Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
„Verwandlung“ gehört zu Georg Trakls berühmtesten Gedichten. Es ist 1912 in der Halbmonatsschrift "Der Brenner" von Trakls Förderer Ludwig von Ficker erschienen. Trakl war ein österreichischer Dichter des Expressionismus. Diese Einordnung zum Expressionismus ist üblich geworden, da besonders diejenigen Gedichte Trakls berühmt und bekannt geworden sind, die jener in seiner expressionistischsten Schaffensperiode (zwischen 1909 und 1912) geschrieben hatte. Charakteristisch für diese Phase und für Trakls expressionistische Gedichte ist der Reihungsstil1: pro Strophe stehen jeweils nur vier Verse.
Auch in „Verwandlung“, einem dreistrophigen Gedicht, findet sich diese Reihungstechnik von jeweils vier Versen zu drei Strophen. Jede Strophe gibt einen anderen Einblick, evoziert ein Gefühl von einem Geschehen, das aber nicht für sich steht, sondern sich zu einem Gesamteindruck des Gedichtes fügt. Es stehen deshalb auch keine Vorkommnisse im Vordergrund. Trakl erzählt in „Verwandlung“ keine Geschichte. Es geht ihm vielmehr um Gefühle und Eindrücke, Farben und Metaphern2, Suggestionen und Symbole. Es sind Farben, die in den Gedichten Trakls immer wieder von Bedeutung sind. In mehr als der Hälfte aller Gedichte Trakls kommt die Farbe blau vor. Und immer wieder auch die Farben rot und braun. Ob diese Farben ‚Symbole’ sind oder ob Trakl synästhetisch in Farben gefühlt hat, das ist nebensächlich. Sie gehören zum Stil Trakls: Trakls Gedichte sind in Farben geschrieben. Sie sind gefühlsbetont und atmosphärisch. Farben des Herbstes überwiegen: rot und braun. Berühmt sind Trakls Gedichte über den Verfall und die Verwandlung. Die Gedichte sind schwermütig und dunkel.
Georg Trakl hat von 1887 bis 1914 in Österreich gelebt. Bis zur Entdeckung durch den Freund und Förderer Ludwig von Ficker blieb Trakl der größeren Öffentlichkeit weitestgehend unbekannt. 1913 ist der einzige zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichtband von Trakl erschienen („Gedichte“, Kurt Wolff Verlag). Die meisten Gedichte wurden in der Zeitschrift „Der Brenner“ von Ludwig von Ficker veröffentlicht. Trakl musste als Pharmazeut Geld verdienen, war lange Zeit in großen Geldnöten und hatte Probleme, eine Stelle als Apotheker zu finden. Seit der Schulzeit dominierten Drogen und Rauschmittel Trakls Leben. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges, in welchem Trakl als Militärarzt eingezogen wurde, änderte sich auch der Stil Trakls Gedichte: sie sind in dieser letzten Schaffensperiode apokalyptisch und düster. Die Schrecken des Ersten Weltkrieges führten Trakl bis zum Rande der Verzweiflung. Es wird berichtet, dass andere Soldaten Trakl davon abhalten mussten, mit einer Schusswaffe Selbstmord zu begehen. Trakl starb 1914 an einer Überdosis Kokain.
Besonders die Gedichte Trakls expressionistischer Schaffenszeit (1909-1912) und die später geschriebenen Gedichte gelten als schwer zugänglich. Sie sind höchst suggestiv, lassen einen weiten Raum an Deutungen zu. Es geht nicht um richtige Beschreibungen von Erlebnissen oder Erfahrungen, sondern um das Zeichnen von Bildern in Dichtung: Umrisse und Konturen werden sichtbar oder Gefühle evoziert, die man schwer zuordnen kann. Wir werden dies auch im Gedicht „Verwandlung“ bemerken und versuchen, zu entschlüsseln, um was es in diesem Gedicht geht.
„Verwandlung“ von 1912 ist drei Strophen lang. Trakl gibt drei verschiedene Einblicke. Jede Strophe zeigt ein anderes Bild und braucht zu diesem Zweck nur jeweils vier sehr dichte Verse. Die Stimmung ist sehr düster. Die Bilder sind in den Farben rot, braun, blau und schwarz ‚geschrieben’. Geht es überhaupt um Verwandlung, wie es der Titel sagt?
