Autor/in: Georg Heym Epoche: Expressionismus Strophen: 3, Verse: 12 Verse pro Strophe: 1-4, 2-4, 3-4
Die Straße wird zu einem breiten Strich.
Die Häuser werden weiß wie eine Wand.
Die Sonne wird ein Mond. Und unbekannt,
Gleichgültig, fremd, ein jedes Angesicht.
Sie sehen aus wie Blätter von Papier,
Weiß, unbeschrieben. Aber hinten winkt
Ein schlankes blaues Kleid, das fern versinkt
Und wieder auftaucht, und sich fern verliert.
Auf seinem Nacken sitzt die Eifersucht.
Ein altes Weib, gestiefelt. Einen Dorn
Bohrt in das Hirn sie ihm, und haut den Sporn
In ihres Reittiers weicher Flanken Bucht.
„Eifersucht“ vorgelesen von Katharina Thalbach
Die Literaturepoche des Expressionismus: Die verschollene Generation? Diese und andere spannende Fragen beantwortet euch der Germanist Dr. Tobias Klein von Huhn meets Ei: Katholisch in Berlin im Gespräch mit dem Podcaster Wilhelm Arendt.
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Edvard Munch - Eifersucht (1907)
In dem Gedicht „Eifersucht“ aus dem Jahre 1910 und somit der Epoche des Expressionismus setzt sich Georg Heym damit auseinander, wie ein Mann das Gefühl der Eifersucht erlebt; dieser nimmt den Großteil seiner Umwelt stark vereinfacht wahr, gleichzeitig bleibt ihm der Gegenstand seiner Eifersucht jedoch unverändert klar vor Augen.
Dem Inneren des Ichs einen Ausdruck (eine „Expression“) zu verleihen, ist das Ziel vieler expressionistischer Gedichte.
Das Gedicht ist in drei Strophen mit jeweils vier Versen in einem fünfhebigen Jambus gegliedert (Ausnahmen: „Gleichgültig“ in Vers 4, und „Weiß“ in Vers 6). Dieser Rythmus hebt das kontinuierliche Streben danach, die Eifersucht zu stillen, hervor. Alle Kadenzen1 des Gedichts sind männlich, und legen auf diese Weise bereits die Vermutung nahe, die Eifersucht eines Mannes – der erst in der letzten Strophe als solcher durch das Pronomen „seinem“ (Vers 9) eindeutig erkennbar gemacht wird – zu betrachten. Alle Strophen bestehen aus einem umarmenden Reim; diese Anordnung symbolisiert, wie der Mann nur im von der Eifersucht erlaubten Rahmen handeln kann. Die „Umarmung“ der Reime sollte also vielmehr als ein Festhalten oder eine Beherrschung gesehen werden. Es findet sich zunächst ein Zeilenstil2, der aber in Vers 6 unterbrochen wird und danach nur noch selten zum Vorschein kommt.
Bereits der erste Vers „Die Straße wird zu einem breiten Strich.“ verdeutlicht, wie stark die Wahrnehmung des Mannes dessen Umgebung abstrahiert. Der „Strich“ der Straße verläuft zwischen Häusern, die „weiß wie eine Wand“ (Vers 2) werden. Ein Strich auf weißem Grund zieht üblicherweise eine Verbindung oder verdeutlicht einen Weg zwischen zwei Punkten, in diesem Fall zwischen dem Mann und der später genannten Frau, die sich ebenfalls auf der Straße befindet.
In Vers 3 wird „Die Sonne [...] zum Mond“. Dies dient zum Einen wieder der Veranschaulichung der Wahrnehmungsweise des Mannes; ihm ist egal, ob gerade Tag oder Nacht ist, zum Anderen nimmt es nach den Farben der Häuser und der Straße auch die Farben des Himmels; aus einem blauen Taghimmel mit gelber Sonne wird ein schwarzer Nachthimmel mit weißem Mond.
Die Verse 1 bis 3 fangen mit „Die“ an, eine Anapher3, die zusammen mit dem Parallelismus im selben Versbereich dafür sorgt, dass der Leser versteht, dass es allen Dingen im Umfeld des Mannes in seiner Wahrnehmung exakt gleich ergeht.
Noch im dritten Vers fängt Heym jedoch an, auch die Personen auf der Straße zu beschreiben: Die Gesichter sind dem Mann „unbekannt, / Gleichgültig, fremd“ (Verse 3f.), also ohne Belang für ihn und seine Ziele. Dabei sticht das Wort „Gleichgültig“ hervor, da es nicht in den jambischen Pentameter passt. So wird dieses Wort als zentraler Bedeutungsträger dargestellt; dem Autor ist es wichtig, dem Leser mitzuteilen, dass die Gesichter dem Mann nicht nur fremd und unbekannt (was auch Neugier zur Folge haben könnte), sondern vor allem gleichgültig sind. Es geht dem Mann nur darum, seine Eifersucht zu stillen, der Rest, so könnte man sagen, ist ihm egal.
