass es ein allgemeines Streben nach Mehr, aber jeglich im positiven Sinne ist. Der Vergleich der Individuen der heutigen, westlich-geprägten Gesellschaft ist also nicht vollständig hinreichend, da gerade die Ursachen und die Ziele des Strebens sich von Faust stark unterscheiden.