Die erste Strophe zeigt einen Garten in rot und braun. ‚Herbstlich’ beschreibt der erste Vers die Szene. Trakl zeichnet das Bild eines ‚tüchtigen Lebens’, er spricht von Menschen, von Reben, von Gärten: es geht um das Lebendige: aber es geht auch um ‚sanften Schmerz’ (V. 4) – diese Erwähnung des Schmerzes stört das Bild vom tüchtigen Leben.
In der zweiten Strophe malt Trakl ein Abendbild, dunkel, schwarz mit einer Besonderheit: ein „blaues Tier“ (V. 7) taucht auf und „will sich vorm Tod verneigen“ (V. 7). Hier schon der Hinweis, dass es sich bei diesem blauen Tier um einen Menschen handelt. Die Erklärung liefert ein Verweis auf Trakls Gedicht „Verwandlung des Bösen“ aus der 1915 postum erschienenen Gedichtsammlung „Sebastian im Traum“: „Du auf verfallenen Stufen: Baum, Stern, Stein! Du, ein blaues Tier, das leise zittert;“. Es geht hier in der zweiten Strophe außerdem um das Schweigen, Tod, Grauen, Verfallen – alles in dieser Szene ist in ein schwarz-blau gehüllt.
Die dritte und letzte Strophe hat als Szenenbild eine Situation vor einer Schenke. Das Bild ist skizzenhaft umrissen und suggestiv angedeutet mit den Worten: Trunkenheit, Rausch, Weiblichkeit, Düfte und Früchte. Ein Wortfeld also, das mit dem griechischen Gott des Weines und des Rausches, Dionysius, in Beziehung steht. Ein Gott, welcher der Dichtung immer schon nahe stand. Man denke an Schellings und insbesondere an Nietzsches Gegenüberstellung des Apollinischen und des Dionysischen: Das Prinzip der Ordnung, verkörpert durch Apollo, und das hier in der dritte Strophe nur sehr vage angedeutete Prinzip des Rausches, verkörpert durch Dionysius. In der dritten Strophe wird keine Farbe erwähnt. Eine große Ausnahme für Trakl. Hier dominieren andere Sinne: der Geruchssinn, der Geschmackssinn – eigentümlich und andeutungsweise in Beziehung gesetzt zum Tastsinn und miteinander verschmolzen. Besonders deutlich im letzten Vers des Gedichtes: „Resedenduft, der Weibliches umspült.“ (V. 12) Hier überschreitet Trakl bewusst die Grenzen der Sinneswelten: Ein Duft ‚umspült’ Weibliches, wird greifbar, tastbar? Diese bewusste Grenzverwischung zwischen den von uns üblicherweise eingegrenzten Sinnesgebieten ist in der Literatur und in der Poesie ein Stilmittel. Man nennt dieses Synästhesie3.
Das ist nicht die einzige Grenzüberschreitung des für uns Gewohnten in Trakls Gedicht. Zu erwähnen wäre noch das ‚blaue Tier’ (V. 7) in der zweiten Strophe. Das Schweigen der roten Buchen, ebenfalls in der zweiten Strophe (V. 6). Und letztlich ist für uns ungewohnt der vierte Vers: „Indes der sanfte Schmerz im Blick sich senkt.“ (V. 4) Senkt sich hier der sanfte Schmerz? Wird durch den Blick der sanfte Schmerz gesenkt, d. h. weniger? Ich setze hier ganz ausdrücklich Fragezeichen, weil es mir überhaupt nicht klar erscheint, was hiermit gemeint sein könnte. Wir werden zu diesem Vers zurückkommen.
