Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Bei Georg Trakls 1912 veröffentlichtem Gedicht „Vorstadt im Föhn“ handelt es sich um einen Vertreter der expressionistischen Stadtlyrik, in dem Elend, Not und Identitätsverlust in einer übertrieben deutlichen Darstellung geschildert werden. Die Affinität zum erschreckend Irrealen, die Anti-Ästhetik, mit der uns Trakl in die Welt der Verstädter einführen möchte, ist dabei typisches Merkmal einer Epoche, die sich die Großstadt zum Mittel zum Zwecke gemacht hat, indem sie eine ganze Ära des Krieges und später auch Weltkrieges auf das Bild der Stadt als Symbol für das Neue, das Moderne projiziert, ein Abstraktum zur Ursache des Unbegreiflichen anhebt.
Die Suche nach einem In-Erscheinung-Treten des lyrischen Ichs in „Vorstadt im Föhn“ bleibt erfolglos. Es ist als Persönlichkeit mit eigenen Eindrücken ungreifbar, verliert sich in der Anonymität und Massenidentität. „Man“, heißt es in Vers 23, sieht „auch ein Schiff auf Klippen scheitern“. Das schreckliche Bild der Massenkatastrophe, des Todes und Leidens wird zu einer unpersönlichen Erfahrung degradiert, die keinerlei Gefühlsregungen hervorruft. Der Begriff des „unpersönlichen Fremdenführers“ als Umschreibung für das lyrische Ich erscheint in diesem Gedicht sehr treffend; der Leser wird durch die Vorstadt geführt, all seine Eindrücke sind in den sechs Strophen des Gedichtes aneinandergereiht, eine logische Anordnung gibt es nicht. Genauso wie das lyrische Ich und damit der Bewohner der Vorstadt verliert auch das Gedicht im Inneren seine Identität. Von außen betrachtet scheint es ordentlich, die Verse sind von ähnlicher Länge, die Zeichensetzung ist erhalten, das Reimschema durchgängig. Doch ähnlich wie beim Bild der Stadtbevölkerung wird der Mangel erst im Inneren spürbar, man muss herankommen, um ihn zu erkennen. Das ganze Gedicht ist holprig, kaum lesbar, da es eines durchgehenden Versmaßes entbehrt, die Sätze sind wie in Vers 18 unvollständig, gar syntaktisch falsch (Vers 1, 10 ff.). All dies ist Ausdruck einer von Innen kommenden Erosion – nicht nur des Gedichts, sondern vielmehr auch des Individuums und seiner Wertevorstellung.
Bemerkenswert ist auch die Fülle, in der die einzelnen Sinneseindrücke wahrgenommen werden. Die Geschwindigkeit, mit der das menschliche Wesen in der Stadt konfrontiert wird, ist so hoch, dass die Sinne die einzelnen Eindrücke gar nicht mehr richtig wahrnehmen. Von einem „gräulichen Gestank“ ist im zweiten Vers die Rede, das Visuelle wird mit dem Olfaktorischen vermischt. Die Stadt überfordert den Menschen, er kann sie nicht mehr richtig wahrnehmen, was in letzter Konsequenz nichts anderes bedeutet, als dass sie sich seiner Kontrolle entzogen hat. Das lässt fast schon Erinnerungen an Goethes Zauberlehrling aufkommen, der die Welle der Destruktion, die er aus ach so verständlichen Motiven ausgelöst hat, nicht mehr alleine zu bändigen vermag.