In der zweiten Strophe geht Heym noch einen Schritt weiter und vergleicht die Menschen mit unbeschriebenen „Blätter[n] von Papier“ (Vers 5, vgl. Vers 6). Klar wird auch hier die Wichtigkeit des Weiß'. Im Expressionismus finden sich häufig spezielle Bedeutungen für bestimmte Farben. Dass die Welt, in der der Mann lebt, bis hier ausschließlich als weiß und schwarz beschrieben wird, hat jedoch zur Folge, dass sich alles Beschriebene jeglicher Bedeutung entzieht und somit nur wieder verdeutlicht, wie uninteressant es für den Mann in seiner Situation ist. Im nächsten Vers wird dieser Umstand weiter dadurch bestätigt, dass das Wort „Weiß“ (Vers 6) genau wie „Gleichgültig“ in Vers 4 nicht in das Versmaß passt.
Noch im selben Vers wird das komplette Gegenteil zur irrelevanten Farblosigkeit präsentiert: Es ist „Ein schlankes blaues Kleid“ (Vers 7), das alles verkörpert, was der Rest der Welt nicht hat. Es ist „schlank“, also attraktiv und begehrenswert, und äußerst weiblich: Die Farbe Blau repräsentiert im Expressionismus hauptsächlich das Leben, sowie alles Lebenspendende wie das Wasser. Auch Frauen werden wegen ihrer Fähigkeit zum Kindergebären im Expressionismus diesem Bedeutungsfeld zugeordnet. Eine Verbindung, die sich bis in die heutige Literatur hält: So widmete sich z. B. Günter Grass in seinem Roman „Der Butt“ dem Gegensatz zwischen dem kriegerischen, zerstörerischen Mann und der durch Geburt und Kochkunst lebenserhaltenden Frau.
Das blaue Kleid ist also ein klares Symbol für eine Frau. Dieses wird von der Personifikation4 „Aber hinten winkt / [das] Kleid“ in den Versen 6f. gestützt, welche das Kleid nun eindeutig als Pars pro toto einer Frau erkenntlichmacht. So wird die Frau als das Einzige dargestellt, das der Mann unverändert und in voller Farbenpracht wahrnehmen kann, und gleichzeitig als etwas (Ver-) Lockendes, das dem Mann bedeutet, ihm zu folgen. Der Reiz, den die Frau auf den Mann ausübt, wird durch das ständige Wechseln von sichtbar zu unsichtbar und zurück verstärkt: Das Kleid „winkt“ (Vers 6) erst, bevor es „fern versinkt“ (Vers 7), worauf es „wieder auftaucht, und sich fern verliert“ (Vers 8).
Die Andersartigkeit der Frau wird weiterhin dadurch unterstützt, dass, sobald von ihr geschrieben wird, Enjambements5 das zuvor im Zeilenstil etablierte Gerüst durchbrechen; die männliche, die Umwelt Vers für Vers als uninteressant abstempelnde Wahrnehmung lässt sich allein von der personifizierten Weiblichkeit dazu hinreißen, in mehr als nur in den Kategorien Weiß und Schwarz zu denken.
In Strophe 3 findet der Zeilenstil wieder Zugang zum Gedicht: „Die Eifersucht“ (Vers 9) wird so als ähnlich wenig begehrenswert wie der schwarz-weiße Rest der Welt dargestellt. Dennoch wird die Eifersucht als eine Frau – wenn auch als keine besonders weibliche, sondern ein „gestiefelt[es]“ „altes Weib“ (Vers 10) – personifiziert, deswegen ist das, was sie tut, wieder von Enjambements geprägt, die auch ihre Unnachgiebigkeit und die fortlaufenden Strapazen für den Mann bedeuten können.
An dieser Stelle lohnt es weiterhin, das umarmende Reimschema aufzugreifen: Die Eifersucht sitzt „Auf seinem Nacken“ (Vers 9), zusammen mit den Stiefeln, die sie trägt, ergibt das ein deutliches Bild einer Reiterin auf ihrem Pferd. Das erklärt die Begriffswahl der „Herrschaft“ statt „Umarmung“. Die Herrschaft im Reimschema wird des Weiteren erst in dieser Strophe unmissverständlich gezeigt: Während die umarmenden Reime der beiden vorigen Strophen noch unrein sind, werden sie in der dritten Strophe, in der die Eifersucht selbst beschrieben wird, rein. Dieses Prinzip gleicht einer Andeutung mit Auflösung; man kann seit Strophe 1 ahnen, dass der Mann nicht ganz von sich aus so agiert, sondern dass er unter dem Einfluss einer anderen Kraft steht. Auch ein Vergleich mit der Redewendung „Da hat ihn etwas geritten“, als Erklärung für ein unübliches Verhalten, ist denkbar.