Zunächst zum Schweigen der roten Buchen in Vers 6: Trakl benutzt hier das Stilmittel der Personifikation4. Man könnte darüber streiten, ob es sich hier nur um eine Personifikation handelt oder man doch schon von einer Metapher sprechen sollte. Mit der Personifikation werden hauptsächlich Handlungen und Handlungsweisen betont. Wenn leblose Objekte personifiziert werden, hat das meist den Sinn, Bewegungen und Handlungen zu betonen. Ein Beispiel wäre: Der Baum vor dem Haus grüßt, indem er die Äste bewegt. Die Übergänge zwischen Personifikation und Metapher (und Allegorie5) sind zwar fließend und daher schwer zu bestimmen. Auch gerade, weil sich die Metapher als das größte, umfangreichste und komplexeste Stilmittel u.a. auch oft der Personifikation ‚bedient’. In der Metapher findet aber eine Übertragung von Bedeutung statt. Von wo nach wo? Die Wirkungsweise der Metapher zu erklären, ist ein großes, unglaublich schwieriges Problem. Hunderte von Bücher wurden über die Metapher geschrieben, seit der Antike. Wichtig ist bei der Metapher, und das ist auch für das Verstehen von Trakl und anderer expressionistischer Dichter sehr wichtig, dass die Übertragung der Bedeutung in der Metapher nicht einfach eine Übertragung ist von einem Wortfeld zu einem anderen. Von Metaphern spricht man nicht, wenn man die Bedeutung einer anderen, fremden Bedeutungssphäre entlehnt, um das Gesehene so zu verdeutlichen (in diesem Fall spräche man eher von Vergleichen oder Analogien). Die Metapher nimmt sich der eigenen, aber impliziten, unentdeckten Bedeutungsfülle des Gesehenen an. Sie bohrt sich tief in die Erfahrung ein und holt aus der unendlichen Erfahrungs- und Bedeutungsfülle dieser Erfahrung eine Bedeutung hervor, die das Gesehene und ein ‚Mehr an Bedeutung’ umfasst, um das Gesehene in diesem ‚Mehr an Bedeutung’ erscheinen zu lassen. Dieser kleine Exkurs hilft hoffentlich dem Verständnis von Trakls Gedicht. Ich beende den Exkurs mit einem Beispiel, der den Unterschied zwischen Personifikation, Vergleich und Metapher deutlich machen soll und damit auch erklären soll, ob es sich im Vers 6 beim Schweigen der roten Buchen um eine Personifikation oder um eine Metapher handelt.
Der Vers lautet: „Erscheinender in roter Buchen Schweigen.“ (V. 6) Es geht um die Deutung des Verses. Will Trakl uns Lesern zeigen, dass die leblosen Buchen lebendig werden? Dann spräche man von einer Personifikation als Stilmittel. Aber es geht hier überhaupt nicht um die Buchen. Sie sind nicht Subjekt des Satzes und nicht Subjekt der Handlung im Gedicht. Findet hier eine Übertragung von einem fremdem Wortfeld (Sprache-Schweigen) in ein anderes Wortfeld (Bäume-Buchen) statt? Das wäre eine Analogie oder ein Vergleich. Die Antwort wäre so etwas wie: Trakl will nicht nur zeigen, dass die roten Buchen ‚so erscheinen als’ würden sie schweigen. Es geht nicht nur um einen Vergleich der Stille der Buchen und dem Schweigen als Fernbleiben von Sprache. Ich sage bewusst: ‚nicht nur’, weil es klar ist, dass dies in diesem Vers auch geschieht. Aber es geschieht eben auch mehr als das. Im Schweigen der roten Buchen sind die ‚Schritte’, die am Abend durch das schwarze Land gehen, ‚erscheinender’ (V. 5-6). Zwei Auffälligkeiten: Hier wird nicht die Lautlosigkeit der Buchen mit dem Schweigen der Menschen ‚verglichen’. Das Schweigen gehört zu den roten Buchen dazu. Trakl erfährt die roten Buchen als schweigend. Das sind Feinheiten, die zur Bestimmung von Metaphern allerdings sehr wichtig sind. Also: Keine Übertragung einer menschlichen Eigenschaft auf ein lebloses Objekt (das Schweigen auf die roten Buchen). Sondern: das Schweigen gehört zu den Buchen ‚von Anfang an’ dazu. Zur Erfahrung der roten Buchen (bei Nacht) gehört das Schweigen.
Zweite Auffälligkeit: Im Schweigen der roten Buchen erscheinen nicht nur irgendwelche Schritte. Das Schweigen der roten Buchen macht die Schritte „Erscheinender“ (V. 6): „Am Abend: Schritte gehn durch schwarzes Land/ Erscheinender in roter Buchen Schweigen.“ (V. 5-6). Durch das Schweigen der roten Buchen (hindurch) werden die Schritte ‚erscheinender’. Die Steigerung passt zur Funktionsweise der Metapher.
