Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Romanze zur Nacht“ von Georg Trakl, welches 1913 veröffentlicht worden ist und epochengemäß dem Expressionismus zuzuordnen ist, handelt von den verschiedensten Menschen, deren Gegebenheiten zur nächtlichen Tageszeit geschildert werden.
Es besteht aus fünf Strophen mit jeweils vier Versen. Beim Reimschema, das durchgehend regelmäßig ist, handelt es sich um einen umarmenden Reim (abba).
Nicht nur vom Äußeren des Gedichtes zeigt sich eine Regelmäßigkeit, sondern auch auf das Inhaltliche bezogen. So werden in jeder Strophe zwei Szenen gestaltet, welche klar durch einen Punkt getrennt werden. Hierbei sind die ersten drei Strophen regelmäßiger als die letzten zwei: Jede Szene beansprucht zwei Verse. In den letzten zwei Strophen sind der ersten Szene drei Verse und der zweiten Szene ein Vers zugeordnet.
Thematisch geht es in der ersten Strophe um einen Knaben, wobei schon hier eine sehr durch die Nacht geprägte Atmosphäre entsteht. Die zweite Strophe handelt von einer Närrin und Liebenden, die dritte von einem Mörder, Kranken und einer Nonne. Schon beim Lesen macht sich ein Umschwung zwischen dritter und vierter Strophe bemerkbar. Die vierte Strophe handelt von einer Mutter und ihrem Kind, sowie von einem Hurenhaus. Die letzte Strophe wird einem Toten und einer schlafenden Person gewidmet.
Die Stimmung des Gedichtes ist überwiegend negativ, was zum einem durch negativ geprägte Wörter wie „einsam(er)“ (V. 1), „verfällt“ (V. 4), „Närrin“ (V. 5), „Todesgrausen“ (V. 10) und „Hurenhaus“ (V. 16) zum Ausdruck gebracht wird. Auffällig sind die vielen Adjektive, die gehäuft in jeder Strophe vorkommen und die ganze Szenerie bedeutungsvoll unterstreichen. Der Leser wird direkt zu Beginn in die Szene eingeführt, hierbei geht ein Knabe durch die „stille Mitternacht“ (V. 2). Eine sprachliche Auffälligkeit ist hierbei der Komparativ1 „Einsamer“ (V. 1), der verdeutlichen soll, dass der Junge auf sich allein gestellt ist. Im Kontrast hierzu steht das „Sternenzelt“ (V. 1), das als Metapher2 für die vielen verschiedenen Schicksale steht. Mit der Formulierung „wirr erwacht“ (V. 2) wird impliziert, dass der Junge aufgrund eines Alptraumes erwacht ist. Der Mond, welcher in seiner Symbolik für Wechsel und Wandel steht, wird letztendlich von einem Verfall geprägt (vgl. V. 4). Die Farbe Grau steht für den Übergang von Bekanntem zu Unbekanntem und gibt der ersten Strophe unter Berücksichtigung der Kontaktarmut des Knaben einen eher negativen Kontext. Die Farbsymbolik könnte ferner so gedeutet werden, dass sich Licht und Finsternis vermischen, was durch das Auftreten von Sternen bzw. dem Monde und der Mitternacht bestätigt wird. Dadurch entsteht eine Entwicklung vom Guten – Bekannten – symbolisiert durch die Tageshelle zum Schlechten – Unbekannten – symbolisiert durch die Nacht und Grau als Zwischenfarbe und damit auch Totenverbundenheit. Diese Totenverbundenheit wird später in der dritten Strophe nochmals aufgegriffen.
In der zweiten Strophe weint die Närrin mit ihren offenen Haaren (vgl. V. 6), der Grund hierfür ist unbekannt. Die offenen Haare stehen für Weiblichkeit und Verführung. Die Närrin scheint in ihrer Welt, aus der sie auszubrechen vermag, weswegen sie wahrscheinlich weint, gefangen zu sein. Dafür steht das vergitterte Fenster (V. 6). Durch die Personifikation3 „Am Fenster, das vergittert starrt“ (V. 6) wird die dominante Präsenz ihres metaphorischen Gefängnisses deutlich. Ihre Unglücklichkeit wird durch das Verb starren (vgl. V. 6), was eine negative Konnotation4 hat, hervorgehoben.
Differierend hierzu ist eine eher positiv erzeugte Stimmung in den letzten beiden Versen der Strophe. Sie handeln von einer „süßen Fahrt“ der Liebenden (vgl. V. 7 ff.). Jene Stimmung wird besonders durch positiv besetzte Adjektive wie „süß(er)“ (V. 7) und „wunderbar“ (V. 8) erzeugt.
Die kurz auftretende positive Atmosphäre wird nun durch eine erneute negative Stimmung aufgehoben. In der dritten Strophe lächelt ein Mörder bleich im Wein (vgl. V. 9), was u.a. ein Suchtproblem andeutet.
