Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Das "Wiegenlied" (1843) von Georg Herwegh kann als Parodie von Goethes "Nachtgesang" verstanden werden. Wie gezeigt werden wird, nimmt Herwegh zentrale Merkmale Goethes Gedicht auf, verkehrt aber dabei die Intention und den Sinn des Gesagten.
Georgh Herwegh war ein "Dichter des Proletariats". Er gilt neben Georg Weerth als einer der bedeutendsten Dichter im 19. Jahrhundert, der um politische Ziele gekämpft hat.
Nicht nur der letzte Vers der Strophen Goethes wird von Herwegh übernommen, er stellt diese auch noch an den Anfang des Gedichts, um sie zu betonen. Wie bei Goethe ist das Wiegenlied von Herwegh durchgehend im Kreuzreim geschrieben. Die dreihebigen Verse bilden zu viert jeweils eine der 6 Strophen (im Nachtgesang nur 5 Strophen).
Der Dichter und Sozialist Herwegh benutzt Goethes Vorgabe, die im übrigen schon oft parodiert worden ist, um seine eigenen Botschaften weiterzugeben. Sein sich am Ende jeder Strophe befindende Vers: "Schlafe, was willst du mehr?" ist in sein Gegenteil umgekehrt. Herwegh versucht mit dem klaren Gegensatz zwischen dem Inhalt des Gedichtes und der Aufforderung den Leser zu verstören. Dieses Stilmittel kann weitläufig als Ironie bezeichnet werden. Durch das Stilmittel der Ironie bringt man jemanden zum Staunen. Das Ironische verblüfft durch seine Übertreibung oder durch die Darstellung von sich direkt Auschließendem.
In Strophe 1 heißt es beispielsweise in den ersten Versen: "Mach dir den Kopf nicht schwer/ In irdischem Gewühle/ Schlafe, was willst du mehr?" (V. 2-4). Angesprochen vom lyrischen Ich des Gedichts ist Deutschland (V.1). Die Deutschen sollen schlafen, aber die Situation wird beschrieben als "irdisches Gewühl". Während es also auf der Erde chaotisch zugeht, sollen sich die Deutschen den Kopf nicht schwer machen. Sie sollen sich keine Sorgen machen, nicht nachdenken, sie sollen schlafen, denn "was will man mehr?".
Diese rhetorische Frage ist der Kern der ironischen Aussage. Was sollen die Deutschen mehr wollen als schlafen? Natürlich für die Freiheit des Deutschen Landes einstehen! Ihren Kopf benutzen, die Verhältnisse verändern! Gerade darum geht es in der zweiten Strophe "Lass jede Freiheit dir rauben," (V. 6), das betont der Dichter, gerade um zu sagen, dass man doch aufwachen solle und, wie die Sozialisten im 19. Jahrhundert, um die Freiheit kämpfen soll!
In dieser Strophe kommt es auch zu einem Seitenhieb auf den christlichen Glauben: "Du behälst ja den christlichen Glauben" (V. 8). Hier nimmt Herwegh bezug auf die Heilslehre der christlichen Theologie. Bis spät ins 17 Jahrhundert besaß die christliche Religion noch einen großen Einfluss in Deutschland und in ganz Europa. Das Christentum ist eine Religion, die den Menschen mit einem Leben nach dem Tod vertröstet und ihm somit die Lasten des Diesseits zu erklären versucht. Es gibt ein Heilsversprechen, ein Paradies in das man kommt, wenn man die Gebote Gottes befolgt. Und auf dieses Heilsversprechen, was in einer bösen Interpretation (aber für den Sozialismus üblichen Religionskritik) den Menschen zum Nichtstun bewegen könnte, nimmt Herwegh bezug.
Die dritte Strophe nimmt Bezug auf den Urheber des Originalgedichts Johann Wolfgang Goethe, der 9 Jahre zuvor verstorben ist. Außerdem wird Schiller genannt - mit beiden sollen die Deutschen vertröstet werden, auch wenn ihnen alles verboten wird (Vgl. V. 9-11). Doch wenn man nur schläft und nicht für seine Freiheiten kämpft, dann kann es auch nie einen neuen Schiller oder Goethe geben. Jede dieser Strophen ist durchweg ironisch zu verstehen. Die 5. Strophe nimmt Bezug auf die aktuell angespannte politische Lage in Deutschland. Die verschiedenen Meinungen prallen aneinander, es gibt heiße Wortgefechte auf der Straße, doch das angesprochene Deutschland "erfährt täglich vom Wetter, [...], was will es mehr?" (V. 19-20). Interessanterweise galt schon damals die Frage nach dem Wetter als eine Frage nach Unwesentlichem und wurde als geläufiges Wort benutzt für jemanden, der über nichts Interessantes sprechen kann.
Entscheidend, um die Intention Herweghs zu verstehen, ist die letzte Strophe. In ihr nennt das lyrische Ich Deutschland nochmal beim Namen: "Mein Deutschland, mein Dornröschen". Ein starker Bezug vom Sprecher zu Deutschland wird deutlich. Eigentlich liegt ihm wohl doch etwas am Wohl dieses Landes. Er bezeichnet es zusätzlich als Dornröschen. Eine Märchenfigur, die eigentlich schon schläft, die nur wachgeküsst werden muss. Und um dieses Wachküssen geht es Georg Herwegh. Deutschland muss wachgeküsst werden! Dieses Gedicht soll den Leser verblüffen, ihn zum Nachdenken bewegen. Er soll für seine Freiheit kämpfen, sich zur Wehr setzen und für seine Meinung eintreten. Das wesentliche Stilmittel, um dieses Ziel zu erreichen ist die Ironie. Herwegh parodisiert Goethes sehr bekanntes Gedicht, um seinen politischen Interessen Ausdruck zu verleihen. Eigentlich sagt Herwegh: Deutschland wach auf! Du willst mehr als nur schlafen. Du bist ein Dornröschen, das wachgeküsst werden muss. Du besitzt Qualitäten, doch man muss für diese kämpfen.
Man kann sagen, dass es Herwegh weniger um die Schönheit dieses Gedichtes ging, weniger um die Kunst an sich und dafür mehr um ein Wachrütteln seiner Zeitgenossen. Nur 6 Jahre später kam es 1848 zur Revolution in Deutschland. Herwegh spiegelt mit diesem Gedicht den politischen Geist in der Mitte des 19. Jahrhunderts wieder. Nicht umsonst gilt er als einer der wichtigsten Dichter des Proletariats.