Die lange Erklärung und der Exkurs zu diesem Stilmittel in Trakls Gedicht erschien mir hilfreich, weil man so etwas über das Charakteristische von Trakls Gedichten erfährt. Die bewussten Grenzverwischungen, von denen bereits zwei erwähnt wurden: die der Synästhesie in der dritten Strophe und die Metapher in der zweiten Strophe hat nicht einfach nur den Zweck der Irritation. Durch diese Grenzaufweichungen unseres gewohnten Sehens und Fühlens hindurch wird das Beschriebene ‚deutlicher’, ‚fühlbarer’, ‚greifbarer’, ‚verständlicher’. Dass Trakl unsere Gewohnheiten stört, weil er nicht in aller naturalistischen Deutlichkeit sagt, was hier eigentlich vor sich geht, von wem er spricht, und was er damit meint, wenn die roten Buchen schweigen, - das führt zu keiner unangenehmen Undeutlichkeit und zu keinem weniger Verstehen, sondern im Gegenteil: zu einem ‚mehr Verstehen’.
Von hier werden auch die anderen Irritationen in Trakls Gedicht verständlicher: Trakl schreibt im siebten Vers von einem blauen Tier. Wie wir unter Verweis auf „Die Verwandlung des Bösen“ wissen, meint Trakl hiermit einen Mensch, vielleicht sogar sich selbst. Es ist vielleicht die Farbe des Mondlichts auf die Trakl mit der Farbe blau anspielt, vielleicht auch nicht. Es geht um die Stimmung, die durch die Farbe blau verstärkt wird: Nacht, Schweigen, Schritte, ein blaues Tier.
Unverständlich bleibt mir trotzdem noch der vierte Vers: „Indes der sanfte Schmerz im Blick sich senkt.“ (V. 4) Eine Deutung werde ich erst im nächsten Abschnitt als Abschluss meiner Interpretation versuchen.
Wichtig ist noch die Abrundung der Inhaltsangabe. Ich sagte, dass die dritte Strophe geprägt sei vom Wortfeld des Rausches. Die Rede war von Wein, von Reben, von Früchten und Fruchtbarkeit. Trakl rundet damit das Gedicht ab denn er hatte bereits in der ersten Strophe von Reben und von Gärten gesprochen: „Des Menschen Hände tragen braune Reben,“ (V. 3). Mit Blick auf den Titel „Verwandlung“ könnte man vielleicht vermuten, dass mit der starken Betonung des Weines, Reben und Früchten, - aber auch durch die Betonung des Rausches und zuletzt des Weiblichen Trakl hier auf die Verwandlung im Sinne der ‚Fruchtbarkeit’ abzielt. Diese Vermutung ließe sich nicht zuletzt auch durch die Betonung des Rausches und die damit mitgemeinte Betonung des Sexualtriebs unterstützen, welche immer mit Dionysius und dem Kult des Dionysius in Verbindung gebracht werden. Die Fruchtbarkeit der Natur und ihre Unerschöpflichkeit wäre dann das Hauptthema der ‚Verwandlung’.
Aber! - Und dieses ‚Aber’ ist kein kleines ‚Aber’ – gegen diese Deutung spricht sehr vieles. Sehr gewichtig ist zum einen, dass es sich um ein Herbstgedicht handelt. Die Farben rot und braun, die Beschreibung ‚herbstlich’ (V. 1). Der Herbst ist als Übergang zum Winter die Jahreszeit des Verfalls. Ginge es um Fruchtbarkeit, warum dann nicht Bilder des Frühlings heraufbeschwören?