Ein weiteres Hauptaugenmerk in dem Gedicht fällt unweigerlich auf die Vielzahl von Farben, von denen die Rede ist. Die braune Stätte (Vers 1), der gräuliche Gestank (2), das rot fliegende Kleid (8), die bunt gefärbten Stauden (15) und die Röte in der Flut (16) sind Beispiele für diese Erscheinung. Der Gebrauch solcher Bilder überrascht im kontextualen Zusammenhang, erwartet man doch vollständige Tristesse, klischeehaft ausgedrückt durch Dunkelheit, im wahrsten Sinne durch Schwarzmalerei. Doch hier wird deutlich, was bereits vorher angesprochen wurde: Die Erscheinung nach außen deckt sich nicht mit dem Tatsächlichen. Rot, die Farbe der Liebe, der Leidenschaft, wird zur Farbe des Todes, die von den Föhnen bunt gefärbten Stauden sind in Wahrheit karg und die bunte Farbe hat keine andere Funktion als den inneren Tod zu verdecken. Der Abschluss des Gedichts mit den „rosenfarbenen Moscheen“ stellt eine weitere Steigerung dieser Darstellung dar: Selbst Gotteshäuser bleiben von der schrecklichen Großstadt nicht verschont, sie sind genauso Teil von ihr und werden von den expressionistischen Lyrikern wie hier auch Trakl zum Bestandteil ihrer düsteren Visionen (vielleicht schon: Untergangsvisionen) gemacht—die zerrüttete Welt nimmt selbst vor der Religion, dem Metaphysischen keinen Halt.
Trakls personifizierend-metaphernreiche Sprache ist ein weiteres typisch expressionistisches Merkmal. Doch ist sie weniger darauf ausgerichtet, dem Leser einen Sachverhalt begreiflicher zu machen, als viel mehr, die ohnehin schon hyperbolische Darstellung noch weiter zu übertreiben: der Zug donnert (Vers 3), der Kanal „speit“ Blut (13), das Flüstern „ertrinkt“ (17). Dies alles sind irrationale, gar anti-realistische Elemente, die den drastischen Inhalt der Schilderung bekräftigen, gleichzeitig jedoch wie das gesamte Gedicht gleichgültig, nebensächlich erscheinen. Selbigen Charakter können wir auch am Beispiel des „gräulichen Gestankes“ erkennen, das wir bereits betrachtet haben.
Hervorzuheben sind auch die mehrfachen Verweise auf das Wasser, die sich in den Strophen vier bis sechs finden. Das Bild des Wassers, das mit dem Schlachthaus verknüpft und durchdrungen ist von Blut, aber aus dem auch „Gebilde gaukeln“, ist mehr als irreale Phantasie, es ist Pars pro Toto für die gesamte Stadt. Unweigerlich fühlt sich er Leser zu Recht an den Panta-rhei-Aphorismus Heraklits und seine dahinterstehende Botschaft erinnert. Zum einen das Bild des ständig Wechselnden – man kann den Fluss immer an der gleichen Stelle betrachten, doch das Wasser, das man sieht, ist immer ein anderes. Trakl verarbeitet dies ähnlich: Die Stadt ist ständig in Bewegung, sie verändert sich pausenlos, es gibt nichts, woran sich der Mensch noch festhalten könnte. Alles noch so Unterschiedliche ist in einer einheitlichen Masse gefangen, es fließt im Strom mit, kann nichts dagegen tun. Gerade dadurch verliert das Unterschiedliche, verlieren also die verschiedenen Menschen und Lebensweisen doch wieder ihre eigene Identität zugunsten der Identität des Wassers. Das Wasser ist seinerseits jedoch wieder von Blut und damit Tod durchzogen (Vers 13; 16) – der Tod wird zum Bestandteil einer grausamen Massenidentität, die unaufhaltsam auf das Verderben zusteuert und nichts mehr dagegen tun kann. Auch hier ist in primitiver Auslegung Heraklit zum Greifen nah, wenn er den Tod und das Leben für eine Einheit aus scheinbar Gegensätzlichem begreift. Vielleicht ist das Bild des scheiternden Schiffes in Vers 23, das wir zu Beginn bereits angesprochen haben, das Finale dieser Fahrt, die vollkommene Zerstörung der Idee des menschlichen Lebens.
Eine Stelle soll hier ebenfalls nicht unerwähnt bleiben. In den Versen 21-22 findet sich der Entwurf einer guten Welt, mit dem romantisch-infantilen Traumbild des kühnen Reiters und der schimmernden Alleen. Diese Textstelle ist nicht Bestandteil der „Führung“, die uns durch die Vorstadt gegeben wird, sie unterstreicht vielmehr die völlige Orientierungslosigkeit und gestörte Wahrnehmung der Bewohner. Sie phantasieren, entwerfen kitschige Traumwelten und setzen sie ohne zu Zögern zwischen Darstellungen des schrecklichen Alltags, jedwedes Bewusstsein ist verloren gegangen. Trakl selbst ist mit seiner Geistesstörung und Medikamentensucht dem eigenen Gedicht hier möglicherweise näher, als man es bei einer so irrealen Darstellung meinen könnte.
Positive Gefühle sind in dem Gedicht kaum zu finden, nur an einer Stelle ist tatsächlich gar von Liebe die Rede: In Vers 9, wo ein verliebter, pfeifender Rattenchor geschildert wird. Das einzig Schöne und Gute in der Welt wird von Tieren praktiziert, die selbst für Tod, Armut und Hässlichkeit stehen. Die Tragödie des menschlichen Daseins in der Vorstadt wird hier aufs Äußerste gesteigert, selbst auf Tiere muss man schon aufschauen. Aber auch der irreale Charakter des Gedichts erfährt hier seinen Höhepunkt. In einem einzigen Vers wird nicht nur die Ratte zum pfeifenden (und damit menschlichen) Subjekt gemacht, sondern sie wird gar über den Menschen gehoben.
Abschließend soll noch auf den Titel eingegangen werden, „Vorstadt im Föhn“. Tatsächlich ist vom „Föhn“ nur ein einziges Mal die Rede: „Die Föhne färben karge Stunden bunter“, heißt es in Vers 15. Der Föhn, der Wind ist allerdings ebenso wie das Wasser ein stetig wiederkehrendes Motiv, das man in jeder Strophe des Gedichtes findet (Verse 2 [„Luft“], 4 [„flattern“], 8 [„fliegt“], 9 [„pfeift“], 20 [„Winden“], 21 [„Wolken“]). Tatsächlich ist die Bedeutung dieses Bildes ähnlich der des Wassers. Die Luft lässt dem Menschen keinen Spielraum, niemand kann ihr ausweichen, sie schränkt seine Freiheit ein. Dies verhält sich ganz ähnlich zu Kants „Kritik“ am Duft, der die Menschen doch ihres freien Handelns beraube, lasse er ihnen doch keine Ausweichmöglichkeit. Die Luft ist ein Symbol für die menschliche Massenidentität, auf die doch alles hinausläuft. Sie ist diffus2, überall verstreut, kein Ort bleibt von ihr verschont – hier kehrt das Bild der mit Menschen überfluteten Großstadt wieder, die an allen Ecken und Enden mit Menschen überfüllt ist. Gleichzeitig lässt sie dem menschlichen Wesen keine Möglichkeit des Ausbrechens. Diese Beschränkung, diese Einschränkung der menschlichen Freiheit wird auch im umarmenden Reimschema des Gedichtes deutlich – die Mitte der Strophe ist eingeschlossen zwischen zwei Versen, die sich inhaltlich nicht einmal von ihr abheben: Alles ist gleich wichtig, und trotzdem (oder: gerade deshalb) sind die Menschen so bedrückt, so unfrei.
Trakls Gedicht wirft Fragen auf, weit über die Epoche des Expressionismus hinaus, bis in die heutige Zeit, ja sogar bis in die Zukunft. Die Technologisierung der Welt nimmt zu, was wird das Individuum im nächsten Jahrhundert, vielleicht Jahrtausend noch für eine Bedeutung haben? Werden alle Aufgaben von Maschinen und Computern erledigt werden, die miteinander kommunizieren? Erlebt der Physikalismus eine Renaissance? All diesen Fragen sieht man sich konfrontiert, wenn man das Gedicht aus heutiger Perspektive liest.
Trakl übertreibt im historischen Zusammenhang maßlos, doch möglicherweise ist sein ach so irreales Werk in Wahrheit mehr – eine dysoptische Vision im Stile Orwells, die so irreal vielleicht gar nicht ist.