Das Lächeln steht für ein hinterhältiges Wesen des Mörders, was im Kontrast zum Temperament des Mörders steht, da er von der Gesellschaft in der Regel verabscheut und ausgegrenzt wird. Die zu anfangs aufgegriffene Todesnähe wird nun erneut erwähnt. Der Neologismus5 „Todesgrausen“ (V. 10) soll für Ekel und Furcht vor dem Tod stehen. Da auf einen bevorstehenden Tod und somit keine Aussicht auf Heilung der Kranken angedeutet wird, intensiviert sich die negative Atmosphäre weiter. Diese Intensivierung schreitet in den letzten beiden Versen weiter fort, da hier eine Nonne vor des „Heilands Kreuzespein“ (V. 12), die für die Schmerzen, die Jesus Christus am Kreuz erlitt stehen, „wund“ und „nackt“ betet (vgl. V. 11). Die Nacktheit kann auf eine Verzweiflung seitens der Nonne hindeuten, weil durch das Nackte gezeigt wird, dass sie nichts zu verstecken hat und somit Hilfe bei Gott sucht. Aufgrund der zuvor beschriebenen Intensivierung der Atmosphäre kann diese Strophe als Klimax6 verstanden werden. Das Leiden der beiden verschiedenen Personengruppen, nämlich der Kranken und der Nonne, wird durch die Anapher7 „Die Kranken … Die Nonne …“ (V. 10 ff.) unterstützt, sodass eine gewisse Parallele zwischen den verschiedenen und einzelnen Schicksalen erzeugt wird.
Die vorletzte Strophe wird durch einen Umschwung geprägt. Hier singt eine Mutter im Schlaf (vgl. V. 13), wahrscheinlich um ihr Kind zu beruhigen. Das Kind schaut „friedlich“ zur Nacht (vgl. V. 14). Auffällig ist hier das Auftreten der Mutter und des Kindes, da sie schematisch nicht zu den anderen Personengruppen, die einen überwiegend negativen Nebensinn haben, passen. Im Verlauf der Strophe wird das Gelächter eines „Hurenhaus(es)“ (V. 16) erwähnt. Dabei ist das Substantiv Hurenhaus abwertend zu verstehen. Nichtsdestotrotz scheint ein Teil der Gesellschaft auf eine positive Stimmung in einem solchen Gebäude zu treffen, was gegensätzlich zu der negativen Stimmung innerhalb des Gedichtes steht.
Die letzte Strophe kann als neutral eingestuft werden. Hier malt ein Toter im Kellerloch (vgl. V. 17 ff.), was an sich einen Paradoxon8 ist, weil bereits verstorbene Menschen logischerweise nicht mehr malen können. Es kann aber so verstanden werden, dass in der Nacht, die hier einen sehr negativen Beiklang hat, Tote zum Leben erweckt werden. Somit wird die Totennähe ein drittes Mal aufgegriffen. Die Toten werden per se nicht als etwas Schlechtes dargestellt, ganz im Gegenteil, denn der Tote malt mit weißer Hand (vgl. V. 18). Hier spielt wieder die Farbsymbolik eine Rolle. Weiß steht für Unschuld und Reinheit, was dem Ganzen dennoch einen bitteren Beigeschmack gibt, da dies auch bedeuten könnte, dass Menschen unschuldig gestorben sind, was etwas eher Trauriges ist. Er malt „grinsend Schweigen an die Wand“ (V. 19), was dafür steht, dass er zwar tot ist und seine Worte nicht mehr erhört werden können – deswegen Schweigen –, er aber in der Nacht zum Leben erweckt wird und in der Malerei Ausdruck findet. Das Gedicht endet mit einem noch immer flüsterndem Schläfer (vgl. V. 20). Dieser wiederum steht für die Unruhe, welche die Nacht mit sich bringt.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Gedicht sich mit der Situation vieler verschiedener Personengruppen befasst und die Schicksale hier überwiegend eine negative Konnotation haben. Auffällig ist hierbei der parallelistische Aufbau, der den Szenen zugrunde liegt. Im Allgemeinen ist das literarische Werk besonders durch die dunklen Bilder der Nacht, des Sterbens, des Todes und Vergehens, wie auch biblisch-religiösen Bezüge geprägt. Das Gedicht weist einige Merkmale des Expressionismus auf, so z. B. die Farbsymbolik und der Zerfall des Ichs, also die Darstellung von inneren und äußeren Auflösungsprozessen. Die Intention Trakls ist es, auf die individuellen Schicksale der Menschen aufmerksam zu machen und das damit entstandene Zeitgefühl, das zu Zeiten der Entstehung dieses Werkes herrschte, hinzuweisen. Durch die sehr persönlichen Schicksale, welche im Gedicht dargestellt werden, appelliert der Verfasser an die Leser, da zu damaligen Zeiten, besonders in Anbetracht des bevorstehenden Krieges, Elend herrschte.