In den Versen 11f. wird das Bild der Reiterin komplettiert, wenn die Eifersucht „den Sporn / In ihres Reittiers weicher Flanken Bucht“ drückt. Die Eifersucht treibt den Mann also wie ein Tier und auf eine schmerzhafte Weise an, zugleich wird durch das Wort „Reittier“ deutlich, dass der einzige Zweck, der erfüllt wird, ist, dass die Eifersucht zu ihrem Ziel reiten kann. Somit missbraucht sie den Mann zu ihren eigenen Gelüsten, was sie als egozentrische, verabscheuungswürdige Person darstellt, die Andere zu ihrem Vergnügen leiden lässt. In diesen beiden Versen wird ebenfalls ein Kontrast zwischen dem alten Weib und dem Mann deutlich: Die Eifersucht, mit ihren Reitstiefeln und dem harten Sporn, im Gegensatz zum Mann, dessen „weicher Flanken Bucht“ (Vers 12) sie malträtiert. Der Mann scheint also besonders anfällig für die Schmerzen der Eifersucht zu sein, was den Eindruck derselben beim Leser noch verstärkt, und sogar ein Mitleidsgefühl erzeugen kann.
Doch auch eine noch deutlicher sadistische Komponente der Eifersucht wird aufgezeigt: „Einen Dorn / Bohrt in das Hirn sie ihm“ (Verse 10f.). Die Tatsache, dass sie kontinuierlich „Bohrt“ und nicht etwa schlägt, kongruiert mit den Enjambements, die die Qualen für den Mann fast endlos und immer schlimmer erscheinen lassen. Das Gehirn steht hier für die Psyche des Mannes, die durch die Eifersucht mit ihrem Dorn schmerzhaft korrumpiert wird: Ein Mensch unter vielen auf der Straße wird als klares Ziel definiert, alles andere lenkt nur davon ab (die weißen Menschen, hinter denen die Frau verschwindet) oder zeigt darauf (der Strich auf weißem Grund, der als Straße dem Mann den Weg weist). Alles existiert nur in Relation zur Frau, zum Ziel der Eifersucht, nicht länger für sich selbst.
Georg Heym schafft es in diesem Gedicht, klare visuelle Eindrücke beim Leser zu erzeugen, die das Gefühl und die Wahrnehmungsweise der Eifersucht nachzuempfinden versuchen. Die Fixiertheit auf den Gegenstand der Eifersucht, das blaue Kleid und mit ihr die lockende Frau, wird dem Leser dadurch, dass der Rest der den Mann umgebenden Dinge stark vereinfacht und jeder Bedeutung beraubt wird, sehr deutlich vor Augen geführt.
Auch auf dem Leser möglicherweise anderweitig bekannte Sinneseindrücke, wie z. B. Verletzungen an den Dornen einer Pflanze, wird zurückgegriffen, um ein möglichst nachvollziehbares Leseerlebnis zu schaffen. Erst gegen Ende des Gedichts wird ein – äußerst abstoßendes – Bild der Eifersucht durch die Formulierung des gestiefelten alten Weibs gezeichnet, welches durch ihre sadistischen Züge und die antithetische Darstellung zum Mann (sie harte Reiterin, er weiches Reittier) weiter geschärft wird. Das hat zur Folge, dass der Leser erst zum Schluss erfährt, wieso der Mann so resolut agiert, dass seine Handlungen eine Erklärung bekommen, und der Leser schließlich zu einem Gefühl des Mitleids mit dem Mann unter der Herrschaft der Eifersucht bewegt wird.
Die Schuld trägt also in keiner Weise der bemitleidenswerte Mann, der von der Eifersucht geplagt wird, sondern ausschließlich das unsympathische alte Weib, das bereit ist, jeden beliebigen Menschen leiden zu lassen, nur um an ihr Ziel zu kommen. Heym liefert eine klare Stellungnahme dazu, inwiefern das Ich eines Menschen für manche seiner Taten belangt werden kann, indem er die personifizierte Eifersucht als den Drahtzieher hinter den Aktionen eines als nahezu verrückt erscheinenden Mannes entlarvt.
311;
Bewertungen
Bisherige Besucher-Bewertung: 13 Punkte, sehr gut (-) (12,7 Punkte bei 117 Stimmen) Deine Bewertung: