Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Kontextualisierung
Georg Heym gehörte zu einer Gruppe von Expressionisten, die es sich selbst zur Aufgabe machten, durch ihre Kunst, ob Literatur oder Malerei, den Menschen zu einem besseren Individuum umzuwandeln.
Umgesetzt hat Georg Heym dies mit der Schilderung einer Großstadterfahrung, die die Angst vieler Expressionisten vor dem Weltuntergang aufnahm und in lyrischer Form verarbeitete.
Diese Angst entstand, als der Mensch sich ungeheuren Mächten ohnmächtig gegenüber sah. Diese Mächte konnten mit Hilfe der Vernunft nicht mehr verstanden werden. Als Symbol dieser Mächte versteht man die rasante Entwicklung der Großstädte und der Technik allgemein. Innerhalb kürzester Zeit entstanden mit den Städten Ballungsräume für Millionen von Menschen. Und selbst der Begriff der Arbeit unterlag revolutionären Veränderungen. So verlor der Begriff der Arbeit selbst, mit dem vor dem 20. Jahrhundert noch gemeinhin „Mühe und Plage“, Anstrengung und Schmerz, verbunden war, seine Bedeutung. Dies geschah dadurch, dass die einzelnen Arbeitsprozesse technisiert und rationalisiert wurden. Namentlich mit dem System der Akkordarbeit.
Wichtigkeit hatten diese Fortschritte deswegen, weil nun Überschussproduktionen vermehrt möglich wurden. Es wurde nicht mehr produziert, um den täglichen Bedarf zu decken. Die Produktion ging über den täglichen Bedarf hinaus, bis hin zur Produktion eines Überschusses, der über das Leben selbst hinausging. Durch diese Veränderung der Produktionsverhältnisse veränderte sich die Denkweise vieler Menschen. Man bezwang im übergeordneten Sinne die eigene Endlichkeit. Die Dinge selbst sollten uns überdauern. Ungeachtet dessen, dass die Dinge selbst nur für ihre Zerstörung, d. h. für ihren Verbrauch produziert wurden.
Die Dinge nahmen damit einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert ein. So auch in der Großstadt selber. Die Menschen fühlten sich gleichermaßen beängstigt und eingeschüchtert durch Automobile, Eisenbahnen, Hochhäusern, Straßenbahnen und anderen neuen Entwicklungen.
Die angesprochene Veränderung des Menschen sah Georg Heym darin, ihm auf dem Weg zum „Übermenschen“, wie Nietzsche ihn nannte, weiter zu helfen. Das Über ist als „jenseits“ zu verstehen. Es ist ein Mensch, der es geschafft hat, sich selbst zu transzendieren. Sich jenseits der Menschen zu stellen, sich zu eine Art Gott zu machen. Erst dadurch, laut Nietzsche, war es möglich „Gott zu töten“. Die Transzendenz1 in ihrem eigentlichen Sinne wurde abgeschafft. Gott war „tot“. Der Mensch verlor eine wichtige Quelle des Trostes für das irdische Leben – die Religion.
Unter diesem Licht steht das Gedicht „Berlin VIII“. Georg Heym beschreibt die Stadt Berlin. Auf düsterer und bedrückender Weise schildert er seinen subjektiven Eindruck des Stadtbildes. Dieser Stil des Schilderns von subjektiv-erlebten Bildern ist typisch für die Epoche des Expressionismus, in der auch dieses Gedicht veröffentlicht wurde. Außerdem ist die Thematik des Gedichts, welche sich mit der Bedrückung und den angesprochenen Mächten, die nicht mehr mit Hilfe des Verstandes zu verstehen sind, typisch expressionistisch. Trotzdem gibt es in Georg Heyms Gedicht eine Besonderheit. Er probiert den Leser durch seine Art von Kunst zu erziehen und damit zu verbessern.
Analyse (Makrostruktur)
Das Gedicht hat die Form eines Sonetts. Sogar das Reimschema ist in klassischer Form beibehalten worden. Die beiden Quartette weisen einen umarmenden Reim und die Terzette einen übergreifenden Kreuzreim auf (ABBA, CDDC, EFE-FEF).
Durch alle vier Strophen setzt sich ein 5-hebiger Jambus, der in jedem Vers mit einer männlichen Kadenz3 endet. Diese Form steht im absoluten Kontrast zum Inhalt. Sie spiegelt normalerweise Harmonie und Ordnung wider. Der Inhalt selbst steht jedoch für Untergang und Tod.
