Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Dämmerung“ wurde 1912 von Georg Trakl (1887- 1914) veröffentlicht und beschäftigt sich mit der Darstellung von Seuchenopfern. Zeitlich sowie thematisch lässt es sich der Epoche des Expressionismus zuordnen, dessen Weltbild geprägt war von einer kritischen Lebensauffassung gegenüber Neuerungen, die der technische Fortschritt mit sich brachte. Man meinte, dass das Alte zu Grunde gehen müsse, damit Neues entstehen könne. Diese Skepsis wurde zu der Zeit von den Ereignissen der Titanic (1912) und des Halleyschen Kometen (1910) nur noch mehr verstärkt. Im Unterschied zum vorangegangenen Naturalismus (1880- 1900), welcher eine Nachbildung der wahrnehmbaren Wirklichkeit anstrebt, soll der Expressionismus die dahinter liegende Wirklichkeit zeigen und ist somit beinahe mehr Ausbruch als Ausdruck.
Inhaltlich lässt sich sagen, dass im Gedicht eine sichtbare Situation näher beschrieben wird. Zunächst wird ausgesagt, dass kranke Personen/ Gestalten im Hof (eventuell eines Krankenhauses oder einer sonstigen Anstalt) spazieren, die währenddessen wie besessen träumen. Schließlich ertönt ein Geläut, woraufhin sie den Hof in viele verschiedene Richtungen verlassen. Während dieses Vorgangs ist es bereits so dunkel, dass man ihre Schatten an den Mauern erkennen kann. Andere Kranke verlassen den Platz und verschwinden unter Arkaden, aber eines haben sie alle gemeinsam: Nachts erfasst sie die Verzweiflung.
Äußerlich gliedert sich das Gedicht in insgesamt 14 Verse, eingeteilt in zwei Quartette (abba, abba) und zwei Terzette (cdc, dcd), wodurch es sich der Form des Sonetts zuordnen lässt. Als Metrum2 wurde ein fünfhebiger Jambus gewählt, welcher wechselnde Kadenzen3 zeigt und an zwei Stellen durch Ausnahmen aufgebrochen wird: Der Doppelsenkung in dem ersten Vers und dem Trochäus am Anfang in Vers neun. Weiterhin lässt sich als Charakteristika der Zeilenstil4 feststellen, welcher einen unreinen Reim (V. 7, 8) und einen Enjambement5 (V. 13, 14) aufweist. Dieses insgesamt strikte Schema ist eher untypisch für die expressionistische Epoche, zeigt aber auch, dass die verschiedenen Werke einer Epoche nicht alle nach einem formalen Bauplan konstruiert und somit nicht jedes Merkmal einer Epoche auch in jedes Werk eingebunden wurde. Denn dieser geordnete Aufbau steht dem zu dieser Zeit häufig angewandten Aufbrechen grammatischer Strukturen gegenüber und soll zeigen, dass eine alltägliche Sprache nicht ausreicht, um die starken Gefühle der Autorinnen und Autoren auszudrücken.
Als Themenschwerpunkt des gesamten Gedichtes kann man schon während des ersten Lesens erkennen, dass es sich um Seuchenopfer in einem Krankenhaus oder einer anderen Heilstätte handelt. Hierfür spricht zumindest die Erwähnung des Begriffs „Siechtum“ (V. 5), was den langsamen und stetig fortschreitenden Abbau der geistigen und körperlichen Fähigkeiten bezeichnet. Diese Darstellung wird zudem durch diversen Wortfelder hervorgehoben, welche identische oder im übertragenem Sinne ähnliche Eigenschaften besitzen. Dazu zählen u.a. die Bereiche „Krankheit“ (V. 2, 3, 5), „Licht“ (V. 1, 6, 11, 13) und „Übersinnliches“ (V. 1, 5, 8, 10, 14). Eng verbunden mit dem gerade aufgeführten zweiten Bereich ist die von Trakl verwendete Farbsymbolik, welche charakteristisch für die Literatur des Expressionismus ist. Hierzu zählen die Begriffe „goldner“ (V. 3), „weiße“ (V. 6), „grau“ (V. 7), „schwarz- gekreuzten“ (V. 10) und „roten“ (V. 13), welche die Vorstellung des Beschriebenen steigern und begünstigen.
