Ballade: Kassandra (1802)
Autor/in: Friedrich SchillerEpoche: Weimarer Klassik
Strophen: 16, Verse: 128
Verse pro Strophe: 1-8, 2-8, 3-8, 4-8, 5-8, 6-8, 7-8, 8-8, 9-8, 10-8, 11-8, 12-8, 13-8, 14-8, 15-8, 16-8
Freude war in Trojas Hallen, | ||
Eh die hohe Feste fiel; | ||
Jubelhymnen hört man schallen | ||
In der Saiten goldnes Spiel; | ||
Alle Hände ruhen müde | ||
Von dem thränenvollen Streit, | ||
Weil der herrliche Pelide | ||
Priams schöne Tochter freit. | ||
Und geschmückt mit Lorberreisern, | ||
Festlich wallet Schaar auf Schaar | ||
Nach der Götter heil'gen Häusern, | ||
Zu des Thymbriers Altar. | ||
Dumpf erbrausend durch die Gassen | ||
Wälzt sich die bacchant'sche Lust, | ||
Und in ihrem Schmerz verlassen | ||
War nur eine traur'ge Brust. | ||
Freudlos in der Freude Fülle, | ||
Ungesellig und allein, | ||
Wandelte Kassandra stille | ||
In Apollos Lorbeerhain. | ||
In des Waldes tiefste Gründe | ||
Flüchtete die Seherin, | ||
Und sie warf die Priesterbinde | ||
Zu der Erde zürnend hin: | ||
Alles ist der Freude offen, | ||
Alle Herzen sind beglückt, | ||
Und die alten Eltern hoffen, | ||
Und die Schwester steht geschmückt. | ||
Ich allein muß einsam trauern, | ||
Denn mich flieht der süße Wahn, | ||
Und geflügelt diesen Mauern | ||
Seh' ich das Verderben an. | ||
Eine Fackel seh' ich glühen, | ||
Aber nicht in Hymens Hand; | ||
Nach den Wolken seh' ich ziehen, | ||
Aber nicht wie Opferbrand. | ||
Feste seh' ich froh bereiten, | ||
Doch im ahnungsvollen Geist | ||
Hör' ich schon des Gottes Schreiten, | ||
Der sie jammervoll zerreißt. | ||
Und sie schelten meine Klagen, | ||
Und sie höhnen meinen Schmerz. | ||
Einsam in die Wüste tragen | ||
Muß ich mein gequältes Herz, | ||
Von den Glücklichen gemieden | ||
Und den Fröhlichen ein Spott! | ||
Schweres hast du mir beschieden, | ||
Pythischer, du arger Gott! | ||
Dein Orakel zu verkünden, | ||
Warum warfest du mich hin | ||
In die Stadt der ewig Blinden | ||
Mit dem aufgeschloßnen Sinn? | ||
Warum gabst du mir zu sehen, | ||
Was ich doch nicht wenden kann? | ||
Das Verhängte muß geschehen, | ||
Das Gefürchtete muß nahn. | ||
Frommt's, den Schleier aufzuheben, | ||
Wo das nahe Schreckniß droht? | ||
Nur der Irrthum ist das Leben, | ||
Und das Wissen ist der Tod. | ||
Nimm, o nimm die traur'ge Klarheit, | ||
Mir vom Aug den blut'gen Schein! | ||
Schrecklich ist es, deiner Wahrheit | ||
Sterbliches Gefäß zu sein. | ||
Meine Blindheit gib mir wieder | ||
Und den fröhlich dunklen Sinn! | ||
Nimmer sang ich freud'ge Lieder, | ||
Seit ich deine Stimme bin. | ||
Zukunft hast du mir gegeben, | ||
Doch du nahmst den Augenblick, | ||
Nahmst der Stunde fröhlich Leben - | ||
Nimm dein falsch Geschenk zurück! | ||
Nimmer mit dem Schmuck der Bräute, | ||
Kränzt' ich mir das duft'ge Haar, | ||
Seit ich deinem Dienst mich weihte | ||
An dem traurigen Altar. | ||
Meine Jugend war nur Weinen, | ||
Und ich kannte nur den Schmerz, | ||
Jede herbe Noth der Meinen | ||
Schlug an mein empfindend Herz. | ||
Fröhlich seh' ich die Gespielen, | ||
Alles um mich lebt und liebt | ||
In der Jugend Lustgefühlen, | ||
Mir nur ist das Herz getrübt. | ||
Mir erscheint der Lenz vergebens, | ||
Der die Erde festlich schmückt; | ||
Wer erfreute sich des Lebens, | ||
Der in seine Tiefen blickt! | ||
Selig preis' ich Polyxenen | ||
In des Herzens trunknem Wahn, | ||
Denn den Besten der Hellenen | ||
Hofft sie bräutlich zu umfahn. | ||
Stolz ist ihre Brust gehoben, | ||
Ihre Wonne faßt sie kaum, | ||
Nicht euch, Himmlische dort oben, | ||
Neidet sie in ihrem Traum. | ||
Und auch ich hab' ihn gesehen, | ||
Den das Herz verlangend wählt! | ||
Seine schönen Blicke flehen, | ||
Von der Liebe Gluth beseelt. | ||
Gerne möcht' ich mit dem Gatten | ||
In die heim'sche Wohnung ziehn; | ||
Doch es tritt ein styg'scher Schatten | ||
Nächtlich zwischen mich und ihn. | ||
Ihre bleichen Larven alle | ||
Sendet mir Proserpina; | ||
Wo ich wandre, wo ich walle, | ||
Stehen mir die Geister da. | ||
In der Jugend frohe Spiele | ||
Drängen sie sich grausend ein, | ||
Ein entsetzliches Gewühle! | ||
Nimmer kann ich fröhlich sein. | ||
Und den Mordstahl seh' ich blinken | ||
Und das Mörderauge glühn; | ||
Nicht zur Rechten, nicht zur Linken | ||
Kann ich vor dem Schreckniß fliehn; | ||
Nicht die Blicke darf ich wenden, | ||
Wissend, schauend, unverwandt | ||
Muß ich mein Geschick vollenden | ||
Fallend in dem fremden Land - | ||
Und noch hallen ihre Worte - | ||
Horch! da dringt verworrner Ton | ||
Fernher aus des Tempels Pforte, | ||
Todt lag Thetis' großer Sohn! | ||
Eris schüttelt ihre Schlangen, | ||
Alle Götter fliehn davon, | ||
Und des Donners Wolken hangen | ||
Schwer herab auf Ilion. |