So wird in der ersten Strophe - dem ersten Sinnabschnitt - noch von einer weit entfernten Perspektive die Stadt von oben und der Himmel selbst von einem lyrischen Sprecher beschrieben.
In der zweiten Strophe, die gleichzeitig zweite Kompositionseinheit ist, werden Bereiche am Rande der Stadt gezeigt; dort wo die Natur noch in rudimentäre Form vorhanden ist.
Dritte und vierte Strophe gehören, wie das Reimschema schon vermuten lässt, zusammen. Der lyrische Sprecher befindet sich nun auf einem Friedhof.
Die durch das ganze Gedicht gesteigerte düstere Atmosphäre steht nicht im Einklang zu der harmonischen Form. Es ließe sich interpretieren, dass diese alte klassische Form als alte Norm verstanden wurde, die auch nur eine Last für das ist, was man versucht zu sagen. So waren die Dichter des Expressionismus nicht selten gegen althergebrachte Traditionen und Normen.
Analyse (Mikrostruktur)
Das ganze Gedicht ist durchzogen von Wörtergruppen, die für eine düstere und dunkle Stimmung sorgen. Besonders auffällig ist die häufige Miteinbeziehung der Farbe Schwarz, sei es direkt durch „schwarze[n] Himmel[s]“ (V. 3) oder durch den Friedhof, der „schwarz“ (V. 9) hervorragt oder indirekt durch „Ruß“ (V. 13). Die Verben „schleppen“ (Vgl.: V. 7) und „ragen“ (Vgl.: V. 9) sind die einzigen, die für eine Bewegung stehen. Diese Bewegung ist jedoch sehr langsam – zusätzlich verstärkt durch das Adjektiv „mühsam“ vor „schleppt“ (V. 7).
Der Zeitpunkt für die Beobachtung ist mit: „Wintertag“ (V. 2) klar vorgegeben. Auch dies ist ein Indiz für die bedrückende Stimmung des Gedichts.
Der Himmel selbst wird als schwarz dargestellt („schwarzen Himmels“, V. 3), der eine Last für die Schornsteine der Stadt darstellt. Die Schornsteine werden personifiziert durch das Verb „tragen“ (vgl. V. 2). Die Sonne brennt „wie goldne Stufe“ (V. 4). Mit dem Stilmittel des Vergleichs wird ein eher neutrales Bild der Sonne beschrieben. Die Sonne scheint nicht oder bringt Helligkeit. Lediglich ihr „niedrer Saum“ (V. 4) brennt. Das Verb 'brennen' ist nicht als negativ zu interpretieren, da es nur innerhalb eines Vergleiches benutzt wird. Nichtsdestotrotz steht der vierte Vers durch die Farbe „golden“ (Vgl. V. 4) im Kontrast zu den schwarzen Bildern der Stadt.
Der einst für das Paradies stehende Himmel ist nun eine Last für die Stadt. Er ist dunkel und schwarz. Der Verlust der Transzendenz, angesprochene häufig benutzte Thematik der expressionistischen Dichter, bildet sich in dieser ersten Strophe ab.
In der zweiten Strophe befindet man sich dort, „wo die Weltstadt ebbt“ (V. 6). Fern von dem Zentrum der Stadt Berlin. Dort gibt es noch Überbleibsel des Prozesses der Verstädterung, die die Natur verdrängt und zerstört hat. Diese Überbleibsel sind nur noch „kahle[n] Bäume“ (V. 5). Die Atmosphäre wird weiter verdunkelt. Das Adjektiv „kahl“ (vgl.: V. 5) greift diese Thematik auf. Auch am Rande der Stadt, kann die Natur nicht wachsen.
Selbst der „Güterzug“ (V. 8) kann nur unter größter Anstrengung aus dem Zentrum der Großstadt entfliehen. Die Stadt wird selbst für ihre Erzeugnisse, in diesem Falle für die Eisenbahn zur Anstrengung. Sie ist wie ein großer, schwarzer Ballungsraum der Verzweiflung.
Der Zeilensprung kombiniert mit der Inversion4 in Zeile 8 und 9 macht selbst das Lesen des Gedichts beschwerlich und mühsam. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die Kumulierung der dumpfen Vokale „u“ und „ü“ in „mühsam“ (V. 7) und „Güterzug“ (V. 8). Die Langsamkeit und die Mühe werden dem Leser auf diese Weise nahe gebracht.
In Strophe drei und vier wechselt der lyrischer Sprecher aus seiner objektiven und distanzierten Beobachtung zu apokalyptischen Bildern, für die Georg Heym und viele expressionistische Dichter bekannt sind.
