Autor/in: Georg Heym Epoche: Expressionismus Strophen: 4, Verse: 14 Verse pro Strophe: 1-4, 2-4, 3-3, 4-3
Der Mond tritt aus der gelben Wolkenwand.
Die Irren hängen an den Gitterstäben,
Wie große Spinnen, die an Mauern kleben.
Entlang den Gartenzaun fährt ihre Hand.
In offnen Sälen sieht man Tänzer schweben.
Der Ball der Irren ist es. Plötzlich schreit
Der Wahnsinn auf. Das Brüllen pflanzt sich weit,
Daß alle Mauern von dem Lärme beben.
Mit dem er eben über Hume1 gesprochen,
Den Arzt ergreift ein Irrer mit Gewalt.
Er liegt im Blut. Sein Schädel ist zebrochen.
Der Haufe Irrer schaut vergnügt. Doch bald
Enthuschen sie, da fern die Peitsche knallt,
Den Mäusen gleich, die in die Erde krochen.
Anmerkungen
1
Schottischer Philisoph, Ökonom und Historiker
Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das Gedicht Die Irren ist von Georg Heym und entstand im Jahr 1910. Es gehört zur Epoche des Expressionismus (1910-1920). Der Begriff ‚Expressionismus‘ stammt vom lateinischen Wort expressio (Ausdruck) und bedeutet ‚Ausdruckskunst‘. Die Dichter lehnten sich gegen die Tradition des 19. Jahrhunderts auf, das schon lange kritisiert wurde, aber bisher nicht in einer solchen Schärfe. Sie kritisierten aktuelle Entwicklungen wie die Industrialisierung, die Urbanisierung, die Zivilisation und das wilhelminische Bürgertum.
Expressionistische Themen waren die Großstadt, der Weltuntergang, der Krieg und der Ich-Zerfall. Viele Dichter wendeten sich provozierend gegen einen künstlerischen Schönheitsbegriff, der bestimmte Themen ausschloss und griffen hässliche Motive auf, wie Verfall, Tod, Wahnsinn, Krankheit und Verwesung, weshalb man auch von der Ästhetik des Hässlichen spricht. Mehrere Themenbereiche überschneiden sich. Die Autoren spielten mit traditionellen lyrischen Mitteln, provozierten und lehnten sich gegen die ästhetischen Werte der Bürger auf.
Das Gedicht gehört zum Themenkomplex des Ichzerfalls, der eng in Zusammenhang mit der Zivilisations- und Großstadtkritik der Lyriker steht. Den Ichzerfall kann man als Krise definieren, die durch die Wahrnehmungsfülle im modernen Lebensraum Großstadt ausgelöst wurde. Das lyrische Ich äußert oft Gefühle der Ohnmacht, der Verlorenheit und der Auflösung des Ichs. Teilweise wird dies auch an körperlichen Verfallsprozessen dargestellt, wie in Gottfried Benns Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke, in Schöne Jugend oder in Georg Heyms Die Tote im Wasser. Einerseits wird die Ichdissoziation negativ beschrieben wie in Alfred Lichtensteins Punkt, andererseits wird sie in Gottfried Benns D-Zug oder in Kokain als lustvolle Ich-Entgrenzung erlebt, in der man der Rationalität entgeht.
Der Ichzerfall kann auch durch die Motive Wahnsinn, Selbstmord, Wasserleichen und die Morgue (Leichenschauhaus in Paris) zum Ausdruck gebracht werden, die mit der kulturpessimistischen Einstellung verbunden sind. Die Lyriker zeigten Sympathie mit sozialen Randgruppen, die wie sie nicht integriert waren. Sie wurden wegen ihrer Andersartigkeit teilweise als verrückt verachtet, weshalb sie sich gut mit dem Irren identifizieren konnten. Der Irre kommt oft in ihren Texten vor und stellt eine Kontrastfigur zum verhassten Bürger dar. Dieses Motiv enthält Gesellschafts- und Zivilisationskritik: Der Wahnsinnige zerschlägt die geltenden Normen und Werte, verneint die bürgerliche Vernunft und zeigt die Inhumanität der wilhelminischen Vorkriegsgesellschaft auf. Dem Irren wurde teilweise die Funktion zugewiesen, die Schwächen der Welt zu erkennen und eine neue zu verkünden. Er wird also auch mit der expressionistischen Idee der Wandlung zu einem neuen Menschen verbunden. Da ihm niemand glauben würde, wollte man verdeutlichen, dass seine Krankheit durch bestimmte gesellschaftliche Mängel ausgelöst wurde, wodurch der Irre zur Metapher der kranken Gesellschaft wurde. In Die Stadt von Alfred Lichtenstein verspotten die Bürger einen Irren, der in der Stadt nach Geborgenheit und Nähe ruft, nach Werten, die in der Gesellschaft fehlen, die dadurch als kalt und herzlos entlarvt wird. Der Wahnsinn kann auch eine soziale Verweigerung oder eine rauschhafte Erfahrung verdeutlichen, die im Alltag nicht (mehr) möglich ist.
