Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht „Dämmerung“ von Georg Trakl aus dem Jahre 1912 thematisiert das Thema „Siechtum“. Es ist in Sonettform verfasst und hat einen umarmenden Reim im ersten Quartett (abba), im zweiten Quartett treten nochmals die Reime „a“ und „b“ und neu „c“ und „d“, so dass wir abcd vorliegen haben. Die beiden Terzetten sind im Wechselreim (aba, bab) geschrieben.
Zum historischen Hintergrund von Siechenhäusern:
Siechenhäuser sind ein Meta-Begriff2 für allerlei verschiedene Arten von Krankenhäuser, in denen z. B. Pestkranke in Pesthäusern, Leprakranke in Leprosorien, Gangränkranke und Mutterkornvergiftete in Antoniushospitälern oder Syphilitiker in Franzosenhäusern untergebracht wurde. Weitere Namen sind Gutleutehaus, Kottenhäuser oder St.Jürgen-Hospitäler.
Siechenhäuser wurden errichtet, um den Kontakt von gesunden mit kranken Menschen einzuschränken, und um so die Ausmaße von Seuchen einzudämmen. Die Aussätzigen wurden in den Siechenhäusern strengen Regeln unterworfen und durften sich gesunden Menschen nur annähern, wenn sie sie vorher akustisch warnten. Dazu trugen die Kranken meist eine Holz-Klapper, oder aber auch Glocken, Siechenschellen oder ein Leprosenhorn. Die gesunden Menschen konnten dadurch frühzeitig den Kontakt mit dem Kranken vermeiden. Die Siechenden waren meist ärmlich, durften nicht heiraten oder größere Besitztümer haben, sie lebten daher hauptsächlich von Almosen und Stiftungen. Von einer Seuche befallen zu werden, stellte für die Menschen damals eine Strafe für abfälligen Lebensstil dar.
Dieser Umgang mit Erkrankten geht schon sehr auf die Bibel zurück, folgendes findet sich 3. Buch Mose 13, 45-46: „Wer nun aussätzig ist, soll zerrissene Kleider tragen und das Haar lose und den Bart verhüllt und soll rufen: Unrein! Unrein! Und solange der Aussatz an ihm ist, soll er unrein sein, allein wohnen und seine Wohnung außerhalb des Lagers sein.“
In Trakls „Dämmerung“ lassen sich zwei konkrete Stellen finden, von denen sich ableiten lässt, dass es sich wahrscheinlich um Seuchenkranke handeln könnte. Zum einen berichtet der Sprecher von „weichen Kranken“, die durch „Herbstgebräuntes gleiten“, zum anderen wird in Vers 5 vom dem Siechtum der Kranken gesprochen. Ich kann allerdings keine bestimmte Seuche mit dem Adjektiv „weich“ assoziieren. Um welche Art von Siechenhaus es sich handelt, kann ich daher nicht sagen.
In der ersten Strophe (V. 1-4) wird beschrieben, wie sich die „weichen Kranken“ durch „Herbstgebräuntes“ (V. 2) laufen. Herbstgebräuntes ist ein Neologismus3, aber es ist unschwer zu entziffern, dass die Kranken offenbar über verlaubte Wege eines Hofes schreiten. Zeitlich spielt sich die Handlung in der Abenddämmerung ab. Verfremdet wird der „Dämmerschein“ durch das Adjektiv „milchig“, womöglich ist dies eine Anspielung auf das Vorhandensein von Nebel. Während die Kranken über den Hof „gleiten“, schwelgen sie in Erinnerungen an alte Zeiten, die sie mit positiven Dingen wie „Träumerei und Ruh und Wein“ verbinden (V. 3f).
In der zweiten Strophe (V. 5-8) beginnt der Sprecher etwas abfällig über die Aussätzigen zu reden. Der Beobachter bezeichnet sie als „die Schrecklichen“ (V. 8), in der dritten Strophe gar als „Spottgestalten“ (V. 9). Die Dämmerung geht langsam in Nacht über, so dass der Sprecher die Sterne beschreibt, die „weiße Traurigkeit verbreiten“, er oder sie empfindet Mitleid mit den Siechenden. Diese Wirkung wird auf den Leser zusätzlich durch den Pleonasmus4 „weiße Traurigkeit“ potenziert5 (Sterne sind bereits weiß, dies muss nicht zusätzlich durch das Adjektiv „weiß“ unterstrichen werden). Die schwachen Lichtverhältnisse führen dazu, dass der Sprecher nur noch „Grau“ sehen kann und die Sinne getäuscht werden (V. 7). In diesem Grau ertönt allerdings ein Läuten. Wahrscheinlich ein Kirchenläuten, welches mit den Glockenschlägen die Uhrzeit verkündet. In den Siechenhäusern herrschte die Regel vor, dass die Kranken sich zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang nicht in Gesellschaft aufhalten durften. Das Glockenläuten erinnert die Aussätzigen eventuell daran, dass die Nacht hereinbricht und sie ihre Gesellschaft auflösen müssen. Demzufolge „zerstreun“ sich die Kranken (V. 8).
Eine andere Interpretationsmöglichkeit wäre, dass das Läuten durch die bereits angesprochenen Warnglocken ausgelöst werden, die die Siechenden zur Warnung der gesunden Menschen tragen müssen.
Der Sprecher beobachtet in der dritten Strophe (V. 9-11) schließlich die unnatürliche Fortbewegung der „Spottgestalten“ (V. 9f). Sie „huschen, kauern und flattern“ oder „fliehn durch dunkelnde Arkaden“ (V. 12). Die „gekreuzten Pfade“, von denen der Beobachter schreibt, könnte eine Anspielung auf die Wegbebauung des Hofes oder Gartens um das Siechenhaus sein, welcher durch das dunkle Laub und dem geringen Licht schwarz erscheint.
Der 11. Vers beginnt mit der Interjektion6 „O!“, die „trauervollen Schatten“ erwecken wiederum den Eindruck, dass der Sprecher Mitleid oder gar Abscheu vor den Kranken empfinden könnte. Wohin einige der Siechenden fliehen, ist ungewiss, möglicher Weise in dass Siechenhaus. Über den Sinn der letzten beiden Verse kann ich nur spekulieren. Die erwähnten Mänaden sind Anhängerinnen des griechischen Gott des Weines (Dionysos). Die typisch Rotfärbung des Weines korreliert gut mit den „roten Schauern“, aus denen die Kranken nachts stürzen. Es gab in einigen Siechenhäusern den Brauch, etwas besser betuchten Aussätzigen Naturalien und eine Maß Wein am Tag bereitzustellen. Der letzte Vers stellt mit dem Konstrukt „rasenden Mänaden“ wieder einen Pleonasmus dar, da die Übersetzung von „Mänaden“ bereits „Die Rasenden“ ist.