Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Die Epoche des Expressionismus gilt als Zeit des Wandels, denn sie ist durch viele Veränderungen geprägt. Geschehnisse wie der Untergang der „Titanic“ und der Halleysche Komet versetzten die Menschen in Untergangsstimmung. Zudem lernten die Menschen durch die Industrialisierung Dinge kennen, die sie sowohl positiv als auch negativ prägten. Als Gegenbewegung zum kalten ästhetischen Naturalismus empfanden die Expressionisten es für wichtig die Normen, die zu jener Zeit galten, zu brechen und den Kern der Dinge zu ergründen, denn Oberflächlichkeit und Schönheit gehörten zu jener Norm, von welcher sie sich separieren wollten.
Um die Motive und Beweggründe des Expressionismus besser zu verstehen, erscheint es daher sinnvoll ein Gedicht aus jener Zeit zu analysieren und zu interpretieren, was im Folgenden der Fall sein wird.
Das expressionistische Gedicht „Im Winter“, welches im Jahre 1911 von Georg Trakl verfasst worden ist, stellt die Beziehung des Menschen zu seiner Umgebung dar und thematisiert die Dissoziation des Menschen und den Verlust seiner Identität. Das Gedicht stellt die emotionslose Stimmung und den Mangel an Individualität dar und illustriert genannte Aspekte mit sprachlichen und rhetorischen Mitteln, auf die später eingegangen wird.
Zu Beginn beschreibt ein lyrischer Sprecher seine Umgebung, indem er sowohl vom Himmel als auch vom Boden spricht. Ebenfalls redet er von den Vögeln, die im Wald fliegen und von einem Jäger, welcher sich ebenfalls dort befindet. Danach ist die Rede vom Wohnen in den Wäldern. Gleichzeitig erhebt sich der Mond in den Himmel und Geräusche sind zu hören. Schließlich stirbt ein Tier, woraufhin Raben dorthin eilen. Zuletzt bewegt sich ein Rohr und niemand befindet sich im Wald.
Das Gedicht besteht aus drei Strophen, die jeweils vier Verse beinhalten. In jeder Strophe gibt es einen umarmenden Reim, wobei die ersten beiden Strophen einen unechten Reim vorweisen (vgl. V. 1f, V. 6f „ungeheuer [...] Weiher“, „Hütten [...] Schlitten“). Es besteht ein streng durchgehaltener Rhythmus, der von jambischen Versen dominiert wird.
Beginnend beim Titel: Jener lässt den Leser die Stimmung erahnen. Der Titel lautet „Im Winter“, was oftmals als die Jahreszeit der Kälte und des Schnees charakterisiert wird. Somit könnte der Leser einen ersten Eindruck der Gefühlslosigkeit und der Kälte des Gedichtes haben. Diese Erkenntnis bestätigt sich zuersteinmal da von „weiß und kalt“ (V. 1) die Rede ist. Der erste Gedanke, den man haben könnte, wäre der Schnee. Jedoch ist die Farbe „weiß“ (V. 1) oder weißes Licht (V. 1 „leuchtet“) möglicherweise als ein Symbol für göttliches Licht zu sehen. Göttliches Licht, das für den Verlust transzendenter Werte stehen könnte. Auch könnte das weiße Licht gemeint sein, welches man kurz vor dem Tod erblickt. So könnte jenes als Prophezeiung des Todes gedeutet werden. Zudem ist es „der Acker“ (V. 1) , welcher weiß leuchtet (vgl. V. 1). Der Acker ist die Anbaufläche von Nahrung, welche der Mensch nötig hat um zu überleben. Ist dieser Nahrung jedoch der Tod prophezeit, könnte dies wiederum zum Tode des Menschen führen. Zudem ist „der Acker“ (V. 1), welcher ein anderes Substantiv für Boden darstellt, antithetisch zum „Himmel“ (V. 2). Die Kälte und düstere Stimmung wird hierbei durch das Adjektiv „einsam“ (V. 2) wiederaufgegriffen und verdeutlicht.
Die Vögel, welche umherfliegen, könnten ebenfalls ein Seismograph des Todes sein. Sie sind wie das weiße Licht (vgl. V. 1) als ein Vorbote des Todes gedacht und kündigen diesen an. Auffallend an diesem Gedicht ist auch, dass stets Dinge und Gegenstände, die mit der Natur assoziiert werden, thematisiert und aufgegriffen werden (vgl. Strophe 1 „Acker, Himmel, Weiher, Wald“).
Die Tatsache, dass vorhin genannte Vögel (V. 3 „Dohlen“) „kreisen“ (V. 3), könnten andeuten, das es kein Ende gibt, da ein Kreis unendlich ist. Somit möchte das Gedicht aussagen, dass der Tod immer draußen lauert, da seine Vorboten, die Vögel und das Licht, ebenfalls stets da sind. Der einzige Mensch, der im Gedicht genannt wird, ist der Jäger (vgl. V. 4). Der üblicherweise mit Stärke, Gewalt und Mut assoziierte „steigt aus dem Wald“ (vgl. V. 4), was ein Zeichen dafür sein könnte, dass Unheil geschieht, da jener sich diesem entzieht. Was ebenfalls auffällt, ist, dass der einzige Mensch in dem Gedicht auf seinen Beruf reduziert und lediglich als „Jäger“ (V. 4) bezeichnet wird, was als Andeutung auf das Verschwinden des Ichs gedeutet werden kann, da jegliche Individualität herausgefiltert wird. Die Anaphern2 zu Anfang jeder Strophe, könnten eine Illustration des Verschwindens der Individualität oder sogar des Zerfließens des Lebens sein, denn sie werden immer bruchstückhafter und reduzieren sich ebenfalls.
Auch fällt auf, dass die ersten beiden Strophen aus je drei Sätzen bestehen, und parataktisch sind, wobei der erste und der zweite Vers jeweils einer sind und der dritte und vierte einen einzigen bilden. Die letzte Strophe sticht hierbei heraus, da dies bei ihr nicht der Fall ist.
Die Antithese3 zwischen dem ersten Vers der ersten Strophe und dem ersten Vers der zweiten Strophe zeigt deutlich, dass sich das Thema ändert (V. 1 „weiß“, V. 5 „schwarzen Wipfeln“).
Hoffnung dominiert jene, was ebenfalls durch den Neologismus4 „Feuerschein“ (V. 6) deutlich wird, denn Feuer ist ein utopisches Substantiv, was stets mit Leben und Hoffnung assoziiert werden kann. Die Assonanz5, welche zwischen „Feuersch(ei)n“ (V. 6) und „Schw(ei)gen (V. 5) besteht, illustriert den Aspekt der Hoffnung noch einmal , da hier mit dem Effekt des Klanges gespielt wird. Zudem unterstützt die Alliteration6 diese Wirkung (V. 5 „schweigen in schwarzen“).
In der zweiten Strophe wird überwiegend mit auditiven und onomatopoetischen Mitteln gearbeitet, was im Kontrast zur „einsamen“ (V. 2) Stille der ersten Strophe steht. Der „schellende Schlitten“ (vgl. V. 7), den man in der Ferne hört, steht ebenfalls für Hilfe und Hoffnung, die eine Rettung sein könnte. Jedoch wird dies daraufhin durch das „Steigen des Mondes“ (vgl. V. 8) widerlegt, denn dieser könnte ein Symbol der Sehnsucht und der Vollkommenheit sein. Da jenes Symbol, jedoch dem Himmel empor steigt, verschwindet die Hoffnung und lässt einen „einsam“ (V. 2) zurück.
Die dritte und letzte Strophe stellt eine Klimax7 dar, denn in dieser werden viele entscheidende Handlungen parataktisch aneinandergereiht. Der Tod wird beschönigt dargestellt, was auf einen Euphemismus8 hindeutet (V. 9ff „Ein Wild verblutet sanft am Rain“).
Die „Raben“ (V. 10), welche als Vögel des Unglücks gelten, besiegeln das Schicksal und ziehen den Tod in das Lächerliche, indem sie „in blutigen Gossen plätschern“ (V. 10). Das Wild (vgl. V. 9), welches am Rain stirbt, könnte als Metapher9 für den Menschen gedeutet werden. Da diese am Rain, an einer Grenze stirbt, kann genannte Grenze als Umbruch bzw. die Veränderungen angesehen werden. So will das Gedicht vermutlich ausdrücken, dass der Mensch, welcher nach einer Änderung und dem Umbruch strebt, zugrunde gehen wird, wahrscheinlich durch die Hand der größeren Mächte.
Der parataktische Aufbau der Sätze steht bildlich für die Kälte und das Fehlen der Emotionen. Zusätzlich steht die Farbe „gelb“ (V. 11) für das Apokalyptische und den Untergang. Das Rohr könnte hierbei ein Gewehr sein, da vom Schießen die Rede ist (V. 11 „aufgeschossen“).
Rückblickend auf vorangegangene Analyse lässt sich die zu Anfang formulierte Deutungshypothese verifizieren. Durch Farbverdichtung und das Nutzen von Farbeindrücken wir schwarz und gelb, werden die apokalyptischen und Todeseindrücke dem Leser übermittelt. Der Euphemismus wird genutzt, um die Verzweiflung der Menschen zu jener Zeit auszudrücken, denn griffen teils zu drastischen Maßnahmen wie Drogen, um sich der Realität zu entziehen und diese zu beschönigen. In diesem Gedicht wird zudem deutlich das Verhältnis des Menschen zur Natur thematisiert, was durch den Einsatz von animalistischen Verben und Substantiven sowie der Bildverdichtung klar wird. Deutlich ist ebenfalls der Verlust der Identität. Das Fehlen des lyrischen Ichs unterstützt diese These, denn zu jener Zeit befürchteten die Menschen in einer undefinierbaren Masse unterzugehen und anhand eines Merkmals, wie in diesem Falle dem Beruf des Jägers, identifiziert zu werden.
Zudem hat das Gedicht eine klare Form von drei Strophen à vier Versen, was im Kontrast zum verstörenden Inhalt steht, der auf den ersten Blick unschuldig scheint. Befasst man sich näher damit, wird einem auffallen, dass das Gedicht ein fehlgeschlagener Versuch ist, die vollkommene Form des Sonetts zu erreichen.
Die erste Strophe, welche vorwiegend die tödliche Ruhe und Einsamkeit thematisiert ist antithetisch zur zweiten, die durch das unübersehbare Spielen mit Klängen einen Aufruf zum Umbruch und einen Aufschrei darstellt. Ein Aufschrei um den Ich-Zerfall zu stoppen und sich gegen die gegenwärtige Konditionen zu wehren.