Inhaltsangabe, Analyse und Interpretation
Mit dem Schlagwort „Junges Deutschland“ wird eine kleine Gruppe deutscher Autoren zusammengefasst, deren Kontakt zueinander, als sehr locker bezeichnet werden kann. Gemeinsam aber ist ihnen die politische Haltung, welche sie in ihren Werken und Gedichten zum Ausdruck bringen. Ihre Schriften, in denen sie vor allem den absolutistischen Staat ablehnen, die Überwindung moralischer Konventionen und mehr Rechte fordern, aber auch auf soziale Gerechtigkeit pochen, wurden verboten. Ihr Ziel war die kritische Reflexion der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit. Trotz ihres Bemühens blieben ihre Schriften weitestgehend bedeutungslos.
Zur politischen Lyrik des revolutionären Vormärz kann das vorliegende Gedicht „Aufruf“ von Georg Herwegh gezählt werden, das nun auf Form, Inhalt und Sprache untersucht werden soll.
Das Gedicht ist nach den charakteristischen Merkmalen der politischen Lyrik aufgebaut. Hierbei ist die einheitliche und klare Gliederung des Gedichts in 7 Strophen à 6 Verse zu nennen, wobei der Autor auf eine einheitliche Länge der Verse achtet. Außerdem fällt der vorwärtsgehende Rhythmus des Gedichts auf. Durch die Abwechslung von betonten und unbetonten Silben entsteht ein dem Lesefluss zuträgliches Tempo. Auch der Einsatz der Kadenz1 (w-w-m-w-w-m) trägt zur für die politische Lyrik typischen Rhythmisierung bei. Dennoch hat Herwegh kleine Stolperfallen eingebaut: Enjambements2 in den Versen 8/9, 11/12, 28ff, 32/33, 34ff. An diesen Stellen merkt der Leser auf und liest die Stelle eventuell zum besseren Verständnis noch ein zweites Mal, so dass die Aussage der Textstelle genauer analysiert wird. Der Autor setzt zudem durchgängig einen 4-hebigen Trochäus ein, wobei er jeweils in der dritten und sechsten Verszeile einer Strophe betont endet. Der Trochäus wirkt wegen seiner ersten betonten Silbe etwas aggressiver und härter, was der Intention des Autors durchaus zuträglich ist. Außerdem vermittelt der immer gleiche Versfuß ein Gefühl von Einfachheit und damit auch von Einprägsamkeit. Im Endreimschema zeigt der Autor sich kreativer, denn er verbindet einen Paarreim („Erden – werden“ V1/2) mit einem umarmenden Reim („gewahrt – untergehen – Auferstehen – Höllenfahrt“ V9ff). Durch seine gleichmäßigen Reimschemata ist das Gedicht leichter verständlich. Zudem werden hauptsächlich reine Reime verwendet.
Der Inhalt des Gedichts lässt sich leicht zusammenfassen: Aufruf zur Revolution! In der ersten Strophe fordert das lyrische Ich das deutsche Volk zu einem gewaltsamen Aufstand auf. Gleichzeitig kritisiert er die Einstellung vieler Schriftsteller die mit bloßem „Verseschweißen“ (V4) etwas an den gesellschaftlichen Zuständen der Zeit zu verändern suchen. Außerdem gibt er den Menschen zu verstehen, dass der Kampf um die deutsche Freiheit einer „Höllenfahrt“ (V12) gleichkommt (Strophe 2). In der dritten Strophe wendet sich das lyrische Ich direkt an die Deutschen und macht ihnen klar, dass eine gewaltsame Auseinandersetzung unausweichlich ist, um die Zukunft zu beeinflussen. Des Weiteren wird betont, dass Gott dieser Freiheitsschlacht seinen Segen erteilen wird, angesichts der Entschlossenheit des Volkes (Strophe 4). Die Strophen 5 und 6 zeigen deutlich welch negative Folgen das Fehlen der Freiheit auf das Leben der Menschen haben wird bis endlich das Ziel erreicht ist. Abschließend erfolgt noch einmal der Aufruf zum Kampf gegen die Unterdrückung durch absolutistische Herrscher und die Bequemlichkeit der Menschen.
Seinen Aufruf zu Revolution unterstreicht Herwegh mit einer Vielzahl an rhetorischen und sprachlichen Mitteln. Auffällig ist der Kontrast von Glaube und Krieg der im Gedicht vorherrscht. Das Wortfeld rund um den Krieg („Tod“ V16, „Schwerter“ V2, „Trauern“ V31, „blutend“ V18, „Sold“ V16, „Höllenfahrt“ V12) malt ein düsteres Bild, unterstützt durch die lautmalerischen Verben wie klirren und brausen. Ihm gegenüber stehen eine Vielzahl an Nomen, die für den Glaube stehen: „Auferstehen“ (V11), „Gott“, „Himmel“ (V21), „heilig“ (V23). Herwegh verbindet nun diese zwei Bereiche geschickt miteinander, in dem er behauptet Gott hätte seinen „Segen“ (V24) dazu gegeben. Außerdem wird das Kreuz - ein Symbol für den Glauben - nachdem man es aus dem Boden gerissen hat, zu einem Schwert umfunktioniert. Diese gewaltsame Revolution ist also von Gott legitimiert.