Darüber hinaus baut Georg Trakl zahlreiche weitere Stilmittel in sein Werk ein, wie die Aufzählung „Erfüllt von Träumerei und Ruh und Wein“ (V. 4). Es wird deutlich, wie abwesend die Kranken von ihrem Geist bzw. von ihrer eigenen Kontrolle sind und sich die Seuche somit „geisterhaft“ (V. 5) in die Körper einbindet. Diese desolate Stimmung erzeugt auch die Personifikation6 „Die Sterne weiße Traurigkeit verbreiten“ (V. 6), woran sich erkennen lässt, dass sich die Situation in der Nacht abspielt, was die insgesamt trostlose Stimmung nur noch mehr verstärkt. So entstehen durch das Leuchten der Sterne „(...) Schatten an den Mauern (...)“ (V.11), welche in diesem Vers in Form eines Ausrufs (V. 11: „O!“) erwähnt werden und den Opfern der Seuche Bedauern ausdrücken. Eine ähnliche Wirkung erzeugt auch die Imperativform „Sieh(...)“ (V. 8), welche die Leserinnen und Leser direkt ansprechen und in das Geschehen einbinden soll. Der vorletzte Vers „Und nächtens stürzen sie aus roten Schauern“ (V. 13) kann mit Vers vier einhergehen, in dem von Wein die Rede ist. Die roten Schauern können somit durch die Farbe eine Anspielung auf den Wein sein, welchen einige Wohlhabende möglicherweise tranken, was wiederum auch zeigt, dass die Seuche nicht unbedingt nur die ärmere Bevölkerung betraf. Den letzten Vers gestaltete Georg Trakl mit zwei weiteren Stilmitteln: Seine Aussage „(...) gleich rasenden Mänaden“ (V. 14) beinhaltet einerseits einen Vergleich, zum anderen aber auch einen Pleonasmus7, da der Begriff „Mänaden“ bereits übersetzt „die Rasenden“ bedeutet und die mythischen Begleiterinnen der dionysischen Züge bezeichnet. Sie irren orientierungslos umher und erscheinen in der anbrechenden Dunkelheit als unheimliche Gestalten.
Als Überblick über die gesamte Handlung lassen sich einige zentrale Stellen feststellen, um so die Intention des Gedichts näher herauszuarbeiten. Die zunächst als sehr idyllisch beschriebene Situation deutet auf einen Herbsttag hin, wodurch eine Andeutung an einen bevorstehenden Zerfall erzeugt wird, wie er im Herbst im übertragenen Sinne an zahlreichen Bäumen und Blumen bekannt ist. Im zweiten Quartett und im ersten Terzett wird dieser Verfall weiter gesteigert, indem zahlreiche mystische Bezeichnungen (vgl. V. 5, 8) angeführt werden und die Kranken langsam die Kontrolle über sich selber verlieren, was sogar bis zum Tod (V. 10: „schwarz- gekreuzt(en)“) führen kann. Diese erste Vorahnung steigert sich in den letzten beiden Versen schließlich zu einem apokalyptischen Bild der Melancholie, bei dem sich die beschriebenen Personen immer mehr verflucht fühlen (V. 14: „rasende Mänaden“).
Als abschließendes Analysefazit lässt sich somit sagen, dass Georg Trakl mit seinem Werk „Dämmerung“ den epochentypischen Merkmalen des Expressionismus größtenteils entspricht und ein Gedicht erschaffen hat, welches, ausgehend von der Beschreibung der Tageszeit (mit Bezug auf den Titel), den Übergang kranker Personen zum tödlichen Zerfall hin näher fokussiert.