Gedicht: Psalm (1912)
Autor/in: Georg TraklEpoche: Expressionismus
Strophen: 5, Verse: 37
Verse pro Strophe: 1-9, 2-9, 3-9, 4-9, 5-1
Es ist ein Licht, das der Wind ausgelöscht hat. | ||
Es ist ein Heidekrug, den am Nachmittag ein Betrunkener verläßt. | ||
Es ist ein Weinberg, verbrannt und schwarz mit Löchern voll Spinnen. | ||
Es ist ein Raum, den sie mit Milch getüncht haben. | ||
Der Wahnsinnige ist gestorben. Es ist eine Insel der Südsee, | ||
Den Sonnengott zu empfangen. Man rührt die Trommeln. | ||
Die Männer führen kriegerische Tänze auf. | ||
Die Frauen wiegen die Hüften in Schlinggewächsen und Feuerblumen, | ||
Wenn das Meer singt. O unser verlorenes Paradies. | ||
Die Nymphen haben die goldenen Wälder verlassen. | ||
Man begräbt den Fremden. Dann hebt ein Flimmerregen an. | ||
Der Sohn des Pan erscheint in Gestalt eines Erdarbeiters, | ||
Der den Mittag am glühenden Asphalt verschläft. | ||
Es sind kleine Mädchen in einem Hof in Kleidchen voll herzzerreißender Armut. | ||
Es sind Zimmer, erfüllt von Akkorden und Sonaten. | ||
Es sind Schatten, die sich vor einem erblindeten Spiegel umarmen. | ||
An den Fenstern des Spitals wärmen sich Genesende. | ||
Ein weißer Dampfer am Kanal trägt blutige Seuchen herauf. | ||
Die fremde Schwester erscheint wieder in jemands bösen Träumen. | ||
Ruhend im Haselgebüsch spielt sie mit seinen Schatten. | ||
Der Student, vielleicht ein Doppelgänger, schaut ihr lange vom Fenster nach. | ||
Hinter ihm steht sein toter Bruder, oder er geht die alte Wendeltreppe herab. | ||
Im Dunkel brauner Kastanien verblaßt die Gestalt des jungen Novizen. | ||
Der Garten ist im Abend. Im Kreuzgang flattern die Fledermäuse umher. | ||
Die Kinder des Hausmeisters hören zu spielen auf und suchen das Gold des Himmels. | ||
Endakkorde eines Quartetts. Die kleine Blinde läuft zitternd durch die Allee, | ||
Und später tastet ihr Schatten an kalten Mauern hin, umgeben vom Märchen und heiligen Legenden. | ||
Es ist ein leeres Boot, das am Abend den schwarzen Kanal heruntertreibt. | ||
In der Düsternis des alten Asyls verfallen menschliche Ruinen. | ||
Die toten Waisen liegen an der Gartenmauer. | ||
Aus grauen Zimmern treten Engel mit kotgefleckten Flügeln. | ||
Würmer tropfen von ihren vergilbten Lidern. | ||
Der Platz vor der Kirche ist finster und schweigsam, wie in den Tagen der Kindheit. | ||
Auf silbernen Sohlen gleiten frühere Leben vorbei | ||
Und die Schatten der Verdammten steigen zu den seufzenden Wassern nieder. | ||
In seinem Grab spielt der weiße Magier mit seinen Schlangen. | ||
Schweigsam über der Schädelstätte öffnen sich Gottes goldene Augen. |