Inhaltsangabe, Gedicht-Analyse und Interpretation
Die beiden Gedichte „Genius“ und „Natur und Kunst“ stammen aus verschiedenen, zeitlich nicht allzu weit entfernten, Epochen Sturm und Drang und Klassik. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg verfasste das Gedicht „Genius“ im Jahr 1773. Somit fällt dieses in die Epoche des Sturm und Drang. Das lyrische Ich befasst sich hierbei mit den Auswirkungen der Natur auf den Einzelnen. Eine Besonderheit des Sturm und Drang bestand darin, Gefühle darzustellen und sie somit für andere nachempfindbar zu gestalten. Ein Beispiel für ein solches Werk ist „Die Leiden des jungen Werthers“, welches von Goethe verfasst wurde. Nachdem dieser eine Italienreise im Jahr 1786 unternahm, begann eine neue literarische Epoche, die Klassik, welche bis zum Todesjahr Johann Wolfgang von Goethes 1832 dauerte. Die Motive der Antike wurden während dieser Epoche besonders aufgegriffen. Ebenfalls kam das eigentlich für den Barock bekannte Sonett1 wieder vor. So bei „Natur und Kunst“, verfasst von Goethe im Jahr 1800. Das lyrische Ich stellt hierbei die Verbundenheit von ausgeführter Beschränkung und daraus resultierender individueller Freiheit dar.
Stolbergs „Genius“ hat fünf Strophen mit jeweils vier Versen. Es ist kein festes Reimschema erkennbar. Gegenüberstellend dazu liegt bei Goethes „Natur und Kunst“ ein Sonett vor, was insgesamt auf vier Strophen mit zwei Quartetten in Strophe eins und zwei und zwei Terzetten in Strophe drei und vier schließen lässt. Ebenfalls ist im überwiegend im Jambus geschriebenen Gedicht ein klares Reimschema erkennbar. Die Quartette sind im umarmenden Reim verfasst und die Terzette reimen sich untereinander. Beide Gedichte beinhalten verhältnismäßig viele Enjambements2, was einen Hakenstil3 zur Folge hat.
In beiden Gedichten nimmt der Dichter die Rolle des lyrischen Ichs ein. Die Intentionen jedoch unterscheiden sich drastisch. In „Genius“ ist es die Aufgabe des lyrischen Ichs, Gefühle zum Ausdruck zu bringen und verschiedene Situationen nachempfindbar darzustellen. Hierfür werden viele rhetorische Mittel verwendet, welche sehr intensiv sind. Die Metapher4 „Durst nach Unsterblichkeit“ (V. 6) stellt den Antrieb des lyrischen Ichs dar. Dieser Antrieb ist durch die Natur veranlasst, in welcher sich Gott spiegelt. So heißt es in Zeile 5: „Du gabst, Natur, ihm Flug und den Sonnendurst“. Die Natur wird als aktiver Mitspieler im Leben eines Individuums angesehen, was durch die Rückblenden im Präteritum in der zweiten und vierten Strophe verdeutlicht wird. „Du gabst…“ (V. 5), zeigt dieses. Die anderen im Präsens geschriebenen Strophen stellen die Auswirkungen und die Veränderungen genauer dar, die durch die Natur hervorgerufen wurden. Die Genieintention des Künstlers und die unendliche „Urkraft“ (V. 3) werden deutlich. Ebenso der Drang nach etwas Neuem und die Unerschrockenheit durch die eigene, mächtige Kraft.
Verben wie „senken, heben, umschweben“ (V. 4,10), lassen die Bewegungen deutlicher werden. Ausrufe und Emphasen stellen ebenso die Begeisterung und das Aufleben dar. Auch das Symbol des Vogels, dargestellt durch einen „Adler schon voll seiner Urkraft“ (V. 2f.) zeigt ebenfalls die Bewegung und die Möglichkeit des eigentlich Unmöglichen.