Der Wahnsinn war nicht nur ein Thema, sondern wurde auch formal simuliert, um die Normen der bürgerlichen Kunst zu hinterfragen. Man versuchte ihn in bestimmten Stilmerkmalen wie dem Reihungsstil1 oder in der regellosen Sprache nachzuahmen. Mit dem Thema war also auch der Wandel von ästhetischen Wertvorstellungen verbunden. Der Wahnsinn kam auch der Vorliebe für das Groteske2 entgegen. Teils finden sich hier autobiographische Überschneidungen: Heym hatte Angst wahnsinnig zu werden, Jakob van Hoddis zeigte erste Anzeichen einer Schizophrenie und kam 1914 in die Heilanstalt, während der labile Georg Trakl unter schweren Depressionen litt, alkohol- und drogenabhängig wurde und sich das Leben nahm.
Der Titel kündigt bereits an, dass es um den Irrsinn in der Gesellschaft geht. Das Gedicht ist in Form eines Sonetts verfasst, das oft im Expressionismus vorkam. Heym verwendet in den beiden Quartetten und im ersten Terzett einen umarmenden Reim, wobei der mittlere Vers im Terzett keinen Reimpartner hat. Im zweiten Terzett haben wir einen unreinen Paarreim (Assonanz4), auf den ein reimloser Vers folgt. Der Paarreim reimt sich mit dem zweiten Vers des ersten Terzetts. Der reimlose Vers des zweiten Terzetts reimt sich mit den Versen, die im ersten Terzett einen umarmenden Reim bilden. Es liegt also ein Sonett3 mit unregelmäßiger Reimfolge vor. Das Metrum5 ist ein fünfhebiger Jambus mit männlichen und weiblichen Kadenzen6.
Anfangs tritt ein Mond hinter einer gelben Wolkenwand hervor. Hier findet sich eine leichte Personifikation7 des Mondes, der recht aktiv wirkt und sein kränkliches Licht auf ein Irrenhaus wirft. Durch die Farbe wird dem Leser klar, dass Heym die Natur nicht romantisch schildern möchte, weil sie in diesem Zusammenhang negative Assoziationen auslöst. Bei gelben Wolken denkt man an Gift, Verschmutzung und Abgase, wodurch Heym auch ein kritisches Licht auf die häufig kritisierte Großstadt und Industrialisierung werfen könnte. Expressionisten ironisierten und dämonisierten traditionelle lyrische Requisiten wie die idyllische Mondpoesie. Heym lässt sein Kriegsmonster in Der Krieg den Mond zerdrücken und Georg Trakls Sonne rollt in Grodek bedrohlich über den Himmel. Es handelt sich um Provokation und Spielerei, um gegen die bürgerliche Gefühlskultur aufzubegehren und um ihre Gefühle besser auszudrücken zu können.
Die Irren hängen „[w]ie große Spinnen“ (V. 3) an den Gitterstäben der Irrenanstalt. Die Spinne wird im Allgemeinen mit Ekel verbunden. Sie baut sich ein Netz und wartet auf ihre Beute. Genau so wirken die Irren: Sie hängen an den Gitterstäben wie die Spinne im Netz und lauern auf ihr Opfer oder auf die Gelegenheit zu entkommen. Durch den ekelhaften Vergleich werden die Menschen animalisiert und ihres Ichs beraubt. In dem vierten Vers heißt es, dass ihre Hand „[e]ntlang den Gartenzaun“ (V. 4) fährt. Der Gartenzaun steht metaphorisch für die Gitter der Anstalt, passt nicht in den Kontext und lässt den Leser aufhorchen. Man bekommt den Eindruck, dass die Wahnsinnigen die Möglichkeit haben zu entkommen, weil der Begriff ‚Gartenzaun‘ verharmlosend wirkt.