Durch das Benutzen von aktiven und lautmalerischen Verben erzeugt der Autor eine bedrohliche Atmosphäre, die den Adeligen durchaus angst eingejagt haben muss. Er beschwört durch sie eine geladene, spannungsreiche Stimmung herauf. Zum Einen geschieht dies durch die aktiven Verben „reißen“ (V1) und „schwingen“ (V33) und zum Anderen durch die akustischen Eindrücke („brausen“ V22, „klirren“ V15, „donnern“ V35, „knirschen“ V36). Diese Tätigkeitswörter machen die intensive Vorbereitung auf den Kampf um die Freiheit deutlich, die das Volk vollzieht. Zudem ahmen die akustischen Verben die Geräusche aufeinander prallender Schwerter in einer Schlacht nach (vgl. V15).
Einige Metaphern3, die die Aussage des Texts unterstreichen sind ebenfalls zu entdecken. Mit „schwarzer Tod ist unser Sold“ (V16) beschreibt Herwegh eindringlich die Gefahr, die der Kampf um die Freiheit für das deutsche Volk bedeutet. Der Einsatz ist das Leben selbst. Doch was für ein Leben führt der Deutsche, wenn sein Gold nur ein „Abendgold“ (V17) ist, seine Freiheit nur eine Scheinfreiheit. Die momentane Freiheit des Deutschen ist lediglich ein goldenes Schimmern am Ende des Horizonts, das in wenigen Minuten verblasst. Deswegen soll das Volk zu den Kreuzen greifen, die sich zweckentfremdet als Schwerter erweisen (vgl. V1). Denn um den Lauf der Geschichte zu beeinflussen ist es wichtig aus den Fehlern der Verstorbenen, der Vergangenheit zu lernen.
Besonders wichtig sind die teils versteckten Attribute des Deutschseins. Sie werden geschickt vom Autor eingesetzt, um die Einheit der Deutschen, die für eine solche Revolution wichtig ist, zu betonen. Leicht zu erkennen ist die Anrede „Deutsche“ (V13), die den Lesern in Erinnerung ruft, dass sie selbst gemeint sind. Des Weiteren wird die deutsche Eiche erwähnt (V7), die als Symbol für die Ewigkeit gilt und seit dem 18. Jahrhundert ein typischer deutscher Wappenbaum ist. Herwegh versucht die Menschen an ihren Nationalstolz zu erinnern, den sie vergessen zu haben scheinen. Aber vor allem an das oberste Ziel dieser Zeit: die Gründung eines deutschen Einheitsstaates, der zu dieser Zeit noch ein Fleckenteppich war. Natürlich darf auch die deutsche Fahne nicht fehlen, deren Farben auch in diesem Gedicht bei genauerem hinsehen zu entdecken sind: „schwarz“ (V16), „rot“ (V18), „gold“ (V17). Die Fahne (vgl. V33) ist also das Symbol für den angestrebten deutschen Einheitsstaat.
Die Frage, wen Herwegh hier ansprechen wollte, lässt sich klären, wenn man das Organonmodell von Karl Bühler heranzieht. Demnach ist das lyrische Ich der Sender der Botschaft. Es gehört ebenfalls zum deutschen Volk, wie das Possessivpronomen „unser“ (vgl. Strophe 3) und das Personalpronomen4 „wir“ (V42) zeigen. Das Volk, der Empfänger der Nachricht, soll sich zur Revolution rüsten und gegen die „Tyrannen und Philister“ (V40) kämpfen. Die Menschen brauchen allerdings einen Anstoß, wie es scheint, um aus ihrer Bequemlichkeit und Lethargie herauszufinden, weswegen ihnen die bevorstehende negative Zukunft aufgezeigt wird. Dass das Gedicht ein Appell an die Deutschen sein soll, machen nicht nur die Überschrift und die Verwendung des Imperativs deutlich, sondern auch der Einsatz der Ausrufezeichen.
An dem vorliegenden Gedicht lassen sich literaturgeschichtliche und historische Bezüge erkennen. Die Aufarbeitung eines politischen Stoffs wie hier der Revolutionsgedanke ist typisch für die Strömung des Vormärz. Die aufbegehrenden Autoren dieser Zeit lehnten den absolutistischen Staat („Gen Tyrannen“ V40) ab und forderten stattdessen eine Demokratie. Man sehnte sich nach einem einheitlichen Nationalstaat mit mehr Rechten, wie z. B. Presse- und Meinungsfreiheit, die 1819 mit den Karlsbader Beschlüssen eingeschränkt worden waren. Auch Herwegh wünscht sich eine deutsche Einheit mit einer eigenen Fahne (vgl. „schwingt die Fahnen in das Land“ V33), die die Zusammengehörigkeit aufzeigt. Überwunden werden sollten überkommene moralische Verhaltensweisen, wie die der Philister, die die Wirklichkeit verträumten. Überhaupt wurden Romantik und Biedermeier abgelehnt, da sie allein durch „Verseschweißen“ (V4) in den Augen der revolutionär gesinnten Autoren nichts bewirken konnten. Die Welt zu romantisieren oder sich gar ganz aus dem politischen Tagesgeschehen auszuklinken und sich in die häusliche Idylle zurück zu ziehen, erschien ihnen als der falsche Weg. 1848 kam es dann zur ersehnten Märzrevolution und zur ersten Verfassung des Deutschen Reichs. Allerdings scheiterte die Revolution und mit ihr die Paulskirchenverfassung.