Noch gewichtiger scheint mir aber der sehr düstere Ton insbesondere der zweiten Strophe zu sein. Eine Aufzählung der zentralen Nomen des Gedichts zeigt schon, was damit gemeint ist: Tod (V. 7), Schweigen (V. 6), Schmerz (V. 4), Stille (V. 2). Am deutlichsten wohl durch den siebten und achten Vers: „Ein blaues Tier will sich vorm Tod verneigen/ Und grauenvoll verfällt ein leer Gewand.“ (V. 7-8). Diese sehr dunklen Bilder und düsteren Wortfelder werden verstärkt durch die Farben: schwarz (V. 5) und blau (V. 7). Legt das nicht eine ganz andere Deutung des Gedichts nahe? Hier wird nicht der Frühling besungen, nicht der Neuanfang und die Fruchtbarkeit. Es handelt sich viel eher um ein Requiem: Besungen wird hier die Sterblichkeit. Im Herbst neigt sich das Leben seinem Ende zu. Das blaue Tier, der Mensch, verneigt sich vor dem Tod. Das Tier ‚Mensch’ ängstigt sich nicht. Es flüchtet nicht. In der schwarzen Nacht, unter schweigenden roten Buchen, verneigt es sich vor dem Tod. Der Tod wird allerdings auch nicht beschönigt. Der achte Vers spricht zu deutlich dagegen: „Und grauenvoll verfällt ein leer Gewand.“ (V. 8). Der Tod ist nicht ohne Grauen. Die Personifikation des Todes, vor dem man sich verneigen kann, ist hier nicht das Entscheidende. Entscheidend scheint mir eher, dass sich das blaue Tier vor dem Tod ‚verneigen’ will. Ist damit nicht das Motiv der Verwandlung angesprochen? Ein religiös-mythisches Motiv einer Verwandlung durch oder im Tod? Man kann sich nicht sicher sein. Das Bild, das Trakl hier dichterisch zeichnet, bleibt vage und unbestimmt. Man kriegt beim Lesen ein Gefühl für die Atmosphäre des Gedichts. Durch die starke Betonung von Gefühlen (grauenvoll) und Farben (schwarz und blau), durch die Metapher der schweigenden Buchen, hat Trakl den Leser in das Geschehen stimmungsmäßig hineingezogen. Die Bedeutung erschließt sich einem nicht. Aber man kriegt ein Gefühl.
Diese deutliche Betonung des Themenfeldes ‚Tod’ gilt aber nur für die zweite Strophe. Man könnte eventuell und ganz vorsichtig versuchen, die erste und die dritte Strophe in ähnlicher Weise auszulegen. Dafür spräche dann der zehnte Vers: „Ein Antlitz ist berauscht ins Gras gesunken.“ (V. 10). Ist hier ein Mensch gestorben? Im Rausch? Es ist nicht die Rede vom Tod, auch nicht vom Grauen. Viel stärker wird hier die Natur betont. Früchte, Wein, Rausch, Trunkenheit.
Und dasselbe gilt für die erste Strophe: „Des Menschen Hände tragen braune Reben,/ Indes der sanfte Schmerz im Blick sich senkt.“ (V. 3-4). Trakl beschreibt in der ersten Strophe ein tüchtiges Leben. Es geht explizit um (den oder die) Menschen. Ist mit dem sanften Schmerz der Tod gemeint? Senkt sich der sanfte Schmerz, weil das tüchtige Leben endet? Auch das bleibt offen und ist als Deutungshypothese eher unwahrscheinlich. Auch die erste Strophe ist stimmungsmäßig und bezüglich des Themas durch das Bild von einem herbstlichen Garten und von Wein und Reben bestimmt.
Man könnte trotzdem versuchen, den Rahmen (erste und dritte Strophe) mit dem düsteren Bild der zweiten Strophe in Beziehung zu setzen. Herbst und Rausch würden die Abendszene - ein blaues Tier verneigt sich vor dem Tod - ‚einrahmen’. Aber vielleicht nicht als chronologischer Ablauf: 1. Strophe: Garten-Reben-Ernte, dann 2. Strophe: Abend-Mensch-Tod, und zuletzt 3 Strophe: Rausch-Gras-Früchte. Vielleicht eher als Gesamtbild eines altertümlich-mythischen Festes. Ein Herbstfest. Eine Verwandlung. Zu dieser Verwandlung gehört der Tod. Zu dieser Verwandlung gehört die Natur: Früchte und Reben und zu diesem Fest gehört auch der Mensch: als tüchtiger Besteller eines Gartens, als der Mensch im Rausch und als das Weibliche.
In diesem Gedicht wird der Herbst gefeiert. Die Natur, Fruchtbarkeit und Vergänglichkeit. Zum Leben gehört der Tod. In aller Stille und in aller Einsamkeit. Unter schweigenden roten Buchen verneigt sich ein blaues Tier (ein Mensch) vor dem Tod. Eingerahmt ist dieses unglaublich faszinierende Bild durch die Szene des Gartens und des Rausches.
Eine klare Deutung des Geschehens wird gar nicht möglich sein; ist vielleicht auch gar nicht nötig. Trakls ‚Verwandlung’ spricht in Farben und Gefühlen. Es spricht in Stimmungsbildern, wie man häufig sagt.
Nicht nur durch das zeitliche Enstehungsdatum (1912) kann man das Gedicht der expressionistischen Schaffensphase Trakls zuordnen. Es gehört eben nicht zum Symbolismus, weil die Farben und die Natur hier nicht als ‚Symbole’ gebraucht werden. Sie ordnen sich einer ‚höheren Bedeutung’ unter, indem sie zu Metaphern werden. Sie stehen nicht für etwas anderes, sondern für sich selbst und für ‚mehr’. Dieses ‚Mehr’ ist der Gesamteindruck, den Trakl durch die drei Szenen hindurch vermittelt. Ich habe versucht, dieses ‚Mehr’ näher zu bringen durch die Erläuterung und durch das in Beziehung Setzen der Themenfelder. In Trakls ‚Verwandlung’ wird der Herbst gefeiert: Die Natur, der Mensch, der Tod, der Rausch, das Weibliche, Fruchtbarkeit. Trakl beschreibt keine Abläufe, er setzt diese Themenfelder eher in eine Konstellation, indem er eine bestimmte Stimmung heraufbeschwört. Das gelingt ihm mit Metaphern, einer starken Betonung von Farben und synästhetischen Grenzverwischungen.
Zuletzt muss nur noch gesagt werden, wie der formale Aufbau des Gedichts zu dieser Deutungshypothese passt. Erwähnt wurde bereits nur der Reihungsstil: das Gedicht hat drei sehr dichte jeweils vier-versige Strophen. Trakls Gedicht ist durchkomponiert bis ins letzte Detail. Die Regelmäßigkeit betrifft Reimschema und Metrik6. Alle drei Strophen haben einen umarmenden Reim (abba). Die umarmenden Verse (a) sind durchgehend männlich (männliche Kadenz7). Die umschlossenen Verse (b) sind durchgehend weiblich (weibliche Kadenz). Absolut harmonisch und regelmäßig ist außerdem die Metrik des Gedichts. Trakls Gedicht ist geschrieben in dem seit dem 18. Jahrhundert sehr verbreiteten fünfhebigen Jambus (jambischer Fünfheber). Im Unterschied zum im Frankreich verbreiteten vers commun wechselt Trakl jedoch nicht von Vers zu Vers zwischen männlicher und weiblicher Kadenz. Bei Trakl ist der Wechsel der Kadenz dem Reimschema (abba) angepasst. (Etwas freier und vielleicht zu diskutieren wäre die Regelmäßigkeit der Metrik in Vers 5 und 9.)
Trakl hat sich für eine perfekte, geschliffene, absolut harmonische Form entschieden. Aus formaler Sicht ist das Gedicht „Verwandlung“ nicht mit vielen modernen, expressionistischen Gedichten zu vergleichen. Die Gefühlsbetontheit des Gedichts sprengt hier eben ausnahmsweise mal nicht die Form. Aber die Form ist auch nicht einfach nur Ausdruck einer kühlen Berechnung. Trakl befolgt nicht einfach nur automatisch und lehrbuchmäßig die Gesetze des formalen Aufbaus eines Gedichts. Man könnte eher vermuten, dass die Form sich hier der Funktion unterordnet, ein Gefühl von ‚Harmonie’ von einer Herbst-Erfahrung zu vermitteln. Es stehen sich hier eben nicht ausschließend und als Kontrahenten gegenüber: einerseits die Vernunft mit ihrer Regelmäßigkeit und andererseits: das unvernünftige, irrationale Gefühl. Das Gefühl kämpft hier nicht gegen die Gesetze der Vernunft (gemeint sind Formgesetze für Gedichte) an. Es gibt eine Gefühlsbetontheit in Trakls Gedicht „Verwandlung“, die sich absolut harmonisch und in Formgesetzlichkeit darstellen lässt. Irritationen und Reibungen gibt es bei Trakl eher auf der Ebene des Inhalts und der Darstellung dieses Inhalts. Wir erwähnten die verschiedenen Grenzverschiebungen (Metapher, Synästhesie), die in dem Gedicht dieses stimmungsgeladene Bild von einem Herbstfest heraufbeschwören. Trakl folgt eigenen Gesetzen. Das macht seine Gedichte unvergleichlich, einzigartig und so bedeutsam für die österreichisch-deutsche Lyrik.