Die zweite Strophe kontrastiert mit der ersten. Das positive Bild eines Tanzabends verdeutlicht die Freiheit der Irren, die scheinbar über den „Gartenzaun“ entkommen sind. Sie werden in Form einer Metapher als Tänzer bezeichnet, die schweben bzw. tanzen. Sie wirken munter, froh und ausgelassen und die düstere Atmosphäre des Anfangs scheint vergessen zu sein. Der zweite Vers knüpft am Bild der Tänzer an und spricht vom „Ball der Irren“ (V. 6). Die Verwendung der Wörter wirkt in diesem Kontext ungewöhnlich und dadurch grotesk. Man hat den Eindruck, dass die Irren sich recht normal benehmen. Mit dem Wort ‚plötzlich‘ kündigt sich ein Wendepunkt an, der formal durch ein Enjambement8 unterstützt wird, das den Lesefluss beschleunigt. Der personifizierte Wahnsinn schreit auf. Heym verdeutlicht den Wahnsinn auch anhand der verfremdeten Sprache, indem er nicht schreibt „Das Brüllen pflanzt sich fort“, sondern „weit“ (V. 7). Das Bild der Normalität wird zerbrochen und das Animalische aus der ersten Strophe bricht wieder durch. Das Ausmaß des Ausbruchs stellt er hyperbolisch dar, indem „alle Mauern von dem Lärme beben“ (V. 8). Die Tier- und Gefangenenbildlichkeit herrscht nur in der ersten und letzten Strophe vor und wird in der Mitte aufgehoben, wo eine aktive destruktive Bildlichkeit vorherrscht.
Der Ausbruch schaukelt sich hoch, bis ein Irrer einen Arzt ermordet und damit eine Grenzüberschreitung begeht, die man auch als Form der Ich-Entgrenzung betrachten kann. Heym beschreibt den Tod in einem hässlichen Bild, das mit der fröhlichen Ballszene kontrastiert: „Er liegt im Blut. Sein Schädel ist zebrochen“ (V. 11). Das Verb ‚zerbrechen‘ verdinglicht den Arzt, wirkt verfremdend und schafft einen grotesken Eindruck. Im direkten Bild des Toten zeigt sich die Ästhetik des Hässlichen, die besser zur pessimistischen Haltung der Expressionisten passte als die traditionellen lyrischen Mittel.
Der Mord enthält mehrere Bedeutungen. Zunächst richtet sich der Ausbruch des Wahnsinns gegen die unmenschliche Gefangenschaft und die Rationalität, was man der Erwähnung des schottischen Philosophen David Hume (1711-1776) entnehmen kann. Ein vernünftiges Gespräch über ihn wird abgebrochen und der Schädel als Sitz des rationalen Denkens zerbrochen. Der Mord scheint also die Vernunft der Bürger in einem grotesken Bild zu verneinen.
Hume war ein Vertreter der so Gefühlsethik. Im traditionellen Menschenbild kommt der Vernunft die Aufgabe zu, Zwecke zu setzen und Entscheidungen zu treffen. Für Hume hat jedoch das Gefühl das letzte Wort, weil Ziele von Gefühlen bestimmt werden und die Vernunft nur einen Ratgeber darstellt. Die Irren könnten durch die Ermordung des Philosophen verdeutlichen, dass sich dessen Ausführungen in der von Vernunft geprägten Welt der Bürger niemals durchsetzen werden, wodurch kritisch die Erstarrung der Gesellschaft verdeutlicht werden könnte.
Heym könnte auch auf eine andere Feststellung Humes anspielen. Der Philosoph betrachtete das Wohlwollen bzw. die selbstlose Rücksichtnahme auf das allgemeine Wohlergehen der Gesellschaft als das höchste moralische Gut. Viele Expressionisten waren der Ansicht, dass das Wohlergehen des Einzelnen in der Massengesellschaft bedroht sei. In der Zeit herrschten harte Arbeitsbedingungen und alles Andersartige wurde von den Bürgern ignoriert und abgeschoben, statt dass man Rücksicht nahm. Demnach macht der Irre mit der Ermordung des Arztes auch deutlich, dass es keine Hoffnung auf eine Veränderung bzw. Verbesserung der Gesellschaft gibt, weil sie nicht dafür bereit ist und lieber mit der „Peitsche knallt“ (V. 13), wodurch die gesellschaftliche Härte und Kälte verdeutlicht wird.