Bei „Natur und Kunst“ hingegen ist der Dichter eher ein Arbeiter in seinem Arbeitsprozess. Das Sonett soll in erster Linie einen didaktischen Wert haben. Es ist durchgängig im Präsens geschrieben, um nur die jetzige Situation des lyrischen Ichs aufzuzeigen und jetzige Gedanken zu formulieren. Die These des Gedichts findet man in der ersten Strophe. Diese stellt den Zusammenhang zwischen Natur und Kunst, zwischen Sturm und Drang und Klassik dar. Die darauf folgende Antithese5 beschreibt jedoch, dass die Freiheit in Form von der Natur auf der Kunst fußt und dass beide Dinge nicht verbunden miteinander, sondern abhängig voneinander sind. Die Synthese zeigt, dass alles bedingt voneinander ist und dass man sich an bestimmte Normen halten sollte, um letztendlich seine individuelle Freiheit zu erlangen. Ebenso, dass jede Anstrengung belohnt wird, sobald man sich an bestimmte Regeln hält, was auch die maßvolle Gestaltung genannt wird. Im Text „Genius“ wird der „Durst nach Unsterblichkeit“ (V. 6) dargestellt, also das Streben nach Unendlichkeit, was auch für das Genie als machbar erscheint, da nichts unmöglich ist. „Natur und Kunst“ stellt den Zusammenhang zwischen „Geist und Fleiß“ (V. 7) zwar dar, aber sei es „an die Kunst gebunden“ (V. 7), was eine Einschränkung zeigt und nicht den Unendlichkeitsgedanken von „Genius“ unterstützt. Beide lyrischen Ichs sind darauf bedacht, ein individuelles Leben nach ihren jeweiligen Vorstellungen zu führen. Das Verhältnis vom Künstler zur Natur unterscheidet sich ebenfalls. Bei „Genius“ ist die Natur nur ein Mittel, in welchem sich Gott widerspiegelt. Die Natur und somit auch Gott ermöglichen dem lyrischen Ich eine neue Ansicht von der Welt. Durch das aktive Eingreifen der Natur in das Leben des lyrischen Ichs ermöglicht die Natur ein neues Entdecken und eine Unerschrockenheit, nämlich, dass weder der Olymp, noch der Ozean, noch die Sternenbahn (vgl. V. 18-20) eine Herausforderung für das lyrische Ich darstellen. Genanntes ist nicht mehr hoch, tief, nicht dunkel. Das subjektive Erleben wird deutlich stärker und das lyrische Ich immer machtvoller. Der Geniegedanke ermöglicht zu etwas Neuem zu werden, keiner Regeln mehr zu gehorchen und nur die Individualität auszuleben und dies, „ohne den geistigen Fluss zu hemmen“ (V. 12). Die Personifizierung „trinkt die Sonne“ (V. 4) stellt die Abhängigkeit von der Unendlichkeit dar und der Neologismus6 „Sonnendurst“ (V. 5) unterstützt den Geniegedanken. Es wurde ebenfalls Bezug zur Kunst genommen nämlich, dass das Auge der Kunst nicht ermöglicht neue Höhen zu finden, so wie es die Natur tut (vgl. V. 15f.). Somit wird eine Beschränkung der Kunst dargestellt. Bei „Natur und Kunst“ jedoch ist dies nicht vorhanden. Es wird gesagt, dass die Natur zuerst einmal auf der Bindung zur Kunst basiere und erst dann ein individuelles Ausleben der Natur wieder möglich ist, also dass individuelle Freiheit bedingt durch das Einhalten grundsätzlicher Normen ist und dass auch nur auf diesem Weg Sicherheit gewährleistet werden kann. Parallelen findet man auch hier dabei, dass jeder eine unterschiedliche Vorstellung von Freiheit und Vollkommenheit hat und auch jeder diese unterschiedlich und insbesondere individuell auslebt. Bei „Genius“ ist das lyrische Ich abhängig von der Natur und nur begeistert, wenn die Natur da ist beziehungsweise das lyrische Ich sie zu spüren bekommt. Eine Sehnsucht wurde durch den Neologismus „Sonnendurst“ (V. 5) dargestellt, da Durst das Bedürfnis zu etwas Überlebenswichtigem aufzeigt, was in diesem Falle die Natur ist. Bei „Natur und Kunst“ hingegen wird eher die Vernunft und die Bedingtheit verschiedener Aspekte untereinander zur letztendlichen Vervollkommnung in Form von individueller Freiheit und Sicherheit gezeigt. Beide Gedichte zeigen ebenfalls persönliche, sowie subjektive Ansichten.
Beide lyrische Werke teilen verschiedene Ansichten und zeigen verschiedene Intuitionen. Was hauptsächlich an den verschiedenen Entstehungszeiten und den daraus resultierenden verschiedenen Epochen verursacht wurde. Das im Sturm und Drang verfasste Gedicht „Genius“ spiegelt deutliche epochenspezifische Merkmale, wie insbesondere den Geniegedanken, wider. Außerdem wird die Abhängigkeit und die Sucht nach etwas Besonderem thematisiert. Es wird ebenfalls auf den Verstand des Einzelnen eingegangen, was teilweise aber sehr schwer verständlich wird und erst beim mehrfachen lesen und intensivem Auseinandersetzen mit den Texten deutlich wird.