Der „Armenkirchhof ragt“ (V. 9) und wird auf diese Weise personifiziert. Auf diesem Friedhof steht „Stein an Stein“ (V. 9), d. h. in dieser Vision sind bereits viele Menschen gestorben. Die Alliteration5 verstärkt die düstere ‚Friedhofsstimmung’.
Im nächsten Vers wird zum ersten Mal das Thema Apokalypse direkt aufgegriffen: „Untergang“ (V. 10). Verbunden wird es mit der Farbe rot, die für den Kommunismus stehen könnte. Dieser Untergang wird von den Toten angeschaut und schmeckt wie „starker Wein“ (V. 11). Mit starkem Wein assoziiert man zumindest einen nicht sehr angenehmen Geschmack. Viel wichtiger ist, dass anscheinend nur die Toten diesen „roten Untergang“ (V. 10) sehen können. Indirekt kritisiert Georg Heym die lebenden Menschen, und warnt vor der kommenden Apokalypse, die in Form eines Weltkrieges stattfinden könnte. Unüblich ist außerdem das Verb „schauen“ (Vgl.: V. 10) an dieser Stelle. Nicht nur, dass die Toten zum Leben erweckt werden – man schaut nicht etwas. Viel eher sieht man es. Demzufolge elliptisch ist dieser Satz aufgebaut.
Es fehlt zumindest die Vorsilbe: „zu“, welche die Dativform des nächsten Artikels bedingen würde. An dieser Stelle wurde „schaun“ (V. 10) benutzt, um das Bild der Toten noch weiter zu verfremden.
Im nächsten Vers sollen diese, die Toten, „strickend an der Wand entlang“ (V. 12) sitzen. Die Verfremdung wurde erneut verstärkt. Ihre Schädel sind mit Ruß bedeckt und das „Schläfenbein“ (V. 13) nackt. Die Satzstruktur ist im 13. Vers vollends durcheinander geraten, höchstwahrscheinlich um den Leser weiter zu verwirren und betroffen zu machen.
Eine letzte Komponente kommt im letzten Vers dazu. Es ertönt die Marseillaise, eine Revolutionshymne.
Das Bild wird nach dem „roten Untergang“ in Vers 10 noch weiter politisiert. Diese Interpretation wird verstärkt durch die mit Ruß bedeckten Mützen. Bekannt sind die roten Mützen der Jakobiner. Die Farbe erkennt man auf Grund des Rußes nun jedoch nicht mehr. So wurde der französische Zusammenhang bereits durch die Marseillaise geschaffen. Demnach sind die Toten vielleicht Revoluzzer. Georg Heym deutet an, welche Veränderungen er verlangt oder gutheißt. Denn durch das Bild des Friedhofs erinnert er an diesen alten Kampf, und daran, dass der Untergang bevorsteht. Vielleicht müsse man sich also den Revoluzzern anschließen, um die Apokalypse zu erkennen und bekämpfen zu können.
Interpretation und Synthese (Ergebnis)
Dieses Gedicht ist ein direkter Aufruf und eine Warnung an die Menschen. Georg Heym sah schon früh voraus, dass ein Krieg bevorstand. Die Entfremdung des Menschen, welche sich vornehmlich in den Großstädten abspielte, war für ihn Grund genug, den Untergang zu prophezeien. Stadt und Himmel passen nicht zueinander. Der schwarze Himmel ist eine Last für die Stadt. Interpretiert werden könnte es als eine Überflüssigkeit der Religion für die Städter oder als der Verlust der Transzendenz im Allgemeinen. Des Weiteren zeigt er die Entfremdung der Natur anhand seiner zweiten Strophe auf. Die Großstadt verdrängt die Natur und alles Natürliche aus ihrem Gebiet. Er zeigt typisch expressionistische Thematik auf, um den Menschen zu warnen. Die Besonderheit an diesem Gedicht ist sein erzieherischer Charakter. Der lyrische Sprecher gibt klare Anhaltspunkte, wie sich der Leser orientieren sollte. Die Revolution scheint der einzige Ausweg zu sein. Doch die nähere politische Richtung wird nicht näher genannt. Georg Heym wollte dem Menschen auf diese Weise helfen. Durch seine Kunst, nicht durch die Schaffung eines politischen Weges. Trotzdem gibt es für ihn nur die unausweichliche Folge: den Untergang, falls es so weiter geht wie bisher. Entfremdung der Natur und das Verlieren des Glaubens stehen in diesem Gedicht für die Faktoren dieses Untergangs. Inwieweit dieser politisch orientiert ist, muss der Leser für sich selbst entscheiden.