Die Befreiung der Irren ist nicht von Dauer, sie fallen wieder in ihren anfänglichen Zustand und werden mit Mäusen verglichen, die weghuschen, weil „ fern die Peitsche knallt“ (V. 13). Mäuse lösen wie Spinnen Ekel aus. Darin zeigt sich die Ästhetik des Hässlichen oder die Tatsache, dass Wahnsinn allgemein zwischen Genialität und Grausamkeit schwankt.
Metaphern9 spielen im Expressionismus eine wesentliche Rolle. Sie schmücken nicht mehr bloß den Text, sondern erlangen eigenständigen Aussagewert. Die Zuordnung von Bild und Sprache ergibt sich nicht mehr über objektive Ähnlichkeit, sondern die Gefühlsbeziehung des Dichters zum Gegenstand. So kann der Abstand zwischen Bild und Sache sehr groß werden, wodurch man eine Metapher oft nicht versteht und sie sich wie in diesem Gedicht bis zur Chiffre10 steigern kann. Teilweise bleibt die genaue Bedeutung unklar. So kann die Farbsymbolik der gelben Wolkenwand nicht eindeutig geklärt werden und es bleibt bei Spekulationen. Gerade ein Leser, der sich nicht so sehr mit der Epoche des Expressionismus auskennt, wird verschiedene Anspielungen nicht verstehen.
Bei den Verrückten, Irrenanstalten und Wahnsinnzuständen handelt es sich meistens um Metaphern. Die Anstalt, die Wärter, die Ärzte und die Irren spiegeln nach dem Literaturwissenschaftler Thomas Anz häufig die zeitgenössische Wirklichkeit wider: Die Anstalt steht für die bürgerliche Welt, die der Expressionismus immer wieder als Gefängnis verbildlicht. Die Wärter und die Ärzte sind wie die Väterfiguren Autoritäts- und Aufpasserpersonen und der Irre verkörpert in diesem Zwangssystem die unterdrückte Individualität und Vielfalt des unangepassten Ichs.
Diese Bedeutungen kann man in etwa auch in Die Irren vorfinden. Die Ärzte stehen für die Vernunft und Autoritätspersonen des Bürgertums. Die Bürger werden durch das Wort ‚Peitsche‘ abgewertet und gehen sehr hart gegen die Unvernunft vor. Die Peitsche symbolisiert ihre Macht und möglicherweise einen Machtmissbrauch. Hier wird kritisch die Unmenschlichkeit und Härte der Gesellschaft expressiv verbildlicht. Das Bild des Wahnsinns könnte auch kritisieren, dass das Individuum in den neuen Menschenmassen, die sich in den aufstrebenden Ballungszentren finden verloren geht. Die Irrenanstalt könnte für das Bürgertum stehen, in dem sich die Irren als Individuen eingesperrt fühlen, es könnte auch einen Ort der gesellschaftlichen Verweigerung symbolisieren. Die Irren stehen für Andersdenkende und soziale Außenseiter. Heym beschreibt sie neutral, ohne Mitleid oder Sarkasmus. Andere Expressionisten ergreifen deutlicher Partei für sie und würden ihren Zustand empathisch als Ich-Entgrenzung feiern. In der Mitte des Textes findet eine Ich-Entgrenzung statt, die in der bürgerlichen Welt nicht möglich ist. Die Irren rebellieren als Kontrastfiguren zum Bürger gegen die Gefangenschaft in der zeitgenössischen Welt und gegen die bürgerliche Vernunft. Mehrere Expressionisten waren für einen Krieg oder eine Revolution, um die erstarrte, kranke Gesellschaft zu ändern. Heym könnte hier verdeutlichen, dass diese Maßnahmen nichts bringen würden. Einen Moment erheben sich die Irren wie in einer Revolte in dieser Welt, in der sie unter dem Diktat der Peitsche stehen. Doch dann huschen sie weg, was verdeutlichen könnte, dass die Zerstörung der Rationalität und all ihr Protest nichts geändert hat und eine Veränderung der Welt nicht möglich zu sein scheint, worin wie so oft im Expressionismus und besonders bei Heym Hoffnungslosigkeit ausgedrückt wird.
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