Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Die Stadt: der Ausgangspunkt und Ort des Untergangs einer jeden Hochkultur. In ihr entwickelt, sammelt und stapelt sich das Größte und das Niederste, was die Menschheit hervorbrachte und hervor bringen wird; ein unentwirrbares und unkontrollierbares Geflecht an Schicksalen, die sich minütlich schneiden, damit das jeweils andere auf immer beeinflussen und doch nie mehr voneinander erfahren. Mit dem vorliegenden Gedicht „Stadt“ von Gerrit Engelke, welches im Jahre 1921 veröffentlicht wurde, erhalten wir ein Abbild dessen, was die Natur der Stadt seit ihren ersten Erscheinungsformen in Mesopotamien ausmacht, in unseren Händen: wilde Formen und Ansammlungen von Klötzen; wirr aneinander gereiht „zu einem Berg gedrückt“ [Z. 3]; Anonymität; Drängen und Isolation.
Die erste Strophe des Gedichtes erschafft ein Bild des Erscheinungsbildes der Stadt. Wir finden folgendes Reimschema: aabbcdcd. „Zehntausend starre Blöcke [...] Stein auf Stein um Holz und Eisenroste hochgeschichtet;“ [Z. 1-2]. Schon mit dem Lesen dieser Zeilen erwächst im Betrachter augenblicklich der Eindruck und die Vorstellung des Gebildes, welches er selbst schon so viele Male vor sich sah. Bauten, die wie große Blöcke mit Kammern die Menschenmasse in sich bergen - ein Zellenblock. In jeder dieser Kammern leben die Menschen ihr einsames Leben und bilden sich ein, es wäre eins. „Und Block an Block zu einem Berg gedrückt“ [Z. 3]. Die Stadt wird vom Autor in den Vergleich gezogen. Ein Berg sei sie; Häuser so dicht gedrängt und aufgetürmt, dass sie (durch das lyrische Ich) ihre Beschreibung und einen Ausdruck im Bilde eines Berges erhält. Straßen, Türen und Fenster durchziehen diesen Berg wie Tunnel, durch die der menschliche Strom fließt und sich drängt - ihre Schicksale reiben aneinander in kalter Abscheu und so verfolgen sie Ziele, die nichts weiter sind als Schatten vergangener Träume.
Die erste Strophe ist geprägt von Metaphern1 („das große Labyrinth“ [Z. 7]), aber auch Personifikationen2 („Vom Draht, der Netz an Netze spinnt“ [Z. 5]) lassen sich aus dem Gefüge des Jambus entreißen.
Die zweite Strophe beschreibt den Lauf der Menschen. In unbändigem Wahn hetzen sie durch das Furchen-Netz des Berges, in ihrem jeweiligen „großen“ Streben. Doch sie alle bewegen sich immer nur im Kreis („[...] rollt im Kreis das große Leben Durch alle Rinnen und fort in ungeheurem Streben“ [Z. 9-10]). Dabei lässt sich auch erkennen, dass die letzte Zeile der ersten Strophe sozusagen eine Brücke bildet, zwischen dem Entwurf der Stadt und dem Lauf der Leben („Das ist das große Labyrinth, Dadurch das Schicksal Mensch um Menschen spült.“ [Z. 7-8]). Beschrieben werden - in dieser Mitte des Gedichtes - auch die Schauplätze, an denen sich der tägliche Untergang und Irrsinn abspielt. Als Reimschema lässt sich wieder folgendes Muster erkennen: eeffghgh. Und spätestens jetzt sollte dem Leser auffallen, dass jede erste Zeile der Strophen mit einem aus der Grammatik gerissenen Zahlwort beginnt. Die Intention des Autors wird wahrscheinlich die Verdeutlichung von Größenverhältnissen und damit auch die Unterstreichung der „Verlorenheit innerhalb der Anonymität“ gewesen sein. Sprachliche Bilder treiben den Blick des Betrachters in die dritte Strophe; durch die Aufzählung gehetzt, wie eben auch die Menschen („Da schäumt des Menschenstrudels wirre Hetze.“ [Z. 16]).
In der dritten Strophe findet man vertrautes: eeiijkjk. Nun dreht sich alles um das stille Kommen und Gehen innerhalb der Maschinerie der Stadt. („Und karrt der Tod auch Hundert täglich fort, Es braust der Lärm wie sonst an jedem Ort.“ [Z. 19-20]. Engelke kommt von dem „Kreislauf“ der Menschen ab und widmet sich nun dem Vergehen der Zeit und damit auch des Lebens. Während es in der zweiten Strophe um diesen kleinen individuellen Ausschnitt ging, wird nun das allgemeine, unumstößliche innerhalb der ersten beiden Zeilen deutlich („[...] rollt das große Leben“ [Z. 17]). Die Anonymität und Wertlosigkeit (Ersetzbarkeit) des Einzelnen wird in dieser Strophe umfänglich klar gemacht.
(„Schleppt er vom Hammer-Block den Schmied, Schleppt er vom Kurven-Gleis den Wagenleiter: [...] Der Wagen fährt - der Hammer dröhnt weiter.“ [Z. 21-24])
Der Tod mit dem Karren (als Personifikation) holt die Todgeweihten, doch der Lärm und die Betriebsamkeit verlieren nicht an Intensität. „Der Wagen fährt“ bezieht sich also auf Zeile 19; auf den Karren des Todes, doch „der Hammer dröhnt weiter“.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die erste Strophe das Bild der Stadt entwirft und als Berg veranschaulicht, die zweite Strophe den hetzenden Kreislauf der Menschen beschreibt und die dritte Strophe mit Anonymität, Unmenschlichkeit und der Ersetzbarkeit arbeitet; es handelt sich also um Expressionismus in seiner reinsten Form.
Die Vorstellung von Utopia mag den Menschen gefallen, doch es sind selten die Dinge, die uns vorschweben, zu denen wir uns entwickeln. Und so kann „Stadt“, wie die meisten Expressionistischen Stadt-Gedichte, auch heute noch seinen Anspruch auf Gültigkeit erheben; in Zeiten, da sich so manche Geschichten wiederholen mögen.